Gute Laune bei Scheck, Schock und Schickeria

FREITAG, 1. NOVEMBER 2019

#Dieter Stoll, #Kultur, #Kulturkommentar, #Literatur, #Schauspielhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Warum Peter Handke 51 Jahre nach seinem ersten (und einzigen) Nürnberger Theaterbesuch wegen der höheren Gewalt des Literatur-Nobelpreises 2019 leider den zweiten „Kaspar“ am Schauspielhaus verpassen wird – und die Aufführung dennoch Aufsehen erregen könnte.

Am 10. Dezember wird der Ausnahme-Schriftsteller Peter Handke in höchsten Tönen geehrt – erst in Stockholm und dann in Nürnberg. Ja, wirklich! An diesem Tag bekommt der österreichische Literat im deutschen Suhrkamp-Verlag mit der Wahlheimat Frankreich und dem in 70 Sprachen übersetzten multinationalen Gedankengut direkt aus königlicher Hand den Literatur-Nobelpreis 2019 und hat (wie bereits lange vor der Verkündigung durch das schwedische Komitee in vorauseilender Dispositionsweisheit unseres Staatstheaters festgelegt war) am gleichen Abend Vorstellung im Schauspielhaus am Richard-Wagner-Platz mit seinem schockierend unterhaltsamen Stück „Kaspar“ in der wenige Tage vorher premierenfrisch präsentierten Inszenierung des Spartenchefs Jan Philipp Gloger. Ein Scheck über ziemlich genau 830.000 Euro (aus dem Nachlass von Alfred Nobel) und grob geschätzte 150,45 Euro (an Tantiemen aus den Eintrittsgeldeinnahmen der Abendvorstellung) sind ihm am Ende dieses Tages neben gesellschaftlichem Glanz & Glamour sicher. Der addierte Wärmegrad des Beifalls skandinavischer Honoratioren und fränkischer Abonnenten ist da noch gar nicht mitgerechnet. Auch nicht, ob die fürs Stück einst getroffene Autoren-Aussage, selbiges hätte „genauso gut ,Sprechfolterung´ heißen können“, etwa nun auch die 51 Jahre später unvermeidlichen Lobreden einschließt. Wie dem auch sei, jetzt ist er  voll damit beschäftigt, eine literarisch satisfaktionsfähige Dankadresse zu formulieren, deren Provokationspotenzial weder Fans noch Feinde enttäuscht.

Seit der Entscheidung für diesen deutsch schreibenden Preisträger im Spalier-Anhang der Vorgänger Herta Müller, Elfriede Jelinek, Günter Grass und Heinrich Böll, die er selbst sofort in bekannt stabilem Eigenwertgefühl als „mutig“ bezeichnete, sind die Kommentatoren pro und contra mit frisch nachgerüsteten Meinungen angetreten. Kontroversen gibt es dabei weniger wegen der eher am Rande aufflammenden literarisch-ästhetischen Zweifel, denn Handke hat viele, oft noch im schwurbelnden Werben um „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ eindrucksvolle Texte in Prosa und Lyrik, für Buch, Theater und Film in die Welt gesetzt. Ob man seine unfassbare kämpferische Verteidigungsposition für militante Serbenführer, die von international anerkannten Gerichten als Kriegsverbrecher juristisch wie moralisch verurteilt wurden, dabei einfach ausblenden kann, ist allerdings die unauflösbare Frage.

SCHALLENDE OHRFEIGE?

