ZUKUNFTSMUSEUM. »Am liebsten würde ich dich auf den Mond schießen«, sagte meine Mutter oft zu mir. Ich weiß nicht wie oft, denn sie sagte es bereits, als ich noch nicht zählen konnte. Wahrscheinlich schon während ich im Kinderwagen strampelte und sie im Fernsehen die Mondlandung der Amerikaner verfolgte, auf grieseligen Schwarzweißbildern, die mit etlichen Sekunden Zeitverzögerung die Antenne unseres Hauses in einem kleinen Dorf in den fränkischen Outbacks erreichten. Insgesamt zwölf amerikanische weiße Männer hopsten zwischen Juli 1969 und Dezember 1972 seltsam unbeholfen auf der grauen, staubigen Mondoberfläche herum, die meisten von ihnen hochdekorierte Kampfjetpiloten. Ob schon ihre Mütter sie dorthin schießen wollten, wo sie nun waren, ist unwahrscheinlich. Die Technik dürfte zur Zeit ihrer Geburt bei weitem nicht reif genug gewesen sein. Damals schickte man Kinder noch dorthin, wo der Pfeffer wächst. Und ob sie die gesamte Menschheit repräsentierten, könnte man wohl aus heutiger Sicht anzweifeln – damals erschienen Dinge völlig logisch, wo man sich heute an die Stirn fassen würde. >>
Text vom Egersdörfer & Zeichnungen vom Herrn Jordan
Herrenausstatter. Das Wort ist mir schon eine Freude. Und es gab eine Zeit, da besuchte ich regelmäßig einen in seinem Laden. Über dem hat der Mann gewohnt. Er hat einen sehr guten Cappuccino zubereitet in dem schönen Geschäft. Anders kann man es nicht sagen. In der Straße, in der der Herrenausstatter sein Gewerbe betrieb, gab es viele Wirtshäuser, Cafés und Kneipen. Und einmal ist dorthin aus einer anderen Stadt ein anderer Mann hingezogen, der plötzlich angefangen hat, mit Anwalt und vor Gericht dafür zu sorgen, dass die Menschen im Sommer nicht mehr vor den Kneipen sitzen dürfen. Da hat es viel Groll gegeben bei den Wirtsleuten und den Menschen, die gern zu den Wirtsleuten gehen, um unter anderem in lauen Sommernächten vor deren Wirtshäusern zu sitzen. Und mein Herrenausstatter hat zunächst zu dem fremden Herrn gehalten, weil er am Abend im Sommer auch gerne einmal seine Ruhe gehabt hätte in seiner Wohnung über seinem Laden und die Fenster gern geöffnet hätte, ohne hören zu müssen, wie sich die Menschen in der Straße vor den Wirtshäusern unterhalten unter Mond und Sternen. >>
NüRNBERG. Man kann sich nirgendwohin bewegen, muss zu Hause sitzen, sich langweilen. Was bleibt einem anderes übrig, als ordentlich aufzukochen. Man hat rechtzeitig eingekauft, man ist ja nicht blöd. Endlich Zeit, um mit aller Sorgfalt und Ruhe wunderbare Köstlichkeiten zusammenzublubbern. Zum Beispiel einen Teller Stadtwurst mit Musik, schön mit weißem Balsamico, ganzen Zwiebelringen, etwas Pfeffer, ordentlich Britschel und Petersilie – so wie ich es aus dem Elternhause kenne und eben mag. Einen Tag lang durchziehen lassen, kein Minusstückchen Wurst anrühren, den Duft den Raum erfüllen lassen, das ist schon dreiviertel des Vergnügens. Oder noch mehr. >>
AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer
Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen. >>
STAATSTHEATER. Premiere der Gesellschaftssatire „Jeeps“ in den Nürnberger Kammerspielen. Willkommen in der „Eierstock-Lotterie“! Dort, am Richard-Wagner-Platz, im (fiktiven) Arbeitsamt, werden die ewigen Geburtsregeln – wer bleibt arm, wer ist reich? – gerade neu aufgestellt. Die Münchner Dramatikerin und Schauspielerin Nora Abdel-Maksoud nahm mit ihrer sarkastischen Turbokomödie „Jeeps“ der schicksalhaft-kreiselnden Schatten-Diskussion über Reichensteuer und Bürgergeld, über Bürokratenhölle und bedingungsloses Grundeinkommen nämlich gleich eine ganze Grundsatzreform vorweg und puhlt damit hochaktuell in den Stimmungswunden eines schlecht gelaunten Landes.
Hier werden die Karten im Klassenkampf neu gemischt. Denn das Erbe, so die furchteinflößende Ausgangsidee der Autorin, wird staatlich konfisziert und landet in der Lostrommel des Jobcenters. Demütigung für alle ist garantiert. Boshafte Pointen und Pirouetten fürs Publikum auch in dieser Attacke, die eine wahre Schlaglichterkette über Sozialabgründe spannt. Zwei Jahre nach der Uraufführung führt die Erfolgsspur des Stücks über München, Hamburg und Berlin auch nach Nürnberg. Langanhaltender Premierenbeifall nach schlanken 90 Minuten in den Kammerspielen des Staatstheaters für das weibliche Regie-Team unter Martina Gredler.
