Zukunftsmusik aus der Vergangenheit: Kraftwerk in Nürnberg
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Die Band Kraftwerk spielte nach 44 Jahren wieder in Nürnberg – „Multimedia“ als Electro-Kunst-Destillat
Von Andreas Radlmaier
Es muss am Beginn der närrischen Jahreszeit gelegen haben, dass in der seit Monaten ausverkauften Meistersingerhalle an diesem Abend etwas ziemlich Verblüffendes passierte: Die Stühle im Parkett fehlten. Dass ich das noch erleben durfte!
62 Jahre nach Eröffnung dieses Konzerthauses gab es also beim ausverkauften Auftritt der Düsseldorfer Kultgruppe Kraftwerk eine Premiere für Nürnberg. Was bislang höchstens beim CSU-Ball üblich oder erlaubt war: Das Publikum stand. Und das ausgerechnet bei einem Zweistunden-Konzert, das eher formvollendetes Kunst-Weihespiel denn hemmungsloses Techno-Tanzfest war. Es ist ein Ausflug ins Weltall, mit Satelliten, Drohnen, Robotern und Ufos, die wahlweise vor der Nürnberg-Kulisse dahinschweben oder vor der Meistersingerhalle landen. Die Aliens sind unter uns.
„Es wird immer weitergehen. Musik als Träger von Ideen“ flammt als wohlbekannte Prophezeiung am Ende der Show auf der monumentalen LED-Wand auf. Die vier Laboranten in ihren Leuchtanzügen verlassen zu diesem Zeitpunkt einzeln ihre grauen Instrumenten-Pulte, die wie Leihgaben aus einer Quiz-Show aussehen, verbeugen sich artig vor den von weitem angereisten Pilgern und stehen für einen Moment im Scheinwerferlicht. Der finale Spot ist der einzige Augenblick, an dem die Vier von Kraftwerk aus der Rolle als statischer Operator treten. Lightshow fürs Künstler-Ego? Fehlanzeige. Gefragt, was Kraftwerk auch nach 57 Jahren Bandexistenz macht, könnte die Antwort lauten: Irgendwas ohne Kommunikation.
Nüchterne Audimax-Atmosphäre also, Tech-Fak-Feeling in der Meistersingerhalle. „Multimedia“ ist die aktuelle Tour überschrieben, die nach vielen Jahren der Deutschland-Abstinenz in Nürnberg startet. Ein etwas angejahrter Begriff, den die wegweisenden Elektro-Pioniere da sicherlich bewusst gewählt haben. Die Sounderfinder um Ralf Hütter haben im internationalen Ansehen definitiv die Strahlkraft von Rammstein, sind Besitzer eines Grammys fürs Lebenswerk und waren weltweit maßgeblicher Impulsgeber für Techno, Electro und HipHop, unterwegs in den großen Museen der Welt (von MoMa New York bis Tate Modern London) ebenso wie exquisiten Orten von der Sydney Opera bis Schloss Schönbrunn in Wien. Dass man auch mit Kunst-Attitüde populärer Hit-Lieferant sein kann, hat man oft bewiesen. Und so taucht auch das berühmte „Model“ als bewunderte Stil-Ikone in historischen Filmaufnahmen auf.
So hört man an diesem Abend Zukunftsmusik aus der Vergangenheit. Aufbereitet fürs visuelle Zeitalter mit knalligen Piktogrammen, Parolen und Codes für eine globalisierte Fan-Gemeinde. Das Repetitive der Minimal-Texte, die im Sprechgesang verfremdet eingesprochen werden, dürfen als Leuchtwandanschlag regelrecht eingebrannt werden. „Wir sind auch alle programmiert. Und was du willst, wird ausgeführt“ heißt es in der ersten und einzigen Zugabe „Roboter“. Ein Stück, das – entstanden 1978 - die Hellsichtigkeit von Kraftwerk markiert.
Dennoch: Zur omnipräsenten KI-Vision kommt von den Musikern, die „Synthetik“ auf „Ästhetik“ reimen, kein Wort. Es geht um „Elektroklänge überall“, „Taschenrechner“ und „Computer Liebe“. Revolutionäre Entwicklungen, die problemlos um Smartphone, Thermomix und autonomes Fahren als Themen ergänzt werden könnten.
Aber „Multimedia“ ist vorrangig „Catalogue“-Blättern, eine Werkschau der gewachsenen Ausdrucksformen einer Gruppe, die immer unterwegs und innovativ war. Techno und Technik entspringen einer Vorstellung und tragen durchaus romantische Züge. Auch wenn der Fortschritt seine Schattenseiten hat. Ganz am Anfang der Show steht die lakonische Erkenntnis: „Interpol und Deutsche Bank/FBI und Scotland Yard/Finanzamt und das BKA/haben unsere Daten da“. Ein Statement aus dem Album „Computerwelt“ von 1981.
Auch bei beim Thema Kernkraft war die Haltung früh unmissverständlich. „Stopp Radioaktivität“ heißt die Aufforderung. Aber wenn man die Nachtzugfahrten des Trans Europa Express, die Rad-Extremisten der Tour de France und die farbfrohen Animationen zur „Autobahn“ sieht, ist die Maschine ganz nah am Menschlichen. Bei diesem mehr als 50 Jahre alten Song-Klassiker wird dann auch kurz durch Improvisationen die immerwährende Frage ausgehebelt, ob die vier Herren auf der Bühne überhaupt live ins Geschehen eingreifen. Tun sie hörbar.
Der wahlweise hypnotische oder gleichlaufende Rhythmus ist der Herzschrittmacher der zirpenden, knackenden, wummernden Kling-Klang-Wand. Die wird zunehmend variiert und verkantet, selbst Reggae-Anleihen tauchen im Fluss auf, die Wucht der Bässe schiebt sich in den Vordergrund. Aber die Balance aus Sound-Konserve und visuellem Reiz lässt die Sprödheit der frühen Auftritte weit hinter sich.
1981 war Kraftwerk letztmals in Nürnberg. Wenn die Elektroniker diesen Rhythmus aufrechterhalten, sollten wir mal das Jahr 2069 für ein Wiedersehen ins Auge fassen. Der Kosmos kann warten. Fürs Jetzt gab’s erst mal reichlich Jubel.
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