Beim Klappmaul-Maestro darf nicht gehustet werden

MITTWOCH, 8. MAI 2019

#Dieter Stoll, #Figurentheater, #Kultur, #Kulturkommentar, #Theater

Wie Nikolaus Habjan (31) den Stardirigenten Karl Böhm (127) vom Sockel holt: das sensationelle Figurentheaterspektakel „Böhm“ öffnet mit dem gespenstisch komischen Porträt einer Legende die Tür zu vielen Dramen.

Der ältere Herr mit dem Faltenreichtum im Gesicht reißt sein Klappmaul mächtig auf: „Sind Sie taub? Das würde manches erklären!“, beschimpft er ausgewählte Musiker des gewaltigen Wiener Philharmoniker-Orchesters, die allesamt weltweit zu den Besten an ihren Instrumenten zählen, während der Probe zu Schuberts Großer Symphonie in C-Dur. Die Formation der „zweiten Geigen“ wird mit dem Hinweis abgemeiert, dass sie ganz logisch sowieso nichts können, „denn sonst wären sie ja nicht die Zweiten“. Und die Sänger, diese Sänger: „Ned immer bloß rausplärr`n!“, plärrt er raus, wenn sie vorsichtig zu den ersten Tönen ansetzen. Einen jungen, den späteren Weltstar Walter Berry, schikaniert er nach allen Regeln der Vernichtungskunst. „Zu leise, zu leise, ach Gott“, pöbelt er dann wieder die Streicher an. Seufzen, Stöhnen, Sarkasmusanfälle von erhabener Stelle ganz vorne mittig am Zugang zum Taifun über diesen eklatanten Mangel an Gruppengenialität, der die weitere Entfaltung des eigenen Ruhms womöglich behindern könnte. Beim Namen nennt der wortgewaltig quengelnde Tyrann mit dem luftbohrenden Insignien-Stäbchen niemanden aus dem Kollektiv der klingenden Hundertschaft, aus Prinzip. Wozu auch, er gibt seine harschen Kommandos an „das Horn“ oder „die erste Oboe“, wer immer da grade zur höheren Ehre des großen Vorsitzenden tuten und blasen mag. Übergeordnet schlechte Laune ist ein bewährtes Markenzeichen der künstlerischen Abstrafarbeit, fast schon ein immaterielles  Weltkulturerbe für sich, und kann es mit dem Unfehlbarkeitsdogma der Katholischen Kirche jederzeit aufnehmen. Mehr noch, viel mehr, sogar die Gesetze von Natur und HNO-Sprechstunde sind außer Kraft, über die Schulter hinweg bellt der Dirigent bedrohlich ins anonyme Dunkel des im Räuspern ergebenen Publikums: „Bei mir wird nicht gehustet!“ 
Allerdings gibt es bei der Konfession „E-Musik“ stets mehr als zwei lebende Päpste, Gegen-Päpste unter Reformationsverdacht in Hülle und Fülle, aber völlig falsch wäre die Annahme, dass jeder dahergelaufene Stadt-Kapellmeister beim Schritt ans magische Pult in seinen Allmachtsfantasien bestätigt würde. Die absolute Mehrheit mittlerer Talente, die Helden des täglichen Handwerks, müssen an der eigenen Lust auf aggressive Selbstverwirklichung zwangsläufig scheitern, sie sind einfach zu normal um (vom Orchester) gefürchtet und (vom Publikum) verehrt zu werden, nur der wahre Verklärungs-„Maestro“ kann den Egotrip als Blutspende verkaufen. Wer jetzt spontan meint, hier sei von Daniel Barenboim oder Christian Thielemann oder Gustav Kuhn oder James Levine die Rede, also von den aktuellsten Verwerfungen um prominente Galionsfiguren der Klang-Klassik, der irrt gewaltig und hat natürlich völlig recht. 

