Dem Egers sei Welt #70: Tagebuch

MONTAG, 4. MäRZ 2019

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

Die Geschichte meiner Schulzeit ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Grundsätzlich zweifelte ich schon an der Legitimation, mit der sich der Lehrer zu nachtschlafender Zeit im Klassenraum hinstellte und ohne Nennung von Gründen sein angebliches Wissen in unsere müden Ohren hinein sprach. Sehr lange haderte ich damit, dass dieser Tentakel des Schulapparates mich permanent zwang, seine Worte zu verinnerlichen. Auch wenn mir die groben Batzen, die in einer dunklen Suppe traniger Zusammenhänge herumschwammen, nicht schmeckten, sollte ich alles hinunterschlucken und auf Nachfragen – zumindest halb verdaut – wieder hervorwürgen.
 

Abgesehen von der Tatsache, niemals ein hungriger Schüler gewesen zu sein, der den Teller der Weisheit bis zum letzten Tropfen auslöffelte und nach der Verinnerlichung von innen heraus hell erstrahlte, bin ich bis zum heutigen Tag froh darüber, dass mir in der Lehranstalt das Lesen und Schreiben beigebracht wurde. Hintereinander gedruckte Buchstabenreihen aus Büchern zu entziffern und zu verstehen, ist heute noch die Leiter, mit deren Hilfe ich bequem aus dunklen Löchern heraussteige. Selbstständig Worte zu verwenden und ganz neue Begrifflichkeiten zu erfinden und in einem Satz aufs Papier zu bringen, hat mich bereits in der ersten Klasse der Volksschule auf Anhieb auf das Höchste erfreut. Es wäre verfehlt, mich einen Meister der Rechtschreibung zu nennen, und die Zeichensetzung passiert bei mir wie das Würzen einer Speise. Ich schütte die Kommata über das Geschriebene und hoffe dabei, dass die Dinger an der richtigen Stelle liegen bleiben.

In einem Setzkasten wurde mir beigebracht mit Holzbuchstaben Wörter und Sätze zu bauen. Gleich nachdem ich die Handlungsweise in groben Zügen verstanden hatte, fing ich an, meine eigenen Geschichten aufzuschreiben. In ein liniertes Heft schrieb ich mit dem Füllfederhalter und freute mich schon allein darüber, dass dasselbe Schreibwerkzeug, mit dem ich am Vormittag gezwungen wurde, Worte und Zahlen aufzuschreiben, die der Lehrer vorgab, jetzt ganz allein den Launen und Lüsten meines Dickschädels gehorchte. Ich zeichnete Geschehnisse auf, die ich der Kluft des Vergessens entreißen wollte. Ich erdachte mir aus Wünschen erbaute Luftschlösser, in denen sich Szenen voller Sehnsucht oder reinstem Blödsinn abspielten. Mein Tagebuch war die Ausflucht aus einer Welt, die mir oft unangenehm war wie ein kratziger, eiterfarbiger Pullover. Das Spiel mit den Worten war in den schönsten Momenten wie eine Expedition an einen Ort, an dem man vorher noch nicht gewesen war. Plötzlich befand man sich in einem unerwarteten Abenteuer und überraschte sich selbst mit den Sätzen, die die eigene Hand mit dem Füller aufs Papier schrieb. Es fühlte sich so an, als hätte sich der eigene Schatten selbstständig gemacht und jongliere im Sonnenlicht mit einer Vielzahl von kleinen Bällen in rasender Geschwindigkeit. Jetzt klingt das alles recht erhaben und wundervoll. Aber anderseits suhlte ich mich auch des Öfteren in einer schmalzfettigen Brühe aus Selbstmitleid und malte mir ein glitzerndes Krönchen des unverstandenen Seins und der unentdeckten Schönheit. Sollte ich einmal bei einem Wettkampf im Schämen teilnehmen, hätte ich in den alten Tagebüchern bestimmt eine fundierte Grundlage, um einen der vorderen Plätze zu belegen.
Mein Tagebuch lag in der Schublade meines Nachttisches. Dort holte ich es am Ende des Tages hervor und schrieb meine Gedanken hinein. Ich zeigte es niemandem. Lange Zeit ging ich auch davon aus, dass auch keiner in meiner Familie überhaupt eine Ahnung davon hatte, dass ich regelmäßig in ein Tagebuch hineinschrieb. Dann passierte es, dass die Mutter in meinem Beisein etwas zu mir sagte, über das ich rätselte, wie sie das wissen konnte. Mir selber kam es so vor, als erzählte sie mir einen verschwommen Traum, den ich einmal geträumt und gleich wieder vergessen hatte. Doch wie ein Knopf, der sich beim Zuknöpfen plötzlich vom Hemd löst, verlor ich mein Rätseln über diesen Vorfall. Dann passierte es aber wieder. Die Mutter sagte etwas und ich stolperte darüber und eine leichte Vermutung wehte den Vorhang meines schlichten Glaubens zur Seite und vor mir lag plötzlich der verlorene Hemdknopf. Am Abend blätterte ich in meinem Tagebuch und fand die Stelle mit den Worten, die ich der Mutter nie gesagt hatte und die sie nur kannte, weil sie heimlich in meinen Aufzeichnungen las. Es war nicht mehr als ein Verdacht, redete ich mir ein, und nahm die Mutter gegen meine Anschuldigung in Schutz. Oder aber die Mutter kramte doch ohne Erlaubnis in meinem Nachtkästchen und las in meinem Tagebuch, wenn ich in der Schule war.