Bei den Spontan-Kommentaren der ersten Stunde mischten sich mitgeschleppte Vorurteile und heitere Randbemerkungen in den Meinungstumult. Der durch bildschirminstanzliche Bestseller-Vermüllung mit Fließbandverbindung zur Tonne in seinem mitternächtlichen TV-Format „Druckfrisch“ populär gewordene Moderator Dennis Scheck, auch für den Comic-Salon Erlangen tätig, freute sich am Tag der Verkündigung sogleich über „eine schallende Ohrfeige für die Political Correctness“ und hatte zuvor noch die höhnende Bemerkung untergebracht, dass nach der Auszeichnung von Bob Dylan 2016 „sicher auch Reinhard Mey auf den Anruf aus Stockholm gewartet“ habe  Da ist dann doch eher auf die Ironie von SZ-Chefredakteur Kurt Kister Verlass, der am gleichen Tag im versonnen die Lage beplaudernden Mail-Brief an die Abonnenten schreibt: „Es gibt auch viel Gutes auf der Welt, zum Beispiel dass, wenn schon Peter Handke den Nobelpreis bekommen musste, ihn Bob Dylan vorher erhalten hat“.
Zurück von den Antworten, die eh ganz allein der Wind weiß, zu Fake & Fakten über das Verhältnis von Nobelpreisträger-Handke zum Meistersinger-Nürnberg. Fotografisch dokumentiert ist ein einziger Besuch bei den Städtischen Bühnen, da war der Dichter knapp 25 Jahre alt und schritt schüchtern an der Seite des ebenfalls hier erstmals auftretenden Regisseurs Günter Büch. Er wird auch lange nach seinem Tod als „früher Handke-Enthusiast“ geführt, hatte noch vor dem skandalgebeutelten Durchbruch mit der später sogar in New York ausstrahlenden rhythmischen Beleidigungsorgie „Publikumsbeschimpfung“ im damals für Avantgarde offenen Oberhausen die heute vergessenen Sprechstücke „Selbstbezichtigung“, „Weissagung“ und „Hilferufe“ inszeniert und brachte Handke 1968 zur Kammerspiele-Premiere „Kaspar“ mit. Doppeltes Debüt. Büch blieb danach als langjähriger Hausregisseur an den Städtischen Bühnen, Handke nahm die Salzburger Festspiele und das Wiener Burgtheater fest in den Blick. Dass ihn der zögerliche Umgang von Nordbayerns Provinzmetropole mit seinen Folgewerken zu diesem Zeitpunkt interessierte, darf bezweifelt werden.

WAS MAN DEN NÜRNBERGERN NICHT ZUMUTEN KANN

Handke und Nürnberg – das war anno dazumal 1971, als Büch unter dem Staunen der Kritiker und irritierten Zuschauerblicken drei Jahre nach „Kaspar“ noch in aller Freiheit „Der Ritt über den Bodensee“ inszenierte, der Ansatz zur kleinen heißen Affäre drunten im noch jungen Kunstschutzraum der Kammerspiele. Aber zur Vernunftehe hat es dann doch nicht gereicht. Etwas später beim nächsten Handke-Versuch vor Ort, genauer gesagt 23 Jahre danach, setzte der amtierende Schauspieldirektor Holger Berg das überall zwischen Wien und Berlin gern vorgeführte, ebenso sprach- wie harmlose Momentaufnahmen-Mosaik „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ an. Nicht ohne kurz danach im Interview zu gestehen, dass er gerne den anspruchsvolleren Handke spielen würde – wenn man ihn nur dem Nürnberger Publikum zumuten könnte. Der empörte Aufschrei der unterschätzten Massen ist ausgeblieben. Danach sind wieder knapp zwei Jahrzehnte vergangen, was im Scheidungsrecht das Zerrüttungsprinzip mehrfach übererfüllt. Es sei denn, man zählt die überraschende Opern-Adaption „Über die Dörfer“ aus der Feder des Schwabacher Komponisten Walter Zimmermann dazu, in Nürnberg 1986 uraufgeführt nach dem Salzburger Fest-Schauspiel. Epische Musik auf epischem Text, eine echte Doublette. Es war in sechs Vorstellungen als „besondere Oper zum besonderen Preis“ zu sehen und verschwand spurlos.

HÖHEPUNKT MIT „IMMER NOCH STURM“

Als Regisseur Stefan Otteni und Bühnenbildner Peter Scior noch vor der Salzburger Handke-Uraufführung von 2011 fürs Jahr darauf den Auftrag für eine folgende Nürnberger Inszenierung des aktuellsten, maßlos ausholenden Textes „Immer noch Sturm“ übernahmen, da war allenthalben Skepsis spürbar. Was diesen poetisch und politisch auseinander driftenden Dichter betraf, gab es in Nürnberg – lassen Sie es mich mit den Worten eines bayerischen Sprachkünstlers sagen – keinerlei „gludernde Lot, äh, lodernde Glut“. Aber Phoenix aus der Asche ist ja auch eine gute Nummer. So wie Peter Handke in „Immer noch Sturm“ seine in sich ruhende Konstruktion einer wortgewaltigen Familien-Saga souverän über das kleine Einmaleins der Theater-Dramaturgie hinweg hebt, so hat sein Nürnberger Regisseur mühelos die allseits gefürchtete, klösterlich-hermetische Meditations-Mauer des Autors durchbrochen. Das actionfreie Dichterwort wurde hinter Kanzel und Katheder hervorgelockt und zum Spielen verführt. Die 18jährige Ära des Schauspieldirektors Klaus Kusenberg erreichte damit ihren künstlerischen Höhepunkt. In der Laudatio für den Ensemble-Theaterpreis, mit dem die Aufführung ausgezeichnet wurde, stand der kopfrechnerisch rückwärts begründete Satz: „Möge der nächste Nürnberger Handke nicht erst im Jahre 2032 stattfinden“.  