MIT BEIDEN ARMEN HINEIN IN EWIGE WERTE

Es geht um den legendären Star-Dirigenten Karl Böhm: Er ist wieder da!  Jaja, er auch! In seiner Geburtsstadt Graz, wo es sich seit 1981 am Friedhof nach aktueller Selbstauskunft „sehr angenehm liegt“, ist er zur Krisenbewältigung auferstanden: „Auf einmal braucht man mich wieder“, nuschelt er triumphierend ins erste Comeback-Interview, denn die Dirigenten von heute („Thielemann ja, aber sonst …“) sind ja alle so schlecht. Hilft nichts, da muss er mit beiden hochgereckten Armen selber wieder hineingreifen ins „Meistersinger“-Vorspiel, damit man hört und sieht, was ewige Werte sind. Oder ist er es doch nicht persönlich, sondern nur ein verpuppter Doppelgänger, ein Erinnerungs-Stalker, eine Kopfgeburt fürs zweite Leben? Wenn der rumänische Pfleger bei der livehaftigen Böhm-Maske im Unruhestand besorgt nachfragt, ob er/sie denn etwa schon wieder „diese Rolle“ spielt, ist alles denkbar. Doch was soll man von dessen Urteilskraft letztlich halten, da er bekennender Fan des silberhaarigen Landsmanns Sergiu Celibidache ist, diesem über alle Geschmacks- und Lebensgrenzen hinaus todfeindlich verbunden gebliebenen Maestro-Gegenpol mit Sonderlings-Status, der als Opernverächter und Konzertkonserven-Verweigerer „Celi“ über die tonangebenden Mainstream-Österreicher Böhm und Karajan in strikt blockierender Konkurrenten-Eigenart nur Lästerliches oder gerne auch demonstrativ gar nichts zu sagen hatte. Kann so ein fehlgeleiteter Fan überhaupt ermessen, wie das ist mit der deutschen Leitkultur aus Austria?

GOTTBEGNADET IN OMAS PLATTENSCHRANK

Das ist die Geschichte: Ein raunzender alter Mann hockt in seinem Wohnzimmer und hört in ewiger Wiederholung alte Klassik-Platten. Nicht irgendwelche, sondern Tonkonserven unter der Leitung von Karl Böhm, der einst so bedeutend schien, dass sein Name immer mindestens gleich groß auf dem Cover gedruckt war wie der des Komponisten. Was auch jüngeren Klassik-Freunden heutzutage noch auffällt, wenn sie an Besuchsfeiertagen am Plattenschrank oder CD-Regal ihrer kulturaffinen Vorfahren entlang flanieren, wo mit Sicherheit Operngesamtaufnahmen („Zauberflöte“, „Fidelio“, „Wozzeck“, „Elektra“, „Tristan und Isolde“, „Rosenkavalier“ etc.) und Sinfonie-Pressungen (alle Mozart-Sinfonien) feierliche Spaliere bilden. Alles Böhm, welcher – so viel Promi-Zynismus darf an dieser Stelle sein – für jüngere Generationen als Papa von Sissis Kino-Kaiser Karlheinz Böhm auch mit Seifenopern in Verbindung gebracht werden kann. Er war frühzeitig abgehoben, gehörte zu den „Gottbegnadeten“, zumindest stand er neben Kollege Herbert von Karajan auf dieser verschwurbelten Nazi-Liste für die Kombination von Ausnahmetalent und Nibelungentreue, obwohl selbst nie Parteimitglied, aber eben schon in jungen Jahren lebende Legende und mit Blick auf die angestrebte Karriere politisch angepasst. Mitläufer? Dauerläufer! Die „unpolitische“ Musik war sein offiziöses Weiß-wäscher-Credo, aber Hitler-Gruß und Horst-Wessel-Lied gehörten zu seinem persönlichen Dienstleistungsrepertoire und eine Kadenz von Fritz Kreisler strich er aus dem Konzertprogramm, nachdem der Komponist die Nationalsozialisten dafür kritisiert hatte, dass sie jüdische Künstler aus dem Land jagten. Auf diese Weise konnte Böhm erst in Dresden und dann in Wien die Spitzen der Opernhäuser besetzen und nebenbei zu günstigen Konditionen eine „arisierte“ Villa an der Donau beziehen. Nach Kriegsende gab es dafür zwar kurz Berufsverbot, doch dann segelte sein Höhenflug als Mozart-, Strauss- und Wagner-Spezialist der höchsten Festspielebene fast bruchlos bis zum Tod 1981 weiter. Da war er 87 Jahre alt und wurde noch kurz zuvor immer zum Verbeugungsjubel nach mehrstündig am Pult durchsessenen Opernvorstellungen an der Bühnenrampe sicherheitshalber von je zwei Sängerinnen untergehakt. Heute wäre er 127 und ist vorerst unsterblich – vielleicht auch, weil er den Typus des Pult-Tyrannen so schön verhansmoserte. Lichtgestalt mit 
Schattenweitwurf.

