Ausflüge vom Egersdörfer und dem Herrn Jordan: man muss sich halt Zeit nehmen dafür.
#Egers, #Matthias Egersdörfer, #Michael Jordan
Der Jordan und der Egersdörfer waren gemeinsam mit der Regionalbahn zum Bahnhof Lauf rechts der Pegnitz gefahren. Vom Gleis zwei gingen sie links am Bahnhofsgebäude vorbei und die Bahn-hofstraße hinunter. Kurz vor der Ampel war rechts eine große Baugrube ausgehoben worden. „Hier stand einmal ein großes Haus. Vorne dran war eine Vitrine angebracht. In der waren Fotografien ausgestellt. Oft bin ich mit meiner Großmutter hier gestanden und wir schauten mild blickende Kinder, die eine Kerze in der Hand hielten, Frauen im Brautkleid neben lachenden Herrn im Anzug, Familien mit Hund, Familien mit Kind“, erzählte der Egersdörfer im Vorbeigehen, weil nämlich der Michael Jordan an dem Tag das erste Mal in seinem Leben in Lauf gewesen ist. Vorne an der Ampel gingen sie über die Straße und dann gleich links auf das Nürnberger Tor zu. „Da war einmal der Geissler drin. Da konnte man alles kaufen, was es auf der Welt zu essen gibt. Und hier gleich über die Straße befand sich der Gramp. In dem Modehaus war es möglich, vom Erdgeschoss über eine große Holzrutsche im weiten Bogen bis in den Keller zu rutschen.
Der Herr Gramp hatte eine Statur von einem mittleren Kleiderschrank. Obenauf befand sich eine fast haarlose Kugel. Das war sein Kopf“, erklärte der Egers, während er neben dem Zeichenkünstler in gemäßigtem Schritt weiter lief. Plötzlich blieb der Jordan stehen. Der Egersdörfer schaute ihn von der Seite an. Jordan schaute auf das sandsteinerne Tor. Ohne den Blick abzuwenden, sagte er: „Warum befindet sich über dem Tor-bogen ein Nürnberger Wappen?“ – „Das fragst du am besten gleich einmal die Ina Schönwald. Die kennt sich mit sowas aus“, antwortete darauf der Komiker, der in dieser Stadt aufgewachsen war. Dann schritten die Herren ein kleines Stück über den Marktplatz, links an der Johanniskirche vorbei, in der der Egersdörfer getauft und konfirmiert worden war. Auf der Höhe der Metzgerei Weber lief dem Vegetarier Egersdörfer kurz das Wasser im Mund zusammen. Schon spazierten sie zwischen den Häusern in die schmale Spitalstraße, um kurz darauf, nahezu pünktlich vor dem malerischen Tor des Stadtarchivs der Stadt Lauf zu klingeln. Einen Moment dauerte es. Dann erschien schon die Archivarin Ina Schönwald, gut gelaunt, öffnete freundlich die Tür und schickte sich an, die Herren zu den städtischen Sammlungsräumen zu führen. Indes, im Erdgeschoss verharrte der Egersdörfer, dieweilen die Archivarin und der Jordan schon über die Treppe in den ersten Stock weitergegangen waren. Der Egersdörfer schaute auf eine lange und hohe Anzahl von verschiebbaren Aktenschränken, in denen sich bestimmt Schriftstücke aus diversen Jahrhunderten weit vor seiner Geburt befanden. Er überlegte dabei, wie dieser Raum vor einigen Jahren ausgesehen hatte, als er das letzte Mal hier gewesen war, um Geschichten über seinen Großvater zu erfahren, fand jedoch anstelle einer Erinnerung war nur eine leere, tiefe Grube in seinem Inneren. So ging er die Treppe hinauf.
Die Frau Schönwald und der Herr Jordan schritten bereits zwischen den hohen Regalen einher und betrachteten die Artefakte und Aufzeichnungen aller Art. „Ich glaub, in Erlangen is des Eingangslager in so eim ehemaligen Stall, außerhalb des Museums“, hörte der Matthias Egersdörfer noch den Jordan erklären. Dem entnahm er, dass sie sich hier gerade vor den Regalen des Laufer Eingangslagers befanden. „Es geht ja immer um des Geziefer, was da drin is“, antwortete darauf die Archivarin. „Und manche Sachen sind auch sehr geruchsintensiv. So einige Nachlässe oder was da vom Dachboden kommt. Das Odeur ist dann oft schon so, dass es auch gern einmal die Mitarbeiter belästigt.“ – „Wo is die Schützenscheibe her?“, wollte der Egersdörfer wissen. – „Die stammt vom Andreas Zitzmann. Der hat uns ganz viel aus dem Familien- und Firmenbesitz gegeben. Auch Abfüllgeräte vom ehemaligen Großhandelshaus.“ Die holde Frau Schönwald zog eine längliche Apparatur hervor. „Hier wieder was ganz anderes. Wofür man des benutzt hat, weiß ich gar ned. Da muss ich mal im Industrie-museum nachfragen.“ Wohl einen der ersten Tennisschläger aus Lauf entnahm Frau Schönwald aus einem anderen Regalboden. „Da wird halt in der Regel alles gebracht, wo man denkt, des is alt und vielleicht ... und ich darf dann entscheiden: Is des für die Stadtgeschichte relevant oder ned.“ Dem Gespann Egersdörfer und Jordan wurde ein Pokal gezeigt. Alle aus der Familie Zitzmann waren Schützen. Eine Brille aus den sechziger Jahren im original Brillenetui und eine schöne Wanduhr in dunkler Holzfassung erblickte der Egersdörfer. Gleich daneben befand sich ein gesammelter Briefverlauf. „Des sinn wahrscheinlich Grundstücksakten, Briefe, zweihundert Gulden … ich denk amal so siebzehntes, achtzehntes Jahrhundert.
