Theobald O.J. Fuchs: Zu Besuch bei der alten Dame

MITTWOCH, 1. NOVEMBER 2023, BERLIN

#Berlin, #Hinten raus, #Kolumne, #Pink Floyd, #Story, #Theobald O.J. Fuchs

#3 Fortsetzung der Kolumne aus Ausgabe August/September. Teil zwei HIER

Es kann sein, dass sich in meiner Erinnerung diverse Aufenthalte in dieser Stadt vermischen, aber ich bin mir sicher, dass es immer Berlin war. In den 1980er Jahren hatten uns die The-Who-Filme »Tommy« und »Quadrophenia« ganz krass mit der Rockmusik der späten 1960er infiziert. Als 1979 Pink Floyd »The Wall« herausbrachten, mussten wir nicht lange überlegen, ob uns das gefiel. Obwohl wir uns für Dorfpunks hielten, ließ sich die Pink-Floyd-Mucke hervorragend zum Rauch aus gewissen Spaßzigaretten in die Gehörgänge dübeln. Aus heutiger Sicht natürlich kompletter Mainstream und Totalkommerz, aber tscha! War geil.

Dass »The Wall« im Juli 1990 in Berlin, auf dem Potsdamer Platz, der damals noch eine staubige Trümmerwüste war, auf einer megalomanischen Bühne aufgeführt werden würde, war nichts anderes als logisch. Ebenso, dass wir wieder einmal zu fünft in einen Kleinwagen stiegen und Richtung zukünftiger neuer alter Hauptstadt aufbrachen. Diesmal war alles anders. Keine Grenzkontrolle, kein Tempolimit, kein Interzone-Kaffee. Berlin war total überfüllt, überhitzt, übertanzt, überdrogt. Es herrschten im Vergleich zu heute chaotische Zustände, quasi 24/7-Party in jeder Hundehütte.

Anlässlich dieser Expedition waren wir auch wieder auf der Suche nach einer möglichst billigen Übernachtungsmöglichkeit. Die Verzweiflung am Wählscheibentelefon wuchs mit jeder Absage, bis schließlich einer der Mitfahrer über drei Ecken die Adresse einer alten Dame in Grunewald aufstöberte. Es hieß, die Dame habe früher ganz oft in Franken geurlaubt, sie sei gastfreundlich, jungen Menschen wohlgesonnen und habe zwei Gästezimmer, die man kostenfrei nutzen könne. Dank eines druckfrischen FALK-Stadtplans, dessen Faltungsmethode sogar mittels Patent vor Nachahmung geschützt war, verfuhren wir uns nicht öfter als drei Mal, ehe wir in einem sehr luxuriös wirkenden Mehrfamilienhaus aus der Gründerzeit im ersten Stock an der mit reichen Schnitzereien und schmiedeeisernen Girlanden verzierten Wohnungstür klingelten. Uns wurde geöffnet und wir traten ein. Eine wirklich sehr alte und winzige, verknitterte und vollständig grau-weiße Gestalt begrüßte uns herzlich. Dass wir drei junge Männer in schwarzen Lederjacken mit irgendwie Punk-mäßig hingeschluderten Frisuren waren und noch die Bierdosen in Händen hielten, schien völlig unbedeutend zu sein.

Im Wohnzimmer lief ein Fernseher vor sich hin, auf Zimmerlautstärke, Erich Honecker sprach vom „Sieg des Sozialismus“, dann wurden Bilder von marschierenden Kolonnen auf der Karl-Marx-Allee gezeigt. Irgendetwas stimmte nicht in dieser Wohnung, das merkten wir sofort, aber wir kamen nicht gleich darauf, was konkret es war. Nur ein Gefühl hatten wir, dass etwas seltsames vorging.
Die Bilder waren schwarzweiß, entweder, weil das Gerät zu alt für Farbe war, oder weil das DDR-Fernsehen genauso farblos war wie die ... Moment! Jetzt, wo ich das hinschreibe, fällt mir auf, dass dieses Erlebnis unmöglich nach der Wende stattgefunden haben kann. Ich muss hier offensichtlich zwei oder vielleicht sogar drei Aufenthalte im Gedächtnis durcheinander geworfen haben. Was ja vorkommen kann, wenn man immer wieder in dieselbe Riesenstadt fährt mit immer denselben Schwierigkeiten bei Unterkunft und Bierversorgung.

Jedenfalls fand 1990 das Pink-Floyd-Konzert auf dem Potsdamer Platz statt, der damals eine staubige Trümmerwüste war. Hier hatte bis vor kurzem die Mauer gestanden, im Osten von einer hunderte Meter tiefen Todeszone gesäumt, die bis nach Mitte und Prenzlauer Berg hineinreichte. Jetzt standen da eine Handvoll Schilder herum, die davon abrieten, durch ungesicherte Löcher in einen Nazi-Bunker zu fallen. Schließlich musste irgendwo hier der berühmte Führerbunker verortet gewesen sein, was niemanden wunderte. Im Gegenteil: Irgendwie war jedem klar, dass man im Prinzip auf Hitlers morschen Knochen tanzte, obwohl »Der Untergang« erst 2004 gedreht wurde.

