Kleine Ausflüge von Egersdörfer und Jordan 2: In den Genusswelten des Hauptbahnhofs

FREITAG, 1. APRIL 2022, HAUPTBAHNHOF NüRNBERG

#Hauptbahnhof, #Kleine Ausflüge, #Kolumne, #Matthias Egersdörfer, #Michael Jordan

Vor über einem Jahr hat sich der Egersdörfer in sein altes Auto gesetzt und ist nach Tennenlohe gefahren, zum „Walderlebniszentrum“. Dort nahm er sein Notizbüchlein und den Kugelschreiber und ist losgegangen, um zu sehen, was es mit diesem Wort auf sich haben könnte. Der Künstler Michael Jordan aus Erlangen ist Zeichner und Druckgrafiker. Die beiden können sehr gut gemeinsam im Biergarten ohne Eile sitzen, trinken und gelegentlich sprechen. Und so fuhr auch der Jordan einmal in das „Walderlebniszentrum“ nach Tennenlohe und zeichnete dort, was er sah. Der Beitrag erschien in unserer letzten Ausgabe. Das war so gut, das machen sie jetzt öfter: Jordan zeichnet, der Egers macht sich Notizen, und im curt kann man dann erfahren, was hierbei herausgekommen ist.
Durch die Postleitzahl kann man die Orte finden, vielleicht, an die es die beiden Herrn verschlagen hat. Gut, den HBF findet man auch so.

90433 Nürnberg.

Aus langen, schmalen Schlitzen in der Decke drang grellgelbes Licht und erhellte die undurchschaubare Gastronomie-Passage im Bahnhof. In diesem Zwischenreich war schnell vergessen, ob es sich um ein Wunschbild des Tages oder der Nacht handelte. An einer Säulenattrappe hingen zwei schwarz beschirmte Lampen, die das Zwischenreich aus Tag und Nacht illuminierten. Weitere Lichtkuben in verschiedenen Größen verströmten einen mayonnaisefarbenen Fieberwahn. Die Augen der Bedienung sahen knapp über einer schwarzen Maske hervor. Der Kragen ihres weißen Hemdes war mit einer roten Krawatte eng gebunden. Die Stimme der Frau klang leise und gedämpft. Ihre Finger mit den lila Nägeln stellten Getränke auf kleine runde Tische vor den Sitzenden ab, die in die Flüssigkeiten starrten. Ein dumpfes Schlagzeugklopfen rührte durch die Zeitlosigkeit des erträumten Raumes. Darüber versuppte gelangweilter, halbfideler Gesang, Orgelgeklingel und Gitarrenscheppern im Rauschen der Klimaanlage. Die rätselhafte Logik des Raumes war in einem dezenten Mischgeruch aus E-Zigarrendüften, Putzmittel und gegrilltem Fett gehüllt. Menschen bewegten sich in mausbraunen Anoraks, zogen Rollkoffer hinter sich her und trugen Pappbecher in Händen. Ihre schielenden Blicke irrten im Verhau der Architektur. Stockend liefen sie auf dem Holzimitatboden, der sich abwechselte mit einem Grauplattenweg. Dann ließen sie sich nieder auf der plastikgepolsterten Sitzbank. Darauf waren Kissen drapiert mit geometrischen Motiven auf grauem Grund. Die Ruhelosen verharrten stumm, von einer durchbrochenen Holzrotunde umkreist. Abgesägte Birkenäste hingen an Schnüren von der Decke, um die sich durch Plastikefeu rotweiß-karierte Bänder schwangen. An diesen baumelten weiße und braunlackierte Bastgitterherzen. Diese Geäst-Organ-Konstruktionen schwebten wie Menetekel an mehreren Stellen. An der Bar, vor einem kupfernen Braukessel-Blendwerk, unter einem der Launengalgen, saß ein Mann mit seinem Bier und tippte auf seinem Handy, als würde er in den Haaren seines Sohnes nach Läusen suchen. Er trank schluckweise und oft. Behielt kurz die Kleinigkeit im Mund, spülte die Zahnzwischenräume und ließ schließlich die Flüssigkeit den Hals hinunterlaufen. Dann griff er wieder nach dem Glas, saugte die Flüssigkeit daraus, tippte und starrte auf ein Regal mit lauter leeren, braunen Flaschen. An der Wand daneben hing das Bild eines Fachwerkhauses mit spitzem Dach. Fast im selben Farbton der Dachziegel saß vor der großen Fotografie eine ältere rothaarige Frau mit grafisch gelösten Augenbrauen. Aus ihrem beigen Kleid wuchs der Baumhals. Um ihn herum schwang sich schwer eine Silberkette. Ein glatzköpfiger Mann mit Kopfhörern und Tuch um den Hals trank Weizenbier. Er rieb sich die nackte Stirn, schob mit den Fingern Runzelwellen über die Augen. Dabei stierte er in die Unendlichkeit des Nachmittags. Links davor saß ein anderer Mann mit rosiger Haut, getrennt durch eine Säule von einer Brillenfrau. Beide thronten auf kleinen Stühlchen vor ihren Tischchen. Beide winkten sich und gestikulierten stark und deuteten in alle Richtungen. Im Überschwang legte die Dame ihr dünnes Bein auf die Tischplatte. Sofort erschrak sie über sich selbst und blickte sich um, ob sie dabei vielleicht beobachtet worden sei und stellte ihr Körperteil mit Lachen plötzlich ruckhaft auf den Boden. Daneben leuchtete matt die Fototapete vom Meer, Dünenlandschaft mit Leuchtturm und blauem Himmel. Auf der anderen Seite, um die Säule einer schwer zu entschlüsselnden Aufzugmetapher, hatten borstige Männer mit solidem Schuhwerk, wattierten Jacken und zum Teil vielfarbigen Handwerkerhosen Platz genommen. Sie tranken das Bier direkt aus der Flasche.
Sie stupsten und klopften sich gegenseitig die Schultern ihrer kompakten und runden Oberkörper. Sie mahnten einander, wenn einer zu laut wurde. Die Spezialisten verließen zwischendurch die Plätze und kehrten in wechselnden Konstellationen zurück. Wie Felsen standen sie in dieser absurden Landschaft und überragten diese. Und sie holten immer wieder neue Flaschen und brachten immer wieder neue Geschichten und lachten wacker Löcher in die Illusion.