Er kommt im unerwarteten Windschatten des Nobelpreises tatsächlich schon 2019. Freilich in einer Aufführung, die Jan Philipp Gloger bereits 2013 für die Staatstheater in Mainz  und Wiesbaden produzierte und nun mit zwei der drei damaligen Schauspieler (Janning Kahnert, Felix Mühlen) neu auflegt. Zwar verspricht er in der Adaption des sprechgesteuerten Machtspiels „eine Reise durch die deutsche Geschichte, in der Stadt, in der der geheimnisvolle Findling einst gefunden wurde“ (also 1828 in Nürnberg), aber zur Stadtverführung wird es wohl nicht kommen. Will doch der Autor keine Dokumentation, sondern beispielhaft zeigen, „was möglich ist mit jemandem“. Der Bühnen-Mensch, der am Anfang nur einen einzigen Satz kennt, wird mit Wörtern und grammatikalischen Regeln gedrillt, die Sprache ist vorgeprägtes Leben, die eingeflüsterten Sätze sind Tyrannei der Konvention. Das ist Tragödie und Groteske, vor allem aber ein Stoff, der viele Künstler inspirierte. Mindestens sechs Theaterstücke, sechs Filme, zwei Opern, zwei Ballette und eine sinfonische Dichtung befassen sich mit Kaspar Hausers Schicksal – und natürlich soll die sonst eher für alle in Moskau an die Wand geworfenen Gläser zuständige Volkstanzgruppe Dschinghis Khan nicht unterschlagen sein, die 1980 „Kaspar Hauser Forever“ veröffentlichte und dabei im Refrain mehrfach den guten Rat gab „Nehmt euch vor ihm in Acht“.

ERSTER VERSUCH MIT EINEM PANTOMIMEN-STAR

In der Nürnberger Erstaufführung von 1968 war der später in Europa berühmte spanische Pantomime José Luis Gómez die dominante Titelfigur, umzingelt von einem penetranten Ensemble der „Einsager“ und von Soundattacken. Aus dem stummen Autisten-Abseits griff er verzweifelt selbst in der Komik nach dem Herrschaftsmikrophon. In der Interpretation von 2013 bzw. 2019 freut sich der Ionesco-Verehrer Gloger (mit „Ein Stein fing Feuer“ aus dessen absurden Einaktern hat er seine Nürnberger Amtszeit 2018 programmatisch eröffnet) an der Fülle „unerwarteter Nonsens-Funde“ bei Kaspar/Handke und lässt dazu den pilzköpfigen Dichter dreifach auftauchen, um ihn dreifaltig „die große Show der Anpassung“ säuseln zu lassen. „Bitterböse, hoch unterhaltsame Komik“, meldete ein Frankfurter Rezensent. Die verschwommene Erinnerung an ein scharfkantiges Monster-Drama mit vielköpfiger Solo- und Ensemble-Pantomime und die Verheißung auf höchstpersönliche Wiedergeburt in der Trio-Groteske – das könnte sogar den gern mit seinen Regisseuren hadernden Nobelpreisträger über ein halbes Jahrhundert hinweg nacheinander rühren und erheitern. Vorausgesetzt, man wird ihm glaubwürdig versichern können, dass das Preisgeld trotzdem nicht in Dritteln ausbezahlt wird.

Damit auch das Nürnberger Publikum bei der „Kasper“-Aufführung die fränkische Ruhe nicht verliert, sei als besonderer Service an dieser Stelle vorsorglich darauf hingewiesen, dass voraussichtlich irgendwann während der Vorstellung jugendliche Randalierer in der letzten Reihe das Theaterspiel stören könnten. Es handelt sich dabei um den rein künstlerischen Rückverweis auf die deutschen „Achtundsechziger“-Proteste, keineswegs um die mit typisch regionaler Verspätung real ausbrechende gesellschaftliche Revolution von heute.

Am 30. November hat Handkes „Kaspar“ in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger am Schauspielhaus Nürnberg Premiere. Bis Juli 2020 sind vorerst weitere 18 Vorstellungen geplant.

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DIETER STOLL, Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ.
Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theaterkritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!




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