Nun, auch jetzt muss ich wieder einschränken: nicht alle tanzten. Einmal war »The Wall« eh nicht übermäßig bekannt für seine Tanzbarkeit. Außer vielleicht für ein paar Weirdos und Die-Hard-Roger-Waters-Jünger in der ersten Reihe, die bei “We don‘t need no education” (aus heutiger Sicht eine wirklich total idiotische Botschaft, und ich frage mich manchmal, ob Roger Waters vielleicht damals schon total bescheuert war, nur waren wir zu jung und zu unschuldig, um das zu bemerken? Egal) abgingen wie die zwei MiG-Düsenjäger, die eine Horde Freaks in den Ostteil der Stadt gekarrt und in Kunstwerke gegen Militarismus verwandelt hatte. Zum anderen war der Sound grottig. Trotz bis dahin ungekanntem Aufwand für Bühne, Technik, Licht und so weiter erwies sich der Potsdamer Platz als resistent gegen geilen Klang. Die Viertelmillion Menschen, die zum Teil sogar auf die spärlich verteilten Laternenpfähle geklettert waren (und dann nicht mehr herunter kamen), stand im Wesentlichen vier Stunden im Staub herum und beschäftigte sich mit andere-Leute-anrempeln und unerträglichen-Durst-haben. Eine echt extrem hohe Dichte an Superstars enterte die weit entfernte Bühne, die vor der Silhouette der heruntergekommenen Mietskasernen nur schwer zu erkennen war. Darunter die damals angesagtesten Acts des internationalen Pops: Bryan Adams, Cyndi Lauper, Thomas Dolby. Dazu als Beitrag der deutschen Musikindustrie die Scorpions und Ute Lemper. Die letztere fand ich am besten, was aber vermutlich an ihrem Aussehen lag (so weit nach vorne schaffte ich es immerhin!), denn musikalisch war das Konzert vom ersten Ton an gescheitert.

Am Tag nach dem Konzert – vielleicht auch am Tag nach irgendeinem Konzert, so genau kann ich die Dinge nicht mehr auseinander halten, denn die Abläufe, Stimmungen, Kneipentouren und Saufgelage ähnelten sich längst – am frühen Abend jedenfalls saßen wir im Oderkahn in der Kastanienallee (Prenzlauer Berg), wo Ossis – Stasi und nicht-Stasi einträchtig vereint – FDJ-Lieder sangen, unter großem Gelächter homophobe Sprüche rissen und sich generell hemmungslos einer noch ganz frischen DDR-Nostalgie hingaben.

Diese Stadt würde sich durch die Wiedervereinigung verändern, ganz gewaltig verändern. Daran bestand bereits zu diesem Zeitpunkt kein Zweifel, aber wir waren die letzten drei vier Jahre regelmäßig hier gewesen, hatten uns umgesehen, hatten begonnen uns zurecht zu finden, hatten diese ganz spezielle Atmosphäre zu fühlen begonnen, die es nur im alten West-Berlin gab: diese unglaubliche Freiheit, die es bedeutete, wie auf einer Insel in einem Meer aus kommunistischen Systemfeinden – sowie ostdeutschen und russischen Truppen – eingekesselt zu sein. Dieses Gefühl der lustvollen Angst wandelte sich zu einem Eindruck von realer Bedrohung: plötzlich war die Stadt doppelt so groß, hatte über Nacht ihre zweite Hälfte zurückgewonnen, die zwar nicht mehr feindselig wirkte, wie damals, als man noch durch tausend Kontrollen und an tausend Bewaffneten vorbei musste, um nur von der Gedächtniskirche zum Alexanderplatz zu spazieren. Die aber unheimlich war, voller böser Überraschungen und im Kern von Zerfall und Auflösung angesteckt.

Und wie war das mit dem DDR-Programm im Fernsehen? Das muss dann wohl einige Jahre früher gewesen sein. Die alte Dame bestand damals darauf, mit uns ins Gasthaus um die Ecke zu gehen und uns zum Essen einzuladen. Roulade vom Pferd, Schnitzel mit Pommes, Königsberger Klopse gab‘s dort. Wir saßen zu viert um den Tisch und studierten die fotokopierte Speisekarte. Und erst in diesem Moment, bemerkten wir, dass die alte Dame blind war, denn obwohl sie den Zettel verkehrt herum hielt, zählte sie auf, was es gab. Der Kellner spielte das Spiel mit, wer weiß, seit wie vielen Jahre schon. Wir haben uns dann selbstverständlich nicht das Geringste anmerken lassen und später noch zusammen eine Flasche Wein vor dem Fernseher geleert. Da lief inzwischen eine realsozialistische Unterhaltungsshow, wie bestellt mit Nina Hagen und ihrem »Farbfilm«-Hit, den wir alle mitsingen konnten.

Theobald O. J. Fuchs

 




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