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Matthias Egersdörfer / www.egers.de
Michael Jordan / www.ansichten-des-jordan.de

Egersdörfer war zuletzt in den BR-Radiospitzen zu hören mit seinem Monatsrückblick für den März.

Am 1. Mai um 20:15 kommt der neuen Frankentatort, da profiled Egi auch wieder. Diesmal geht´s um einen toten ITler! Wir hören den Egi schon witzeln: „Der is hi, der vom IT.“ Und: „In der rechdn Hand die Maus, in der linken den Naggdmull – dybbisch IT.“ Naja, so stellen wir uns das vor. Mal sehen!




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HERSBRUCK. Bahnhof FÜRTH

Auf der blauen Himmelsleinwand über dem sandsteinernen Bahnhofsgebäude wurde ein Pinsel mit weißer Tünche immer wieder über die ganze Fläche abgestreift, um die Farbe aus den Borsten zu bekommen. Daneben im grauen Hochhausklotz glotzten die hundert schmalen Fensteraugen in müder Verschlagenheit. Auf den Bahnsteigen hingen blau gerahmte Displays in der Luft und zeigten den Reisenden die nächsten und übernächsten Anschlüsse hin zu anderen Bahnsteigen. Ein Mädchen mit weißen Steinchen im Ohr bewegte die kreidebleichen Turnschuhe mit ihren munter wiegenden Füßen und sprach und lachte mit einer Person an einem anderen Ort. Sanft griff sie in eine lange Strähne und zwirbelte das blonde Haar. Der Mann daneben löste seine Maske vom Ohr und trank vorsichtig aus der Mineralwasserflasche. Ein anderer hielt sich fast klammernd am Riemen der Tasche.

Eine Bahn fuhr heran. Seine Beine liefen zu den sich öffnenden Türen. Er verschwand. Die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr davon. Eine Frau mit gradem schwarzen Scheitel ließ eine Tasche unter dem Hintern nach vorne und hinten baumeln. Sie trug noch einen Beutel über der Brust und einen Rucksack am Rücken, als wolle sie sich von allen Seiten beschweren, um der Gefahr zu entgehen davonzufliegen wie der fliegende Robert. Dann pfiff hinten eine braune Lok, die sogleich geschäftig vorbeirollte, als habe sie im Lotto gewonnen. Dem geduldigen Postgebäude zur linken war ein Lederdach aufgesetzt worden. Wie braune Kappen auf den Köpfen von Knechten die im Viereck, Schulter an Schulter stumpf mit gestrecktem Rücken nebeneinender harren, stand es da und wartete auf Befehle. Direkt davor hatte man schwarze und gelbe Tonnen in einen engmaschigen Zwinger gesperrt. Die Quer- und Längsverstrebungen eines grünen Metallmasten überkreuzten sich im Blick darauf. Mit einer daran befestigten grauen Stangenkonstruktion wurde die elektrische Oberleitung recht aufwendig in die Luft gehalten. Weiße parallele Streifen flankierten im Sonnenlicht die Bahnsteigkante. Der Kabarettist stieg in die nächste Bahn nach Hersbruck ein und setzte sich zum Grafiker, der schon  im Waggon saß.
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MAGAZIN  23.02.2024
AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer

Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen.
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BERLIN. #3 Fortsetzung der Kolumne aus Ausgabe August/September. Teil zwei HIER

Es kann sein, dass sich in meiner Erinnerung diverse Aufenthalte in dieser Stadt vermischen, aber ich bin mir sicher, dass es immer Berlin war. In den 1980er Jahren hatten uns die The-Who-Filme »Tommy« und »Quadrophenia« ganz krass mit der Rockmusik der späten 1960er infiziert. Als 1979 Pink Floyd »The Wall« herausbrachten, mussten wir nicht lange überlegen, ob uns das gefiel. Obwohl wir uns für Dorfpunks hielten, ließ sich die Pink-Floyd-Mucke hervorragend zum Rauch aus gewissen Spaßzigaretten in die Gehörgänge dübeln. Aus heutiger Sicht natürlich kompletter Mainstream und Totalkommerz, aber tscha! War geil.  >>
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