Des hat jemand am Dachboden hier von am Haus in der Höll gfundn. Also dieser alte Stadtbezirk vo Lauf. Des is nadürlich unbedingt archivwürdig.“ Von der Ludwigshöhe ließen sich daneben noch Grundsteuerkatasterwerke und ältere Unterlagen zu Grund-stücksverkäufen einsehen. Vom Militärverein Schönberg zeigte ein größeres Bild ehemalige Mitglieder. Kleinere Gruppen waren darauf fotografiert und nebeneinander auf einen gemalten Hintergrund gesetzt worden. Egersdörfer war begeistert. Frau Schönwald schmunzelte und sagte dazu: „Ja, des is des Schöne hier. Es is sehr abwechslungsreich!“ Dann lenkte die Archivarin die Aufmerksamkeit auf Unterlagen, die patentrechtliche Streitereien behandelten. Es ging darin um einen Mann, der für die Porzellanfabrik Krug gearbeitet hatte. Dieser hatte zudem das Modell für künstliche Hirschhornknöpfe entwickelt, die er im größeren Stil verkaufte. Daraus entwickelten sich kaufmännische Querelen mit anderen Mitbewerbern aus dem Hirschhornknopfgewerbe. Ina Schönwald erklärte: „Das sind jetzt alles Dinge aus den letzten zwei Jahren. Unsere Mühlen mahlen langsam, weil jeder genuch zu dun hadd. Wir sinn zu dritt. Unser Mädchen für alles: Der Herr Kubiak. Der is sehr gut in den technischen Sachen, am Computer. Wir hamm edz zu achtzig Jahre Kriegsende eine Online-Ausstellung gmacht. Ich kann des zwar im Kopf hamm – aber des technische Umsetzen, da hamm wir echd an Glücksgriff gmachd mit dem Simon Kubiak. Außerdem ist die Sabrina Grünewald für die Digitalisie-rung zuständich. Des is edz so a Ding. Des müssmer jedzd alle machen. Durchsichtiche Verwaltung und so weider. Aber ich sach mal so: Der echte Archivar häld eigentlich nur vom Speichermedium Papier was. Weil, wenn mers amal rein philosophisch betrachded: wie werden unsere Kriege und Konflikte der Zukunft gführd wern? Da wern a paar Server außer Kraft gsezzd und dann wars des midd der Überlieferung über unsere Zeit. Da wird eh ned viel bleiben. Also das ist meine Theorie und die von den Kollegen. Deswegen: wichdiche Mails druck ich immer noch aus. Papier is nedd ideal. Des wissmer alle. Wir müssen digitalisieren. Dess hadd auch bestimmt einige Vorteile. Abber für eine Gschichtsüberlieferung hald ich davon wenich. Was is midd einem Emailverkehr? Was bleibt bei dieser Fülle von Daten? Und selbst die KI, die vielleicht segensreich wär, wenn sie mit Worterkennung arbeidedd. Abber wenn dann nix mehr da is. Da nüdzd die ganze KI nix. Gmachd wern muss es drodzdem, weil des per Gesetz so is, dass wir, nadürlich im Sinn der Demokratie, für den Bürger durchsichtiche Verwaltungsvorgänge vorweisen müssen.“
Der Egersdörfer staunte über das, was er gehört hatte. Der Jordan war in eine Darstellung des Raums vertieft. Seine Augen wanderten flink. Auf seinen Zetteln, die im Klemmbrett übereinander steckten, hatte er mit feinem Strich unter-schiedlich große Kästchen vorgezeichnet. Akkurat ließ er die feine Spitze seines Stiftes zwischen den Grenzlinien auf und ab tanzen. Die Archivarin und die beiden Herren schritten alsdann weiter an den gefüllten Regalen entlang und setzten sich an einen Tisch mit vier Stühlen. Aus einem nicht einsehbaren Zimmer erklang ein rhythmisches Schlagen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um das Schwanzwedeln des Hundes der Stadtarchivarin. „Ich sehe die Archive auch immer als Hüter der Demokratie“, ergänzte Ina Schönwald ihre Ausführungen. „Weil ja jeder theoretisch einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten einsehn kann. Also da nehmen wir zum Beispiel amal widder den Nationalsozialismus. Da wurde die SPD-Fraktion am Kunigundenfest in das Konzentrationslager Dachau transportiert, weil sie ihre Mandate nedd abgehm wolldn. Dazu gibbds dann die Überlieferung aus dem SPD-Parteiarchiv, was sich inzwischen auch schon im Besitz des Stadtarchivs befindet, midd den Briefen aus dem KZ. Und es gibd naddürlich des, was die Stadtverwaltung überliefert hat, die damals faschistisch war. Bei der Betrachtung dieser Blickwinkel setzt es naddürlich beim Nudzer des Archivs voraus, dass der auch differenziert denkn kann.