Gelände im Umbruch: Im Gespräch mit Prof. Dr. Julia Lehner

DONNERSTAG, 23. MäRZ 2023, REICHSPARTEITAGSGELäNDE

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Das „Gelände“ beschäftigt die Nürnberger Stadtgesellschaft seit vielen Jahrzehnten, motiviert zu Diskussion, Kritik, Kunstaktionen und Theorietexten, auch weit über das Stadtgebiet hinaus. 
Aktuell wandelt sich der Umgang mit dem giftigen Erbe des National-sozialismus. Grund genug für curt, tiefer zu bohren: Prof. Dr. Julia Lehner, zweite Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg, hat uns Einblicke in das komplexe Thema gegeben.


Frau Prof. Dr. Lehner, als Stadträtin, als Referentin und seit 2020 auch als Bürgermeisterin stehen Sie seit über 20 Jahren in der Verantwortung für Nürnbergs Kultur. Ist in dieser langen Zeit schon jemals öffentlich so intensiv über den Umgang mit den baulichen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur am ehemaligen Reichsparteitagsgelände diskutiert worden wie im vergangenen Jahr?
Julia Lehner: Tatsächlich kann ich mich an einen so intensiven Diskurs nicht erinnern. Seit Mitte der 1990er Jahre darf ich in und für Nürnberg Kulturpolitik machen. Seither erlebte die Erinnerungskultur einen großen Bedeutungswandel, der sich etwa auch in der Eröffnung des Dokumentationszentrums und des Memoriums Nürnberger Prozesse ausdrückte. Aber die öffentliche Diskussion um eine erweiterte kulturelle Nutzung der Kongresshalle, darum, ob und wie hier künftig das Staatstheater und Künstlerinnen und Künstler aller Sparten wirken können, besaß bis zu den grundsätzlichen Entscheidungen des Stadtrates, diese Nutzungen zuzulassen, schon eine besondere Dynamik.
 
Hat Sie das erstaunt?
Im Gegenteil – ich habe mich nicht darüber gewundert, sondern gefreut. Es zeigt ja, dass sich große Teile der Stadtgesellschaft mit der Frage nach dem Umgang mit dem historischen Erbe der Stadt auseinandersetzen und sich hierzu eine Meinung gebildet haben. Schlimm wäre es gewesen, wenn sich die Nürnbergerinnen und Nürnberger den Fragen nach einer angemessenen Nutzung des Geländes und seiner Bauten gegenüber völlig indifferent positioniert hätten.
 
Was verbinden Sie mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände? Gibt es ein Leitmotiv für den Umgang mit diesem Erbe?
Die Geschichte des Nationalsozialismus wurde in weiten Teilen Nachkriegsdeutschlands oft totgeschwiegen, schlicht ignoriert, das war auch in Nürnberg so. Erst 1985 setzte mit der Ausstellung „Faszination und Gewalt“ in der Zeppelintribüne ein grundsätzlicher Wandel ein, der richtungsweisend für einen aktiven didaktischen Ansatz war und zur Gründung des Dokumentationszentrums führte. Ganz wichtig sind auch die Leitlinien, die die Stadt Nürnberg 2004 für den Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände festgelegt hat. Hier ist festgehalten – und das ist mir besonders wichtig mit Blick auf die aktuellen Debatten –, dass jede Generation die Möglichkeit haben soll, sich neu mit dem Gelände auseinanderzusetzen. Jede Generation ist stets aufs Neue aufgerufen, diese Debatte zu führen.
Knapp 80 Jahre nach dem Ende des NS-Terrors befinden wir uns in einer Zeit tiefgreifender Veränderung: Die Generation der Zeitzeugen tritt ab, und ich stimme denjenigen zu, die glauben, dass damit den Architekturen des Nationalsozialismus ein neuer Zeugniswert zukommt. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände ist das Stein gewordene Dokument des nationalsozialistischen Größenwahns, Dokument einer menschenverachtenden Ideologie. Die Architektur ist aber auch in gleicher Weise Auftrag an uns Heutige. Sie ist ständige Aufforderung, den gefährlichen aktuellen Entwicklungen eines neuen Nationalismus und besonders dem Antisemitismus in unserer Gesellschaft mit Macht entgegenzutreten. Zur Geländegeschichte gehört auch die Historie vor und nach 1933 und 1945, die des Volksparks Dutzendteich mit seiner Nutzung für Sport und stadtnahe Erholung. 
 
Und wie verhält es sich mit der Kultur – in der Kongresshalle wird seit Jahrzehnten durch die Symphoniker und im Serenadenhof musiziert, das Dokumentationszentrum ist Nürnbergs besucherstärkstes Museum. Wie kam es zu der Idee einer erweiterten kulturellen Nutzung des Gebäudes? 
Die historische Verpflichtung der Stadt angesichts ihrer Rolle im Nationalsozialismus war zentral für Nürnbergs Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas. Wir hatten hier nach den Bedingungen für eine „Menschlichkeit als Maß“ in unserer Gesellschaft gefragt und welche Antworten Kunst und Kultur hier formulieren können. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Kunst im Sinne eines demokratischen Umgangs mit dieser Verpflichtung die passenden Antworten finden und entscheidende Impulse aussenden kann. So wurde bereits vor Jahren die Idee formuliert, in der Kongresshalle Ermöglichungsräume für Kunst und Kultur zu platzieren; Räume für die Produktion und Präsentation von Kunst und Kultur aller Sparten. Hinzu kommt nun, dass für das Staatstheater während einer Sanierung des Opernhauses hier eine Ausweichspielstätte eingerichtet wird. 
 