KOMBINATION VON AUTORITÄTSPERSON UND WITZFIGUR

Der März-Jahrestag vom „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich 1938, also der staatlich umwölkte Achtzigste für „Heldenplatz“-Erinnerungen, setzte 2018 die besondere Jubiläumsgabe von Grazer zu Grazer in Bewegung. Der Theater-Allrounder Nikolaus Habjan (Puppenspieler und Puppenbauer, Opern- und Schauspielregisseur, Sänger und Schauspieler, Autor und Kabarettist, Kunstpfeifer und Projektbeschleuniger), wie der Dirigent gebürtig in der Steiermark-Hauptstadt, wenn auch 93 Jahre später, hatte die festredenresistente Idee zur kritischen „Böhm“-Performance. Der Auftrag zur Materialsammlung an Paul Hochgatterer (Schriftsteller, Psychiater und Opernfan mit Insider-Wissen), brachte ihm eine Spielvorlage, die über alle Zitatenschatzgräberei und Biografie-Schmonzetten hinaus die Frage nach der Verantwortung des Künstlers stellt – im ganz Großen der Weltlage wie im kleinen Detail der persönlichen Eitelkeit. Der Maestro als Prototyp des Machthabers, als Fixpunkt für den Generationskonflikt, als Reflektion gnadenloser Vergänglichkeit. Als Kombination aus Autoritätsperson und Witzfigur. 

NÜRNBERGER LÖSUNG: STATT PULT-TYRANNEI LIEBER CHARME-OFFENSIVE

Wer mag, darf jetzt ein wenig zur Nabelschau abschweifen, kann diesen Teil der Psycho-Geschichte zwischendurch runterbrechen auf sein eigenes Wahrnehmungsfeld, auf etwaige Versuche, auch „vor Ort“ den Chef der Musiker als kulturelle Übergröße zu etablieren. Man wird feststellen, dass – wenn schon nicht die Vernunft – die Marketingentwicklung das Thema umgelenkt hat. In Nürnberg war Hans Gierster über Jahrzehnte ein arg gefürchteter Polter-„General“, der durch Maulschellen verhaltensauffällige Gustav Kuhn wurde danach Sonder-beauftragter des Intendanten und wollte die Chefposition beim Orchester lieber nicht. Es folgte in Durchlauferhitzung der jugendliche Karriereplaner Christian Thielemann (ging bald im Streit, wie später auch in Berlin und München), der von hysterischen Publikumsinitiativen bekämpfte Eberhard Kloke, der um so mehr geliebte charmante Könner Philippe Auguin mit dem freilich abgelenkten Blick zur nächsthöheren Station, der sachliche Routinier Christof Prick ohne Bodenhaftung vor Ort und schließlich Marcus Bosch. Er sollte, auf Aachener Erfolgsflügeln einschwebend mit teurer Plakataktion in der Stadt begrüßt und dann acht Jahre voller Ehrgeiz in ständigem Einsatz, das besondere „Maestro“-Gefühl nach Nürnberg zurück bringen. Doch statt der erwarteten Verehrung gab es am Ende, als ihn sein Berufungsintendant sitzen ließ, nur allgemeine Anerkennung, also fränkisches Schulterklopfen statt Kniefall. Während dessen bei der emsigen Konkurrenz der Symphoniker der Strahlemann Alexander Shelley, chronisch gut gelaunt, den in dieser Region noch nie erlebten Typus des Sexy-Pultstar zum Anfassen gab. Inzwischen sind die Karten neu gemischt: Die Symphoniker positionierten den 32-jährigen Kahchun Wong aus Singapur als Knuddel-Chef (ist noch im Aufbau, möge die Übung gelingen), der Staatstheater-Intendant überredete die grade von Erfurt aus zum internationalen Höhenflug ansetzende 33-jährige Joana Mallwitz zur Zwischenlandung als erste Frau an der Philharmonie-Spitze in Nürnberg – was im Kultur-Biotop, wo noch Karl Böhm sein mindestens 120 Personen umfassendes Orchester ohne mit der Wimper zu zucken zutreffend mit einem schneidigen „Meine Herren“ anreden konnte, immer noch den Exoten-Bonus obendrauf bekommt. Generalmusikdirektorin? Interviewfrage der ersten Runde: Tragen Sie Frack oder Kleid? Doofe Frage, aber alles so schön menschlich hier! Das Tyrannen-Profil, dem Amte wohlbekannt, ist einigermaßen passé. Die unaufgeregtere Frau am Pult wird in den nächsten Jahren bald kein exotisches Ereignis mehr sein. Am ehesten bleibt die Generationsgrätsche ein dauerhaftes Merkmal für den belebenden Aha-Effekt im musikalischen Kulturgeschäft: Das Wagnis mit sehr jungen Berufungen (wie bei den beiden 33-jährigen Nürnberger Orchester-Chef*innen, Thielemann war hier einst bei Dienstantritt sogar erst 28) oder das Wunder mit den sehr reifen Dirigenten, die weit jenseits der Rentner-Grenze alterslos geworden sind. Barenboim (im November wird er 77) sorgt sich grade, ob die Berliner Vertragszusicherung „lebenslang“ durch Ziffern relativiert werden könnte. Womit wir wieder beim Ausgangsthema, dem noch mit 87 am Pult aktiven und jetzt zumindest auf der Bühne auferstandenen Karl Böhm wären.

