Theobald O. J. Fuchs: Blutsauger und andere Begegnungen

DIENSTAG, 25. AUGUST 2020

#Kolumne, #Theobald O.J. Fuchs, #Tiere, #Zeck

Ehe ich berichte, was ich erlebt habe, muss ich hier zuerst eine fette Warnung andübeln: Was jetzt kommt, ist eklig. Nämlich megaeklig.

Denn es begann mit einer Zecke, die sich in einem meiner Körperteile verbiss, über das normalerweise niemand redet. Jedenfalls nicht beim Essen.
Ich entdeckte Exemplar Nummer eins am Morgen, als ich bereits frisch geduscht und bereit war, zur Arbeit aufzubrechen. Aber jenes hartnäckige Jucken in direkter Nähe zu meinem privaten Heiligtum ließ nicht nach.
Nun, wenn ich mich in die Zecke hineinversetze, finde ich, ich hätte selbst ebenso gehandelt. Schön warm und feucht ist es dort unten, geschützt in der dunklen Unterhose zwischen Schamhaaren und weichen Hautfalten: herrlich muss es sich da leben und wohltemperiertes Blut saugen lassen, einfach wunderbar.
Meine Frau schraubte wohl eine Viertelstunde an dem Blutsauger herum, dann gab sie auf. Das Gewinde war hinüber, ein Teil von dem Ding war abgebrochen, der Rest drehte sich frei in dem roten Loch, das es in meine zarte Haut gestanzt hatte. Guter Rat war teuer! Doch ich bekam davon reichlich. Meine Frau empfahl mir, den Hausarzt aufzusuchen, bloß das wollte ich nicht. Dort kennt man mich, die Nachbarn sitzen im Wartezimmer, die Sprechstundengehilfinnen, alle drei Ärzte, die sich die Praxis teilen, würden zuschauen wollen. Keine Macht der Welt brachte mich dort hin.
Der Rat meiner Mutter war lieb gemeint, aber ebenfalls inakzeptabel. Den erwachsenen Mann möchte ich sehen, der eine Stunde auf‘s Land fährt, um sich dort von seiner eigenen Mutter einen Zeck aus dem ... Nein: No means no.
In der Notaufnahme musste ich nicht lange warten, obwohl der Saal gut gefüllt war. Hilfesuchende sind aber leider auch immer gute Zuhörer, wenn es um die Leiden der Anderen geht.
Welches Problem ich hätte, fragte mich eine Krankenschwester. Nun, darüber würde ich gerne mit dem Doktor sprechen ..., wandte ich ein. Mit wem ich sprechen würde, entscheide sie, lautete die resolute Antwort. Und nun solle ich gefälligst den Mund aufmachen. Nicht um mir in den Hals schauen zu können, sondern um zu sagen, was los sei. Ansonsten käme auf der Stelle der nächste Patient an die Reihe und ich könne zusehen, wie ich mein Problem los würde. Sie schien zu ahnen, dass es um einen ungebetenen Siedler im Intimbereich ging.
»Mich hat eine Zecke gebissen«, gestand ich daher ein, so leise wie möglich.
»Ja und?«
»Sie steckt noch, ist aber tot ...«
»Das hätte ich ihr auch geraten! Wir sind ja hier keine Tierklinik. Wo steckt denn das süße kleine Kerlchen?«
»Können wir darüber vielleicht im Behandlungszimmer reden? Unter vier Augen?«
»Unter vier Augen? Der Zeck ist wohl blind oder was? Ha! Kleiner Spaß... jetzt zeigen Sie schon her!«
»Das geht nicht... ich müsste mich dazu, ähm, entkleiden...«
»Ach so! Der Zeck steckt Ihnen im Arsch oder was?« Zwei Dutzend andere Patienten, Zuschauer, Sanitäter, Krankenpfleger, Taxifahrer, die sich inzwischen um uns geschart hatten und dem Dialog gespannt lauschten, sowie ein zufällig anwesender Klempner lachten begeistert. Die Medizinerin schaute beifallheischend in die Runde, als stünde sie auf einer Stand-up-Comedy-Bühne.
»Nein, nein ...«, versuchte ich die Situation zu deeskalieren. »Es ist vielmehr ein recht intimes Körperteil ...«
»Im Knie oder was?! Welcher Zeck beißt sich denn im Knie fest?« Wieder schallendes Gelächter in der Runde.
»Nein ... es ist ... bitte ... können wir nicht?« Ich war ratlos, entnervt, fühlte mich wie in einem Schauprozess.
»Na, dann kommen Sie mal mit. Behandlungszimmer drei. Dort wird sich die Doktorin Ihren Sack ansehen.« Ich war wohl nicht der erste Mensch mit dieser Symptomatik, dem sie gegenüberstand. Der Rest des Besuches verlief dann unspektakulär. Auch für den Zeck, denn der war ja schon tot.
