Dem Egers sei Welt #69: Hunger

MONTAG, 4. FEBRUAR 2019

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

Die Frau sitzt vor dem Fernseher. Bereits am Nachmittag sitzt sie vor dem Fernseher. Sauertöpfisch. Sie hat ein Programm eingeschaltet, in dem jetzt laut Programmzeitung ein Kriminalfilm gezeigt werden soll. Auf dem Bildschirm schneit es aber, und es ist lediglich ein stetes Rauschen zu vernehmen. In allen Programmen schneit und rauscht es.

Ich sitze vor dem Schlafzimmerfenster und schaue von dort in den Hinterhof. Mit Absicht habe ich mich ins Schlafzimmer gesetzt. Ich ertrage den Anblick nicht, wie die Frau vor dem Fernseher sitzt, aus dem nur ein Rauschen herauskommt. Ich beobachte eine Amsel, die sich vor mir auf das Fensterbrett gesetzt hat. Sie pickt mit dem Schnabel an den Ästen des wilden Weins an der Hausfassade. Sie verharrt, als lausche sie. Ich verharre hinter dem Schlafzimmerfenster.
Vielleicht beobachtet mich die Amsel, wie ich vor dem Schlafzimmerfenster verharre. Vielleicht verharrt die Amsel, weil sie mich nicht aufschrecken möchte.

Unter Umständen sucht die Amsel an den Ästen des wilden Weines eine kleine Traube, die noch vom Sommer übrig geblieben ist, denke ich mir. Wenn die Amsel keine Traube an der Hausfassade des Hinterhauses findet, muss sie weitersuchen. Vielleicht ist es eine alte Amsel. Unter Umständen ist sie heute schon viel herumgeflogen und hat vergeblich an etlichen Stellen nach etwas Essbarem gesucht. Die Amsel hat Hunger. Die Amsel ist schon panisch und übersieht das halbe Rosinenbrötchen auf dem Gehsteig vor dem Vorderhaus. Die Amseln betreiben keine Altenpflege, denke ich mir. Keine jüngere Amsel sucht für die ältere Amsel eine kleine Weintraube oder gibt ihr ein Stück vom Rosinenbrötchen ab. Selbst wenn die jüngere Amsel das Kind der älteren Amsel ist, würde sie selbst das Schicksal der älteren Amsel nicht berühren.
Im Hinterhof dämmert es. Ich denke noch an die Existenz der Amsel, als es plötzlich dunkel geworden ist vor dem Schlafzimmerfenster. In der Zeitung las ich heute, dass in der Nachbarstadt ein klassisches Konzert gegeben wird. Laut meines Terminkalenders bin ich heute nicht verpflichtet, auf einer Bühne herumzukaspern. Nach der Lektüre der Zeitung am Vormittag beschloss ich, das klassische Konzert zu besuchen und fragte die Frau, ob sie mich begleiten wolle. Sie würde sich die Antwort auf meine Frage noch überlegen müssen, entgegnete sie mir darauf und blätterte weiter in der Fernsehzeitung.

Jetzt drängt die Zeit, weil ich beim Schauen aus dem Hinterhoffenster und beim Denken an die Amsel vergaß, auf die Uhr zu sehen. Schnell nehme ich meinen braunen Cordanzug aus dem Schrank, den ich immer anziehe, wenn ich auf klassische Konzerte, Beerdigungen und Hochzeiten gehe. Ich schlüpfe in die braune Cordhose und frage währenddessen durch die geöffnete Schlafzimmertür, ob mich die Frau zu dem klassischen Konzert begleiten wolle. Die Frau sagt, sie wolle lieber weiter fernsehen. Ich solle mir an meinem freien Tag besten Gewissens die Zeit durch klassische Musik vertreiben. Ob ich schon etwas zu Abend gegessen hätte, fragt mich die Frau. Ich hätte es versäumt und würde erst etwas essen, wenn ich wieder vom Konzert zurück gekommen sei, gebe ich ihr zur Antwort. „Es wird Dir im Magen liegen und Du wirst Dir schwer tun mit dem Einschlafen, wenn Du so spät isst“, sagt die Frau. Ich ziehe mir meinen Wintermantel über mein braunes Cordjacket, unter dem ich ein blaues Hemd trage, und verlasse das Hinterhaus. Ich trete aus der Tür im Vorderhaus. Auf dem Gehsteig liegt ein halbes Rosinenbrötchen.