“ Die Archivarin schmunzelte. Der Egers feixte. Michael Jordan lachte lautlos, während er die vielen Ordner im Regal abzeichnete. Im Nebenzimmer schüttelte sich der unsichtbare Hund. „Was wir edz immer öfder hamm,“ ergänzte Ina Schönwald ihren Gedankenfluss, „früher wusste jeder, des Archiv bewahrt Orginale. Da sedz ich mich hin. Die kann ich anschaun und dann kann mir meine eigenen Gedankn machn. Heut is es so: Da kommen die Leute rein. Man legt ihnen die Dokumente vor. Dann schaun die schnell über die Schriftstücke und machen dabei: hm, hm, hm. Und dann fragn sie: Ja, wie war edz des damals? Des is nadürlich ned der Sinn von einem Archiv.“ Matthias Egersdörfer fragte: „Also du meinst damit, die schaun sich die Schriftstücke gor ned an? Die lesn keinen einzigen Satz?“ Frau Schönwald bestätig-te: „Die schaun sich das gor nedd wirklich an und wolln von uns die Wahrheit wissen oder die Zusammenfassung. Des hadd auch edwas mit der Anstrengungsbereitschaft zu tun. Des passiert zum Beispiel auch bei Schülern. Da kann man das noch nicht so erwartn. Durch die sozialen Medien is freilich alles schnell konsumierbar. Abber neulich hatte ich es auch bei einer durchaus älteren Dame zu den Vorgängen aus dem 16ten Jahrhundert, Reformation, Bauernkrieg in Lauf. Da hab ich ihr alles hingelegt. Sie hadd hm, hm, hm gemacht. Dann hadds gfrachd: ‚Ja, is denn edz was passierd?‘ Dann habb ich gsachd: ‚Ja, die Sachn, wo was drinstehn könnt, wo was passierd is, des hab ich Ihnen ja alles hinglegt.‘“ Frau Schönwald atmete tief ein und wischte mit der Hand über die Tischplatte. „Man muss sich hald Zeit nehmen dafür. Des is des. Aber es is ja nicht jede Zeit wie die unsere. Wird sich schon wieder ändern. Vielleicht.“ Egers raunte: „Schau mer mal!“ Ina Schönwald sagte: „Schaun wir mal.“ Jordan zeichnete immer noch Ordner und Ordnerrücken. Dabei erhoffte er insgeheim, die Geschichten, die sich dahinter in großer Anzahl verbargen, zumindest skizzenhaft anzudeuten. Ina Schönwald erzählte dann noch viele weitere Dinge, etwa, wie sie acht Jahre lang die Kunstschätze auf Burg Grünsberg inventarisiert hat. Barocke Ausmalungen und Scheinmarmor tauchten dem Jordan und dem Egersdörfer als innere Bilder auf. Die Geschichte von der Reichelschen Schleif wurde noch erwähnt, wo hinten im Garten die Schlotfeger nach getaner Arbeit in der Wanne badeten und ihr verrußten Anzüge in den Fluss hängten. Vom Widdmanns Res und vom Gänskroung wurden Großtaten erzählt und wie die Leichenfrau einmal bei einer Beerdigung ins Grab hineingefallen ist. Ganz besoffen waren der Jordan und der Egersdörfer von Geschichte und Geschichten, als sie sich von der freundlichen Stadtarchivarin Ina Schönwald verabschiedeten.
---
Matthias Egersdörfer
Michael Jordan
Der Matthias Egersdörfer und Michael Jordan machen gelegentlich gemeinsame Ausflüge. Dann zeichnet der Jordan den Teil der Welt, den er von seinem Platz aus sehen kann. Und der Egers schreibt, was er hört und erblickt. So entsteht diese Kolumne.
TERMINE EGERSDÖRFER
Wild wird´s bei „Egersdörfer & Gymmick machen es noch einmal“ am 08.07. im Gostner Hoftheater * Open Air in Nbg.
Michael Jordan
Ausstellung Augsburger Gespräche – graphic recordings im Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg. Bis 31.8.2025
#Egers, #Matthias Egersdörfer, #Michael Jordan