Saisonauftakt im Staatstheater: Spieltrieb und Mordlust
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Alles neu am Staatstheater: Das Schauspielhaus Nürnberg startet mit den Uraufführungen „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ und „74 Minuten“ in die Saison. Eine Punktlandung ist dabei.
Von Andreas Radlmaier
Erste Premierenwelle zum Saisonauftakt am Nürnberger Staatstheater: Im Opernhaus feierte „La Traviata“, die berühmteste Schwindsüchtige der Opernwelt, als Shitstorm-Opfer Wiederauferstehung in der Gegenwart. Nebenan wird noch mehr Neues gewagt. Schauspielchefin Lene Grösch, nun ganz offiziell im Amt für den nach Wien entwichenen Jan Philipp Gloger, überlässt die Regie zwei Gästen und erhebt mit zwei Uraufführungen den diversen Episoden-Mix zum Grundsatzprogramm ihres politisch aufgeladenen Gegenwartstheaters.
Womöglich schwingt im Titel der Produktion „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ – untertitelt mit „Eine politische Toystory“ – gleich die erhoffte innige Langzeitbeziehung zu Stadt und Publikum mit. Aber erst mit der zweiten Premiere – „74 Minuten“ der neuen Haus-Autorin Raphaela Bardutzky – wurde eine Enttäuschung vermieden. Na denn: Toy, toi, toi.
Eine schwarze Wolke senkt sich zum Finale der elastisch um Spieltrieb und Mordlust kreisenden Collage von „Die erste Liebe hält 5 Jahre“. Adeline Schebesch, auffälligste Erscheinung im ansonsten vielfach neu besetzten Ensemble, knurrt und wütet die Tirade des humorfreien Max Czollek bravourös gegen die allgemeine Zuversicht. „Kunst ist ein gefährliches Instrument“, heißt es da, ersonnen als Disziplinar- und Controlling-Maßnahme.
Zwischen Leidkultur und Leitkultur, Schiller und Ernst Bloch, Weimar Klassik und Buchenwald-Grauen, Placebo-Therapie und Ablasshandel, zwischen schlechter Politik und der Nürnberger Kongresshalle, diesem „Nazi-Disneyland“, treibt Czollek das grausame Spiel des Menschseins in die Dystopie.
„Hier kommt die Polizey“ ist diese Schlussszene überschrieben. Eine von sieben. Nürnbergs Bestsellerautor Ewald Arenz ist in „Luftgewehr“ mit seinem Bekenntnis zu kindlicher Knallerei dabei, seine Szene „Der Junge auf der Fensterbank“ bleibt eine Leerstelle im Ablauf. Thomas Nummer, der kürzlich verstorbene Schauspieler, sollte das spielen. Nun bleibt nur ein „in memoriam“.
Helwig Arenz, der Autoren-Bruder von Ewald, assoziiert Spiel mit Sex und tippt mit seinem Herrchen-Hündchen-Date „Ich bin dein“ unerfüllte Unterwerfungs-Sehnsüchte an. So reicht das Spektrum vom Paradies bis zur Hölle. Nürnberg als Welthauptstadt des Spiels war – aha! - Auslöser für dieses lose blinkende Kaleidoskop, bei dem Nachwuchs-Regisseurin Jessica Samantha Starr Weisskirchen das Alberne ebenso wenig scheut wie die kinderbunte Requisite (Bühne und Kostüme: Wanda Traub), um die Fliehkräfte der Vorlagen zusammenzuhalten. Das gelingt nicht.
Während man also noch rätselt, was der alte Lego-Werbespruch „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ mit dem Geschehen zu tun hat, dürfen wir eingangs die Nacherzählung der Schöpfungsgeschichte erleben („gen e sis“ nennt das Autorin Kiki Miru Miroslava Svolikova leicht gespreizt). Menschen in fleischfarbenen Ganzkörperkondomen erleben einen gelangweilten Gott aus schwierigen Verhältnissen, der auf der frisch geordneten und begrünten Erde (und sie ist doch eine Scheibe!) die Lust am Spielzeug aus Apfelmus, Knochen und Ton verliert.
Eine „völlige Fehlkonstruktion“ sei dieser Mensch, wird später jemand rufen. Davor werden in den Szenen Puppenköpfe zertreten, Kreuze zu mörderischen Steckenpferden und Rollenbilder zu Fratzen. Eine Mikrowelle fährt wahlweise eine Krone (Machtkampf!) und einen Bierkrug (Kleist!) herein, zu Barbaren gesellen sich Barbies in Pink mit Echtheitsanspruch.