Die Regisseurin hat sich von Bühnenbildnerin Sophie Lux für ein souveränes Darsteller-Quartett eine behäbig drehende Menschen-Mühle bauen lassen, die den Kreisverkehr als dunkel getäfelte Gedankenrichtung vorgibt. Nach vorne bewegt sich hier nix. Die „frisch prekarisierte“ und panisch gestimmte Start-up-Unternehmerin Silke aus der Sorglos-Generation (Pola Jane O’Mara mit klaren Anflügen einer Wohlstandskarikatur) trifft auf Maude, eine Langzeitarbeitslose mit früherer Literaturkarriere und profundem Warteschlangenwissen (Adeline Schebesch als vorlaute „Gräfin Schizo“ mit Unterschichtentarnung).
Die Amtsträger Armin (Thomas Nunner als abwehrerprobter Zauselzyniker) und Gabor (Aydın Aydın als Lotterieverwalter mit Aufsteigerehrgeiz samt Geländewagenverehrung) schauen professionell leidenschaftslos auf die anbrandenden Lebens- und Nervenkrisen zwischen Losglück-Sehnsucht und gentrifizierter Wartehalle.
Diese Veränderung zwickt im Alltag und ist der neuen Kundschaft geschuldet: Die neuen Mittellosen importieren nicht nur Geländewägen vors Haus, sondern auch Foodtruck und Boulderwand als Abwechslung ins Amt. Die Armutskinder sollen es auch mal schöner haben im Jobcenter, wo sie – weil platzsparender – ihre Eltern vertreten. Dass es am Ende zu tödlichen Abstürzen an der Kletterwand kommt, weil die Bürgergeldkinder, denen der gerechte Gabor die beste Lose, sprich: größten Vermögen, an den Pullover geheftet hat und damit die Jagdinstinkte der Mittelschichtler weckt, fiel der Öffentlichkeit nicht auf. War eben Champions-League-Finale.
Es geht um „Opferwürste“ und „Yuppielarven“ in dieser galligen Satire, um Enterbte und Entrechtete, um Wortfindungsstörungen und Wertfindungsstörungen, um eine „Neiddebatte“ und Existenzangst, um hohldrehende Bürokratie und Hybris, um Flaschensammeln, das als selbstständige Tätigkeit gesehen werden muss und deshalb zu Abzügen im täglichen Bürgergeld von 4,86 Euro führt. Um Statussymbole auch. Die titelgebenden „Jeeps“ tauchen, erfährt man, als verblassender Wohlstandsprotz neuerdings auch auf dem Parkplatz vor dem Jobcenter auf. Notgedrungen landen die frisch Enterbten aus der Vermögensklasse im Jobcenter und treffen dort auf die Armen mit dem Hartz-Stigma. Beide auf der Jagd nach Wartenummer und dem Glückslos, das ihnen (wieder) Finanzsicherheit gibt. Zum Gelde drängt alles. Zur Not auch mit Gewalt. Mit Pistole und Fernzünder erpresst man den Los-Verwalter und seine Potenzprothese, den Geländewagen.
Die Vorlage – und das ist vielleicht die theatralische Schwäche - irrlichtert mit Energie und Lust durch ganze Themenwälder. Nicht den Überblick im Drama zu verlieren, ist da die Herausforderung. Die Zeiger der Amtsflur-Uhr auf der Bühne drehen rasend schnell rückwärts, während die Schuldzuweisungen und Spöttereien in Rückblenden, Zeitlupe und Erzählungen voller Tempo und Anspielungen vorwärtshetzen. „Die Verteilungsdebatte legt sich wie Mehltau auf unsere Freundschaft“, sagt jemand mitten in dem Wahnsinn gegenseitiger Vorwürfe und Besserwisserei.
Zurück in der Realität. Gerade hat der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger wieder öffentlich und ungestraft Bürgergeldempfänger als „Taugenichtse“ gegeißelt. Vielleicht hilft in diesem Sozialklima nicht mal Humor als Überlebensmittel gegen das Unlustige: Die aktuelle Schauspiel-Programmatik mit dem Hang zu Heiterkeit und Komödie verfing bei der Premiere von „Jeeps“ jedenfalls seltsamerweise als Anreiz nicht. Es blieben Lücken im Parkett.
Premierenkritik von Andreas Radlmaier
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Die Gesellschaftssatire „Jeeps“
in den Nürnberger Kammerspielen.
Weitere Aufführungen von JEEPS:
Fr, 01.12.2023, 19.30 Uhr
So, 10.12.2023, 19.00 Uhr
Sa, 30.12.2023, 19.30 Uhr
Sa, 20.01.2024, 19.30 Uhr
Mi, 24.01.2024, 19.30 Uhr
Sa, 27.01.2024, 19.30 Uhr
Di, 30.01.2024, 19.30 Uhr
Mi, 07.02.2024, 19.30 Uhr
Do, 08.02.2024, 19.30 Uhr
So, 11.02.2024, 19.00 Uhr
Mi, 14.02.2024, 19.30 Uhr
Do, 29.02.2024, 19.30 Uhr
Do, 28.03.2024, 19.30 Uhr
Do, 04.04.2024, 19.30 Uhr
Sa, 20.04.2024, 19.30 Uhr
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