DER MEISTERSCHÜLER VON NEVILLE TRANTER

Nikolaus Habjan, der im letzten Jahr auch Regisseur am Wiener Burgtheater und der Münchner Staatsoper war, also längst auf dem Großkarriere-Ticket reisen kann, hatte als Puppenspieler bei den vorigen beiden Festivals 2015/2017 in Erlangen und Fürth mit „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ ein ergreifendes Dokudrama als Skandalfallstudie der berüchtigten Wiener Euthanasieanstalt am Spiegelgrund gezeigt, ein direkt aus dunkelster Vergangenheit in die trübe Gegenwart führendes Wunderwerk des tiefgründigen Figurentheaters, das sich seiner Mittel wie seiner Moral absolut sicher ist. Daneben verblüffte er mit pointierten Fähigkeiten als Interpret von Georg Kreisler und als Wiedergänger des fast ausgestorbenen Kunstpfeifer-Entertainments mit Arien-Koloraturen im mundgespitzten Naturheißluft-System. Inzwischen führte er, weil die Nobelpreisträgerin bekanntlich öffentliche Auftritte verabscheut, in Österreich eine Jelinek-Puppe (Klappmaul, versteht sich) zur eingespielten Original-Ansprache der Autorin auf die Bühne und nannte die Aktion „Elfriede sei mit dir“. Er ist eine ständig in Bewegung befindliche anarchistische Ansammlung von Talent, das eigene Ausdrucksformen findet und dabei für Patenschaften offen ist. Figurenfestival-Übervater Neville Tranter, der bei diesem Jahrgang erstmals seit langer Zeit nicht auftritt, bleibt erkennbares Vorbild und hat in ihm den längst selbst zum Modellfall gewordenen Meisterschüler im Einsatz. Einen, der sich nach eigener Aussage erst neulich bei seinen Eltern bedankte, „dass ich nichts Gescheites hab´ lernen müssen“. Die Mutter war schlagfertig: „Als Anwalt oder Arzt säße er ja längst im Gefängnis“.

Mit dem Figurenstück „Böhm“, das den Zuschauer raten lässt, ob der renitente Grammophon-Greis mit dem ewigen Schmäh im Klappmaul nur Wahn, Wahn, überall Wahn ist oder doch der aus irgendwelchen Pausensektflaschen gesprungene Geist höchstpersönlich, bleibt Habjan quasi ganzkörperlich in seinem Alleskönner-Element. Er spielt traumsicher mit Aberwitz und Mitgefühl drei große und acht kleine Rollen und noch einige Charaktere mehr, hat jede grollende oder piepsige Stimmlage für seine Geschöpfe drauf, steckt spartenteuflisch ungebunden als rasender Solist hinter Köpfen und Masken aller Maßeinheiten. In kleinen Puppen tauchen unvergessliche Sängerweltstars auf, der überlebensgroße Musikerschädel ist ein sehr besonderes Phantom der Oper und der verlöschende Alte im Rollstuhl hat, wenn das real stürzende Denkmal in tausend Splitter aus Legende, Egoismus und Genialität zerbirst, trotz allem unser tiefstes Verständnis. Mehr emotionale Wahrheit kann Theater gar nicht vermitteln. 

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Nikolaus Habjans „Böhm“ ist beim Internationalen Figurentheaterfestival am 29. Mai im Stadttheater Fürth zu sehen.




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