Theobald O.J. Fuchs: Subkultur-Zoo

MITTWOCH, 8. MAI 2019

#Autor, #Gostenhof, #Kolumne, #Kulturhauptstadt, #Theobald O.J. Fuchs

»Hallo, ich bin die Uschi«. Mit dieser Vorstellung begrüßt die Stadtbilderklärerin das halbe Dutzend Touristen, die es sich an diesem sonnigen Vormittag im Mai des Jahres 2026 im Stadtsafari-Jeep gemütlich gemacht haben. Ein Vormittag wie jeder andere, insofern die Sonne seit exakt dreikommasieben Jahren ununterbrochen scheint und Grundwasser in Franken wertvoller als Gold ist.

Ohne die Tankflugzeuge von Nestlé, die jeden Tag Millionen Plastikflaschen aus Frankreich einfliegen – vom Volksmund liebevoll »fliegende Aquädukte« genannt –, würde schon längst niemand mehr auf den staubigen Sandflächen zwischen den ausgetrockneten Flussbetten von Rednitz und Pegnitz siedeln. 

Das Ding mit der Kulturhauptstadt war ja im Vorjahr kläglich gefloppt. Die Anzahl Besucher, die einen 1-Cent-Flug nach Nürnberg genommen und in einem der siebenundneunzig neuen Hotels am Altstadtring abgestiegen waren, hatte man an dem kleinen Finger der linken Hand abzählen können. Irgendwie muss das Programm dann doch zu divergent gewesen sein: »Rot-Weiß-Gesichterschminken, um fränkische Befindlichkeit hautnah zu erfahren«, »Wanderung mit der Nachtwächterin durch die Reihenhaussiedlungen von Zerzabelshof (mit Altpapiertonneninspektion bei Mondlicht)« oder die »Die fünfzehn schönsten Perlen der Gründerzeitarchitektur, die nicht mehr stehen, weil ein Discounter seinen Autoparkplatz darauf gebaut hat«. 

Ein Projekt war dem Kulturreferat besonders wichtig: die Konservierung und sozusagen Renaturierung des alternativen Viertels Gostenhof. Auf gut Deutsch: Die Einhegung der nicht staatlich kontrollierten, gerne auch Subkultur geschimpften unabhängigen kreativen Äußerungen innerhalb eines Reservats. Für das der Freistaat Bayern inzwischen die Finanzierung bis zum Ende des Jahrtausends zugesagt hat. »Das ist uns jeden Pfennig wert«, wird der bayrische Innenminister zitiert, »dass dieses links-bekiffte Gschwerdel mit seinen unanständigen Frisuren nicht mehr die saubere Altstadt verschandelt. Das Sicherheitsgefühl der SUV-Fahrer auf dem Großparkplatz vor der Lorenzkirche hat sich dadurch bereits um 1,7% verbessert.« 

Der Jeep rollt gemächlich auf drei Meter messenden Rädern durch das mit einem sechs Meter hohen Stahlzaun hermetisch abgeriegelte Gebiet, so dass die Abenteurergesellschaft in sicherer Höhe zwischen den teils gefährlichen und aggressiven Einwohnern hindurch kurven kann. Es ist erst 13 Uhr am Morgen, noch tut sich nicht viel, die Chinesen gähnen um die Wette. Da! Aus einer zugemüllten Seitengasse dringen klappernde Geräusche. Hinter einem Stapel kaputter Stühle springt ein freilaufender Künstler hervor, er reckt die Nase in den Wind, wittert schnell den Touristen-Jeep und hetzt um die nächste Ecke. Dort verschwindet er in einem Nebeneingang ... ein Atelier? Oder eine illegale Wohnung? Unauffällig setzt Uschi eine kurze Meldung an die Mietpreiskontrollbehörde ab. Auch wenn dies hier ein Reservat ist – günstig zu wohnen ist wirtschaftsfeindlich, das geht nun mal leider gar nicht. 

Die Chinesen sind jetzt hellwach. Zwei mächtige Teleobjektive gehen in Stellung. 

»Listen!« ruft Uschi. »Hierst ju ße Lärm, from aut dem Keller da?« 

Tatsächlich, alle hören es – irgendwo probt eine Band, in einem schimmligen Keller, den sie sich mit psychedelischen Postern, auf der Straße eingesammelt, gemütlich gemacht haben. Wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, ob es draußen Tag oder Nacht ist. 

Uschi zögert kurz, dann entscheidet sie sich doch dafür, die Punker mit einem Trick ans Licht zu locken – auch wenn das dem Schutzgesetz für alternative Lebensformen (SchuGefaL) gemäß eigentlich illegal ist. Sie drückt auf einen Knopf, der seitlich aus ihrem Megafon ragt. Sofort erklingt ein Martinshorn, so täuschend echt, als käme gleich ein schwarzes Einsatzfahrzeug der bayrischen Bereitschafts-Ranger um die Ecke. 