Wer arbeitet im Geschäftsbereich Kultur der Stadt an diesem Projekt?
Ein so großes Vorhaben tangiert die gesamte Stadtverwaltung. Der Geschäftsbereich Kultur ist hier ebenso adressiert wie der Oberbürgermeister, das Baureferat, das Wirtschafts- und Wissenschaftsreferat, Kommunikationsamt sowie eine Vielzahl an Dienststellen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die alle gemeinsam zum Gelingen des Projektes beitragen. Federführend bei der inhaltlichen Konzeption der Ermöglichungsräume ist sicherlich die 2019 eingerichtete Stabsstelle ehemaliges Reichsparteitagsgelände, Zeppelinfeld und Zeppelintribüne. Hier wird auch die Entwicklung des Lern- und Begegnungsortes Zeppelintribüne und Zeppelinfeld koordiniert.
 
Wie sieht das zukünftige Gelände in Ihrer Vorstellung aus?
Das ehemalige Reichsparteitagsgelände hat wie erwähnt eine doppelte historische Dimension, die „ablesbar“ bleiben muss. Zum Gelände gehören Rekreation und Sport. Deshalb sind Veranstaltungen wie das Norisring-Rennen und das Rock im Park-Festival auf dem Gelände richtig verortet, wie auch der 1. FCN oder die Ice Tigers.
Die zweite Dimension ist jene des Nationalsozialismus. Das Gelände steht seit 1973 unter Denkmalschutz- Es ist ein sogenanntes Flächendenkmal und die Stadt Nürnberg dazu verpflichtet, dieses in seinem heutigen Zustand zu erhalten. Die Diskussion über „Erhalt“ oder „Verfall“ der vorhandenen Bauten ist abgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung von Zeppelinfeld und Zeppelintribüne zu sehen. Feld und Tribüne werden damit zu einem weiteren zentralen Bestandteil der historisch-politischen Aufklärung, für die das Dokumentationszentrum steht. 
International in den Fokus wird insbesondere die Kongresshalle rücken, wenn hier Oper, Ballett, Musiktheater, Ateliers, Werkstätten, Proberäume und Ausstellungsflächen die bisherige kulturelle Nutzung deutlich erweitern und somit auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes noch stärker als bislang mit den Mitteln der Kunst geführt werden wird, wie es eben auch die Leitlinien des Stadtrates vorsehen.
Schließlich ist es dringend geboten, dem würdigen Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Gelände einen Ort zu geben. Der Bahnhof Märzfeld, von dem aus die Juden aus Nürnberg und Franken 1941 und 1942 in die Vernichtungslager deportiert wurden und an dem im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ankamen, wird zu einem Erinnerungsort entwickelt.
 
Wie wird die Bürgerschaft bei der Entwicklung dieser Vorhaben involviert?
Mit Blick auf eine noch stärkere kulturelle Nutzung der Kongresshalle wurde seit 2019 ein breit aufgestellter partizipativer Prozess durchgeführt, der unterschiedlichste Formate anbot und auch umfassend genutzt wurde – angefangen bei Tagen der offenen Tür über Workshops, World Cafés und Podiumsdiskussionen bis hin zu Eins-zu-Eins-Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern. Die Entwicklung des Lern- und Begegnungsortes Zeppelinfeld und Zeppelintribüne wurde durch eine intensive Debatte vorbereitet und wird in den nächsten Monaten durch partizipative Formate auf mehreren Ebenen begleitet. Vor allem die inhaltliche Dimension des Vermittlungsangebots soll in mehreren Etappen gemeinsam mit dem verantwortlichen Ausstellungsbüro erarbeitet werden. Die Vermittlung kann nur dann gelingen, wenn die Angebote mit den Lebensrealitäten der Menschen zu tun haben.
Wir müssen uns aber auch immer wieder die Frage stellen, wer auf welchem Weg erreicht werden kann. Es ist unsere Aufgabe an dieser Stelle noch mehr in die Breite zu gehen, noch mehr Menschen zu erreichen. Andererseits haben wir in den zahlreichen Formaten die Erfahrung machen können, dass ein großes Interesse an einem offenen und konstruktiven Dialog besteht. Der Lern- und Begegnungsort und die Kongresshalle als Ort der Kunst finden großen Rückhalt in der Bevölkerung – nicht nur in Nürnberg, sondern weit darüber hinaus.
 
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ist 2. Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg mit Geschäftsbereich Kultur. 

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Gelände im Umbruch
In der nächsten Ausgabe setzen wir die Interviewreihe GELÄNDE 
IM UMBRUCH mit Prof. Dr. Hajo Wagner fort, der die 2019 eingerichtete Stabsstelle Ehemaliges RPG, Zeppelinfeld und Zeppelintribüne bei der Stadt Nürnberg leitet. In den kommenden fünf curt-Ausgaben legt er seine komplexe und für die vielen Einzelorte vielfältige Strategie für das Gelände dar und denkt laut über die zahlreichen gordischen Knoten des besten Umgangs mit dem Ort nach. Die Interviews wird Dr. Marian Wild führen – der Kunsthistoriker bei curt.




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