Doch eine Woche später erwischte es mich zum zweiten Mal. Ich wachte mitten in der Nacht schwitzend und mit pochendem Herzen auf, weil ich gespürt hatte, dass mich das Mistvieh anbohrte. Zu spät. Wieder an derselben Stelle. Die kleinen Blutsauger können ja scheinbar nichts als beißen und trinken, aber sie besitzen Humor. Auch diesmal scheiterten alle häuslichen Versuche, die Situation zu entschärfen. Das winzige, rotbraun gefleckte Ding brach einfach in der Mitte ab.  
Mangels Alternative entschied ich mich erneut für die Notaufnahme. Die Prozedur gestaltete sich erwartungsgemäß ähnlich unangenehm wie beim ersten Mal, so dass ich beschloss, mich für die erlittene Unbill zu rächen. Ich radelte abends hinaus in den Garten und lauerte eine ganze Nacht im Gras, um einen Holzbock zu erwischen und ihm meine Zähne in die Waden zu rammen. Jedoch nicht einer ließ sich blicken. Ich schlief kurz vor Sonnenaufgang ein und erwachte, als ein Häschen an meiner Nase schnüffelte.
Einen Tag später saß ich wieder im Wartezimmer. Gleich zwei waren es diesmal. Zecken. Einer links, einer rechts. Die Ärztin sah mich und grinste von einem Ohr zum anderen.
»Sie machen das mit Absicht, oder?« fragte sie.
Ich lief so lange rot an im Gesicht, bis mein Kopf aussah wie eine vollgesaugte Zecke. Die Medizinerin war dann tatsächlich auch ein wenig enttäuscht von meiner Absage.
Nein, es lag nicht an mir, das Problem waren diese Scheißviecher. Die Gemeinschaft der blutsaugenden Ektoparasiten hatte sich gegen mich verschworen. Warum existierten sie überhaupt? Wie konnte die Evolution zulassen, dass sich neben so schönen und makellosen Lebewesen wir mir selbst so ein bestialischer Irrtum wie Milbentiere herausmendelte? Wusste die Evolution wirklich, was sie da tat? Das Geschäftsmodell der Zecke war völlig dubios: Sie sticht mich, damit ich sie töte. Der Fortpflanzung diente das meinem Verständnis jedenfalls nicht.
So entschloss ich mich, einen Experten aufzusuchen. Nämlich Doktor Litschke, einen weltweit renommierter Zecken-Tester und Herausgeber der Zeitschrift »Die moderne Zecke«. Ich traf Litschke, einen großen, dicken Mann mit verfilzten schwarzen Locken, auf seinem völlig verwilderten Grundstück in der Hersbrucker Schweiz.
Mit nackten Beinen stapfte er durchs hohe Gras, er war übersät mit Zecken. Sein Gesicht, die Lippen, am Augenlid, die Stirn – alles mit Zecken bedeckt. Ein Zeckengott stand da vor mir am Gartentürchen und bat mich herein. Zwischen seinen Fingern, im Ausschnitt seines grünen Hemdes, in der Ellenbogenfalte, auf der Nase: überall steckten Zecken, beinahe meinte ich ein vom Kollektiv verstärktes Sauggeräusch hören zu können. Nur in der Kerbe zwischen den Pobacken, »da will ich sie nicht haben«, gestand der König der Zecken ungefragt. »Da würden sie sehr schnell einwachsen.«
»Aha«, dachte ich und überlegte, ob ich nicht schon genug gesehen hatte.  
Doch da ich nun schon einmal hier war, erklärte ich dem Experten aus respektvollem Abstand mein Problem. Er hörte meiner Klage eine Weile ungerührt zu, dann hob er die mit schwarzen Blutklümpchen bedeckte Hand und sprach sein Urteil.
»Du machst den selben Fehler wie so viele«, erklärte er. »Du glaubst, dass es eine klare Grenze zwischen Innen und Außen gibt, zwischen dir und dem Rest, der jenseits deiner Haut beginnt. Viele lieben es sogar, zwischen sich und die Welt eine zweite Haut aus Stahl und Glas zu ziehen, die sie Auto nennen. Doch hierin steckt ein schlimmer Irrtum. Du bist integraler Bestandteil der Welt, die in dir nach Belieben ein- wie ausgeht. Es gibt keine Macht, die dich sauber vom Rest trennen könnte – außer einer russischen Sojus-Rakete. Die hat aber andere Nachteile ...«
»Und was soll ich jetzt tun?« unterbrach ich den abschweifenden Sermon.
»Besorg dir eines dieser modernen Anti-Zecken-Sprays! Die wirken Wunder. Wenn ich mich nicht auf diesen Scheißjob als Zeckenexperte eingelassen hätte, würde ich den ganzen Tag baden in dem Zeug.«
»O.k. Tschüss dann. Noch‘n schönen Tag.«
»Jau. Gerne.«

 




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