Gespannt krümmen sich dreieinhalb chinesische Städtereisenden-Zeigefinger auf dem Auslöser einer Kamera. Keine dreißig Sekunden später taucht der erste Punker in einem Hauseingang auf. Ein Männchen, mit aufgestelltem rotem Kamm, schwarzer Lederjacke und glänzenden Lederstiefeln – ein Prachtexemplar wie aus dem Lehrbuch für Alternativkultur: zirka 28 Jahre alt, vermutlich ein Beta-Tier, dessen Aufgabe im Rudel ist, bei Gefahr als erstes die Lage zu prüfen. 

Uschi erläutert mit gedämpfter Stimme, während die Spiegelreflexe klicken. »Das sind endemische nordeuropäische Punker, die in einer ihrer Bruthöhlen musizieren. Die dissonanten Gesänge dienen der Balz. Manchmal beginnen sie jedoch auch einfach so zu lärmen, vor allem, wenn gedankenlose Besucher volle Bierflaschen über den Zaun geworfen haben.« 

Die Chinesen beginnen untereinander zu schnattern. Der illegale Proberaum ist ihnen ein Rätsel. Laut dem Lonely Planet-Reiseführer, in dem einer von ihnen hektisch zu blättern beginnt, darf Musik, die nicht für die Blaue Nacht oder das Bardentreffen geeignet ist, im gesamten Stadtgebiet bei schwerer Strafe nicht gespielt werden. Alles, was sie sich erhofft hatten, waren ein paar gute Schnappschüsse von einem zerfledderten Baum mit buntem Häkelstrumpf oder von ein paar betrunkenen Breakdancern bei der Futtersuche. 

Doch heute ist ein echter Glückstag für die Reisegruppe. Denn schon wieder reißt Uschi die Hand in die Höhe, die künstliche Intelligenz am Steuer tritt hart in die Eisen, abrupt bleibt der Touristenbus stehen. 

»Da! Diese Art galt lange Zeit schon für ausgestorben …«, haucht Uschi ins Mikrofon. Obwohl sie im Alternativkulturpark schon alles gesehen hat, besitzt eine solche Begegnung auch für sie Seltenheitswert: Keine zwanzig Meter entfernt, völlig in seine wippende Tätigkeit versunken, hockt ein wilder Ghetto-Gangster-Sprayer. Angelockt von einer weißen Sperrholzwand auf Rädern, die vor Sonnenaufgang von den Gostenhof-Rangern unbemerkt in die Adam-Klein-Straße geschoben wurde. Da sitzt er nun, im klaren Licht des ewigen Mittags und malt einen farbenfrohen Schriftzug auf die gleißend weiße Fläche. Uschi zieht ihre eigene Kamera aus dem Seitenfach ihres Trinkwasserrucksacks – eine Gelegenheit wie diese kann sie sich unmöglich entgehen lassen. 

»Diese Begegnung«, denkt sie stolz, »ist jeden Euro Eintrittsgeld wert. Ich liebe meinen Arbeitgeber, das Stadtmarketing!« Und während ihr langsam eine Träne der Rührung über die Wange kullert, reiht sich ein verschnörkelter Buchstabe hinter den anderen: 
»#G o s t e n h o f   I s t   K e i n e   M a r … « 

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UND WAS MACHT THEO WIRKLICH UND SONST SO? 
Naja, immer nicht so viel. Ein bisschen Forschung und so, hier und da mal irgendwas lehren. Wissen wir nicht so genau, ist auch egal. Ansonsten wälzt er sich im Ruhm und lässt sich bewundern, denn seine Sucht ist die nach Aufmerksamkeit. 

THEOS TERMINE IM MAI
Am 8. Mai, Viertel vor 12, referiert Theo über „Die Zukunft der Vergangenheit“ auf der re:publica in Berlin / Stage 5.
Heimischer wird es wiederum am 9. Mai beim „Gipfeltreffen der Krimipreisträger“ im Kulturladen Nord, in der Wurzelbauerstraße 29 in Nürnberg. Den Thrill teilt er sich dort mit den Autorenkollegen Johanna Wohlgemuth, Roland Spranger und Killen McNeill. 
Am 18. Mai um 19 Uhr gibt es eine Theo-Lesung im Modul 26, im Rahmen der Ausstellung von Frank Drechsler und Annick Luther für tatort atelier:19.
Kryptisch wird es offensichtlich am 27. Juni. Titel: „Der General und das Bärtierchen: Die Dunkle Seite der Mondlandungen“, zusammen mit Keno Halilovic im Salon der unerfüllten Wünsche (Ort N.N.). 
 




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BERLIN. #3 Fortsetzung der Kolumne aus Ausgabe August/September. Teil zwei HIER

Es kann sein, dass sich in meiner Erinnerung diverse Aufenthalte in dieser Stadt vermischen, aber ich bin mir sicher, dass es immer Berlin war. In den 1980er Jahren hatten uns die The-Who-Filme »Tommy« und »Quadrophenia« ganz krass mit der Rockmusik der späten 1960er infiziert. Als 1979 Pink Floyd »The Wall« herausbrachten, mussten wir nicht lange überlegen, ob uns das gefiel. Obwohl wir uns für Dorfpunks hielten, ließ sich die Pink-Floyd-Mucke hervorragend zum Rauch aus gewissen Spaßzigaretten in die Gehörgänge dübeln. Aus heutiger Sicht natürlich kompletter Mainstream und Totalkommerz, aber tscha! War geil.  >>
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