In der U-Bahn sitzen Menschen und jeder schaut so, als habe er gerade ein kleines Tier mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Ein junger Mann lächelt in den Display seines Telefons und vergisst dabei vollständig die Welt um sich. Irgendetwas scheint er auf dem Display zu sehen oder zu lesen, was ihn erheitert. Bei der nächsten Haltestelle steigt eine junge Frau ein. Vor mir sind zwei Plätze frei. Neben mir ist ein Platz frei. Die junge Frau schaut auf die freien Plätze vor und neben mir. Sie setzt sich gegenüber von mir neben eine Mutter mit mehreren Einkaufstaschen und zwei Kindern. Die Mutter muss die Einkauftaschen zur Seite schieben, damit sich die junge Frau auf den freien Platz setzen kann. Vielleicht habe ich eine verschimmelte Aura oder mir haftet ein Gesichtsausdruck an, als ob ich gerade ein Tier erschlagen habe. Es ist auch möglich, dass in dem Augenblick, als sich die junge Frau neben mich setzen wollte, mein Magen geknurrt hat, denke ich mir.

Ich renne in den Konzertsaal und kaufe schnell eine Karte. In nur wenigen Minuten fängt das Konzert an. Ich setze mich auf meinen Platz. Neben mir sitzt eine Dame, die nach Chrysanthemen duftet. Mein Hunger verträgt sich nicht mit dem Blumenduft. Schon betreten die Orchestermusiker ihre Plätze auf der Bühne. Die Herren und Damen im Publikum klatschen. Ich schließe mich dem Klatschen an. Der Dirigent läuft zu seinem Pult. Die Herren und Damen und ich klatschen. Ich überlege, ob es der Musik gelingt, mich zu sättigen. Ganz sanft fangen die Streicher an, einen leichten Zwiebelsud zu malen. Obwohl der Dirigent ruckhaft mit den Armen die Luft vor sich hin- und zurückzerrt, klingt die Musik jetzt wie warme, karamellisierte Maronen. Ich versuche mich darin, den Klang wie heiße Ochsenschwanzsuppe zu schlürfen, inhaliere aber stattdessen das Blumenwasser der aufdringlichen Sitznachbarin. Die Pauken hauen ein Steak in die Pfanne. Die Bläser brutzeln wie Bratfett dazu. Ich beuge mich vor auf meinem Stuhl und versuche ein Stück herauszubeißen. Stattliche Klöße erheben sich plötzlich vor mir aus dem simmernden Sud. Plötzlich Stille. Der Dirigent fährt sich durch sein schlohweißes Haar. Mein Magen knurrt. Ich sehe mich im Saal um. Niemand klatscht. Man muss höllisch aufpassen, denke ich mir. Die Orchestermusiker kneten einen Teig, kochen Spaghetti, passieren Gemüse, überschütten Vanille-Eis mit heißen Himbeeren, brühen Kaffee und schlagen Sahne dabei. Ruhe. Applaus. Ich schlage meine kalten Handflächen aufeinander. Die Blumenfrau nickt mir zu, als hätten wir gerade gemeinsam ein kleines Tier begraben, das wir zuvor erschlagen haben.

Ich hänge den Wintermantel an die Garderobe, nachdem ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen habe, und betrete das Wohnzimmer. Die Frau sitzt vor dem rauschenden Fernseher, als wäre keine Zeit vergangen. Sie fragt mich, wie mein Konzert gewesen sei. „Die Frau neben mir hat aufdringlich gerochen. Ich hatte die ganze Zeit so großen Hunger, dass ich die Musik nicht verstanden habe. Es ist nicht richtig, mit großem Hunger ein klassisches Konzert anhören zu wollen“, antworte ich Ihr. Ich gehe in die Küche und schmiere mir drei Schwarzbrote mit Butter. Dann lege ich drei Presssack-Scheiben auf das Brot und esse. Ich höre das Rauschen des Fernsehers. Der Sturm in der letzten Woche hat die Satellitenschüssel verdreht. Der Fernseher empfange deshalb keinen Sender mehr. „Ich werde so lange nicht mehr mit dir schlafen, bis der Fernseher gerichtet ist“, höre ich die Frau aus dem Wohnzimmer sagen. Es ist spät. Ich kaue meine Presssackbrote und stelle anschließend den Teller in die Spülmaschine. Presssack, Brot und Butter liegen schwer im Magen. Das Einschlafen fällt mir schwer.


DER FEBRUAR MIT EGERS!
Am 03.02. freuen wir uns auf die „Rückkehr des Buckligen“: Egersdörfer und Gankino Circus im Gutmann am Dutzendteich.
Am 24.02. hat CSI Egers im neuen Nürnberger Tatort „Ein Tag wie jeder andere“ alle Hände voll zu tun, denn diesmal schlägt ein eifriger Mörder im Stundentakt zu (20:15 Uhr, ARD).
Insider: Egers & die Artverwandten treffen sich ab dem 12.04. in der Kellerbühne des E-Werks in Erlangen. Präsentiert, logo, von curt!
Alle weiteren Termine: www.egers.de




 




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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