Rosa Schnee rieselt herab auf die Phantasie, wenn von glänzenden Schuhen und dazugehörigen Kartons als Puppenhaus erzählt wird („Das Puppenhaus“ von Natascha Kelly), wenn doppelköpfige Saurier bestiegen werden, und Nussknacker-Tänzer mit blauem Tutu die Humorgrenzen im Mikro-Kosmos testen. Auch Neues wirkt manchmal alt.
Punktlandung in den Kammerspielen
Drunten in den Kammerspielen steuert der Abend in eine Punktlandung. Da kann sich Regisseurin Hannah Frauenrath auf die zeitgeistreiche Vorlage der Münchner Jungdramatikerin Raphaela Bardutzky verlassen. „74 Minuten“ ist ein Gedankenspiel gegen das Rasen der Zeit. Die digitale Uhr im Bühnenhintergrund zählt für alle sichtbar mit. Im Traum, wo Sehnsüchte und Seifenblasen aufsteigen, zählt auch die Uhr – so viel Metapher muss sein – nicht mehr runter. Und weil es um Stillstand und Stress, Timing und Termine geht, geht der Abend nach den titelgebenden 74 Minuten in die Verlängerung. 18:35 Minuten gibt’s nach der Ziellinie obendrauf.
Der Zeitplan war eh nicht zu schaffen. Und auf die Missstände im Lande und bei den Rettungsdiensten, auf die „gewaltige Kraftanstrengung“ der Merz-Prophezeiung muss auch noch hingewiesen werden. Wir leben ja schließlich im Verkehrsnetz der Deutschen Bahn, wo Personalwechsel und Güterzüge ganze Lebensplanungen und Karrieren schreddern. Was also tun, wenn der Mann, Sänger von Beruf, zur Probe muss, die Frau, einer Karriere bei einem kriminellen Steuern-Optimierer, im Zug festsitzt und damit die Kind-Versorgung wegbricht?
Das höhnende „Sänk ju for träwelling wiss Deutsche Bahn“ taucht denn auch im Strudel der kunstvoll verknoteten Erzählstränge auf. Es geht um die Frage, wie viele Meter Bodenfliesen die Raumpflegerin in 74 Minuten schafft, ob es die Ski-Langlauf-Meisterschaften nach 74 Minuten ins aufgeregt bequasselte Finish schaffen und warum Wilhelm Furtwängler ganze 74 Minuten brauchte, um Beethovens Neunte auf die Compact Disc zu pressen. Ganz unabhängig davon, wie erpressbar die Kunst ist, wenn Nazis und „Mäzene“ das Kommando haben. Solidarität beginnt bei den anderen. Von wegen: Alle Menschen werden Brüder. Beethoven wusste eine Ode davon zu schreiben.
Hannah Frauenrath choreographiert den rasenden Redefluss höchst vergnüglich und genau. Da werden sogar das billigblaue Bühnenbild und die Gymnastik-Anzüge des fünfköpfigen Ensembles zur stimmigen Konzeptions-Komponente. Doris Dubiel, David Felipe Gaviria Malagón, Stephan Schäfer und besonders Sasha Weis lassen sich effektvoll auf das klug gebaute Gedankenflippern mit den ständig kippenden Themen ein. Spontanjubel bei der Premiere. Ein intelligenter Spaß..
Weitere Infos:
www.staatstheater-nuernberg.de
Weitere Termine: „Die erste Liebe hält 5 Jahre“:
Sa, 11.10.2025
Sa, 18.10.2025
So, 26.10.2025
Mi, 29.10.2025
So, 02.11.2025
Di, 25.11.2025
Do, 25.12.2025
Sa, 24.01.2026
Sa, 14.02.2026
So, 01.03.2026
Fr, 20.03.2026
Do, 23.04.2026
Sa, 25.04.2026
Sa, 02.05.2026
So, 10.05.2026
Mi, 17.06.2026
Di, 23.06.2026
So, 19.07.2026
„74 Minuten“:
Mi, 15.10.2025
Do, 16.10.2025
So, 19.10.2025
So, 26.10.2025
Mi, 29.10.2025
Fr, 05.12.2025
Mi, 17.12.2025
So, 11.01.2026
Sa, 24.01.2026
Fr, 13.02.2026
Sa, 14.03.2026
Do, 21.05.2026
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