Theobald O.J. Fuchs: Mit Auto nach Berlin – die letzten 202 Kilometer

DIENSTAG, 19. SEPTEMBER 2023, TRANSIT

#Hinten raus, #Kurzgeschichten, #Short Story, #Theo hinten raus, #Theobald O.J. Fuchs

(Fortsetzung der Ausgabe Juni-Juli 2023. HIER geht’s zu Teil 1)
Sobald man über die Grenze nach Thüringen kam, war sofort zu merken, dass man sich definitiv woanders befand. Auf einem anderen Planeten, wo die Mähdrescher-Fahrer Uniform trugen, wo die Häuser mit schwarzen Steinplatten gedeckt waren und wo unmittelbar ab den Ausfahrten die Fahrbahn aus Kopfsteinpflaster bestand. Ich bildete mir auch jedes Mal ein, dass es in der DDR keine Leitplanken gab. Eine entscheidende Frage von so dringlicher Wichtigkeit, dass ich direkt einmal in Ruhe darüber nachdenken muss.

In Westdeutschland waren im Laufe der 1970er Jahre immer mehr Leitplanken aufgetaucht, ich habe bis heute keine Ahnung warum tatsächlich. Mein Vater hatte uns Kindern mit schöner Regelmäßigkeit eine Art Erklärung gegeben, allerdings eine von der Sorte, die zu logisch klang um zu stimmen. Dass der Staat hier Vorräte anlege. Wenn es darauf ankäme – was immer bedeutete: wenn der Russe angreift –, dann könne man aus den Leitplanken ganz schnell Panzer bauen. Eine eiserne Eisenreserve sozusagen.
Überhaupt war »der Russe« – wie die gesamten Menschen im Ostblock ein ganz winzigkleinwenig pauschalisierend benannt wurden – an fast allem schuld. Und das, obwohl (zumindest meiner Meinung nach) Russland damals im Vergleich zu heute ein harmloses und zufriedenes Land war. Und wenn es einmal absolut unmöglich war, »die Russen« verantwortlich zu machen, dann hatte es unter Garantie »der Hitler« angerichtet. Wir Kinder glaubten natürlich alles unhinterfragt und blindlings. Dass Hitler an so ziemlich allen fürchterlichen Dingen, die in Deutschland geschehen waren, eine Hauptschuld hatte, stimmt ja tatsächlich. Dass es auch noch einige andere Leute gegeben hatte, die mit großer Begeisterung mitgeholfen hatten – naja, niemand wollte das so genau wissen. »Schwamm drüber« hieß die Devise, und ob der Krieg mit den Russen wirklich aus und vorbei war, konnte man sich nicht sicher sein. Siehe Stahlreserve.
»Hitler« war die Standardantwort auf nahezu alle schwierigen Fragen der Kinder. Warum im Tal amerikanische Tiefflieger so dicht über die Häuser zischten, dass die Fernsehantennen wackelten. Warum es in Hersbruck eine Siedlung gab, wo nur Schlesier wohnten, die sich untereinander in einer Geheimsprache unterhielten. Warum in dem Foto des Männergesangsvereins von 1937, das im Wirtshaus hing, ein großes rundes Loch klaffte. Ich bin mir nicht absolut sicher, aber vielleicht wollten die Erwachsenen auch einfach ihre Ruhe haben. Vierzig Fragen stellt ein Kind angeblich pro Tag, stand neulich auf dem Monitor in der U-Bahnstation am Bahnhof. Da ist es natürlich das Einfachste, vierzig mal hintereinander »Hitler« zu sagen.
Ob es in der DDR nun Leitplanken gab oder ob der sozialistische Einheitsstaat seine Stahlreserven irgendwie anders lagerte, weiß ich nicht mehr. Wir brummten jedenfalls mit exakt hundert Kilometern pro Stunde über die Betonpiste. Das Auto tuckerte über die Fugen zwischen den Betonplatten, die angeblich noch von Hitler höchstpersönlich verlegt worden waren – so zumindest behaupteten es die älteren Leute im Dorf, die selbst natürlich noch nie außerhalb der Gemeindegrenzen verreist waren. Badamm – badamm – badamm – ein monotoner Rhythmus wie bei einer Zugfahrt, beinahe einschläfernd, wenn nicht ab und zu durch den Stoß ein Schwapp Bier aus der Dose gespritzt wäre.
Die Ortsnamen an den Ausfahrten klangen wie ansteckende Tierkrankheiten – Schleiz, Schkopau, Beelitz, Niemegk. »Mein Hund hatte letzte Woche zuerst Schkeuditz und dann auch noch schlimmes Treuenbrietzen« - »O weh! Und meiner musste letzte Woche mit Triptis zum Köckern«.