In der Zeit, als der Verdacht über die Mutter in die Welt gekommen war, schrieb ich eines Abends eine prächtige Fantasie über den Wunsch des willentlichen Abschieds aus dieser schnöden Welt in mein Büchlein. Mit dunklen Farben malte ich unheilvolle Wolken, die um meinen freudlosen Kopf schwebten und mir schwer auf die Brust drückten. Einzig hell und hübsch strahlte die Absicht aus der Kümmernis heraus, dieses Jammertal mit einem beherzten Sprung von einer Höhe, die eine endgültige Finalisierung der Existenz garantierte, zu verlassen, oder damit, mir die Adern am Handgelenk zu öffnen, damit das Blut endlich aufhören würde im Kreis zu fließen und stattdessen ein für alle Mal zum Stillstand käme. Mit Lust und Freude hatte ich alles aufgeschrieben und schloss mein Büchlein, legte es in die Schublade meines Nachtkästchens und schlief recht glücklich ein.

Am nächsten Tag ging ich in die Schule. Am Nachmittag besuchte ich einen Freund in der Nachbarschaft. Ganz vergessen hatte ich meine launige Selbstmordphantasie, als plötzlich die Mutter des Freundes unsere Zweisamkeit störte mit der Nachricht, meine Mutter hätte sich gerade sehr aufgewühlt am Telefon gemeldet, ob ich anwesend sei und ob mit mir soweit alles in Ordnung wäre. Ich befand mich noch Mitten in der Tätigkeit des Wunderns, als meine gänzlich aufgelöste Erzeugerin wenig später wie ein Sturmwind ins Zimmer rauschte und mich unter fließenden Tränen und Geheul ganz fest in die Arme nahm und immer wieder schluchzte, wie froh sie sei, dass ich noch am Leben wäre. Ich tat überrascht und fragte voll Mitleid, wie sie denn glauben könne, dass ich ausgerechnet heute Nachmittag meinem Existieren ein Ende setzen würde. Sie sagte, sie habe solche Angst um mich, und als sie dann noch das Schreckliche in meinem Tagebuch gelesen hätte, wäre sie fast erstarrt vor unendlichem Schmerz. Dann schwebte sie glücklich davon, als wäre ich gerade vor ihren Augen auferstanden. Der Freund und ich amüsierten uns noch den ganzen Rest des Nachmittags über die Falle, in welche die verschlagene Füchsin hinein getappt war.


DER MÄRZ MIT EGERS!
Bevor der fränkische Charmebolzen zusammen mit dem Wiener Martin Puntigam den ZuschauerInnen im In- und Ausland nach längerer Pause endlich wieder die ERLÖSUNG bringt, wird am 12.03. zur Auffrischung noch einmal öffentlich im Katana geprobt. Am selben Tag ist Egers in der Satire-Lounge im Hessenischen Fernsehen zu sehen.   [Alle Termine: www.egers.de]
Am 26.03.2019 erscheint Egers neuer ROman seiner Kindheit, veröffentlicht unter dem Titel „Vorstadtprinz“.


 




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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