Hinter Leipzig auf Höhe Bitterfeld musste man unbedingt die Fenster schließen, denn die Luft draußen war hier schlechter als im Auto. Wir hatten irgendwo gehört, dass es die Braunkohlekraftwerke wären, die hier standen, und wir vermuteten scharfsinnig, dass auch in diesem Fall Hitler dahinter steckte. Hinter jeder Brücke hatte sich ein Lada der Volkspolizei versteckt und maß die Geschwindigkeit der teuren West-Autos. Ganz bodenständig wurde mit der Stoppuhr das Tempo geschätzt, denn der Sozialismus brauchte Devisen und die Westler konnten sich bekanntlich einfach nicht beherrschen, da der menschenverachtende Faschismus tief in ihnen steckte und sie zur Regelüberschreitung zwang. In jedem Dorf erzählte man sich Geschichten von dem Lastwagenfahrer, der ein Volksgesetz gebrochen hatte und deshalb für Monate in einem Stasi-Knast verschwunden war, bis Willy Brandt zum x-ten Mal das Lösegeld bezahlte.
Im Auto nach Berlin fahren hieß auch, ein eigenes Zuhause dabei haben. Wenn man nirgendwo unterkam, in keinem Hostel, in keinem besetzten Haus, bei keinen bekifften Bekannten. Zumindest bildeten wir uns das ein, denn als es dann irgendwann einmal soweit war, dass wir um fünf Uhr früh aus der Disko kamen, total hacke und restlos erschöpft, da mussten wir lernen, dass vier Mann in einem Auto vielleicht halbwegs gemütlich sitzen, aber nicht schlafen konnten. Keine Chance, sich zu viert in einem VW Polo gemütlich auszustrecken. Erstickungsgefahr hoch zehn, Nackenschmerzen nach zirka drei Minuten sechsundvierzig. Jedenfalls so lange wie »Caterpillar« von The Cure läuft. Bis heute verdreht niemand so schön die Augen wie Robert Smith 1984 in dem zugehörigen Video. Auch eine sensationelle Erfahrung in einer dieser Diskos in Berlin damals: Musikalische Kurzfilme, die durch den Kunstnebel an die Wand projiziert wurden. Unfassbar geil, aber anderes Thema.
Jedenfalls überlegten wir uns eine andere Lösung: wir lösten ein Ticket fürs 24-Stunden-Kino. Gab es damals irgendwie an jeder Ecke, aber klar: das Streaming musste erst noch erfunden werden und selbst Video-Rekorder waren seltene Luxusartikel. Im 24-Stunden-Kino hatte jeder ausreichend Platz, um die Beine auszustrecken. Außer uns waren nur wenige andere Zuschauer da, alles Männer, die so viel Abstand wie möglich voneinander hielten. Aber gut, es lief ja auch ununterbrochen ein Porno-Film, irgendetwas schwedisches, das in einem Frauengefängnis spielte, wo sich alles um die Größe der Brüste der Gefangenen und der Aufseherinnen drehte. Der Clou war aus unserer Sicht, dass im Eintrittspreis von 12 Mark eine Flasche Bier und eine Flasche Cola enthalten waren.
Ich schlief hervorragend, bis uns eine ältere Dame weckte und rauswarf, weil wir die anderen Männer beim Masturbieren störten. Man muss nicht alles verstehen, was einem in der Welt widerfährt – das dachte ich mir damals schon in schöner Regelmäßigkeit. Wichtig war nur: wir waren halbwegs ausreichend erfrischt, um die Heimfahrt anzutreten und im Kofferraum wartete noch eine halbe Palette Dosenbier. Und schon ging's los, zum Potsdamer Kreuz, immer nach Süden zurück in den Westen... Badamm, badamm, badamm... 
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Theobald O. J. Fuchs
ist fränkischer Kriminologe in Schrift und Wort, schreibt seit Ausbruch des letzten Vulkans für curt und rettet die Welt, indem er nach dem 2. internationalen Stadtkanalkongress am 22. und 23. September alles unter Wasser setzt.




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BERLIN. #3 Fortsetzung der Kolumne aus Ausgabe August/September. Teil zwei HIER

Es kann sein, dass sich in meiner Erinnerung diverse Aufenthalte in dieser Stadt vermischen, aber ich bin mir sicher, dass es immer Berlin war. In den 1980er Jahren hatten uns die The-Who-Filme »Tommy« und »Quadrophenia« ganz krass mit der Rockmusik der späten 1960er infiziert. Als 1979 Pink Floyd »The Wall« herausbrachten, mussten wir nicht lange überlegen, ob uns das gefiel. Obwohl wir uns für Dorfpunks hielten, ließ sich die Pink-Floyd-Mucke hervorragend zum Rauch aus gewissen Spaßzigaretten in die Gehörgänge dübeln. Aus heutiger Sicht natürlich kompletter Mainstream und Totalkommerz, aber tscha! War geil.  >>
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