Dem Egers sei Welt #64: Fahrradtour

SONNTAG, 29. APRIL 2018

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

In der vorausgegangenen Nacht habe ich unverhältnismäßig viel Bier getrunken. Weil zu einem gewissen Zeitpunkt das Bier ausgegangen war, habe ich noch Rotwein zu mir genommen und bin zuletzt noch dem Irrtum anheimgefallen, Schnaps in die Vernunft strafender Weise nachzugießen.

Auf Grund der Menge an Alkohol, die ich überhaupt nicht gewohnt bin meinem Organismus zuzumuten, war der Schlaf nur leicht und unterbrach immer wieder nach unangenehmen Traum- und wirren, halbwachen Gedankensequenzen.

Auf der am nächsten Morgen beginnenden Fahrradtour sollte sich dann herausstellen, dass die Fahrradtaschen mit einer hochgradigen Nachlässigkeit befüllt worden waren. Notwenige Kleinigkeiten wurden schlicht vergessen einzupacken. Dafür fanden sich später Dinge wie Notizbücher, Reiseliteratur und Zahnbürste in doppelter Anzahl in den Taschen. Es empfiehlt sich, Vorkehrungen für eine Reise im nüchternen Zustand und Vollbesitz der geistigen Kräfte vorzunehmen. Wenn ich bemerke, dass das Überziehen von Strümpfen und das Anziehen einer Hose, die auf die Wetterverhältnisse Bezug nimmt, überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch nimmt, wird die Auswahl an Dingen, mit denen man sich auf etwaige Eventualitäten einstellen möchte, schnell zu einem unlösbaren Problem. Die Frau selbst lag noch im Bett – in fester Umarmung mit dem Rausch der letzten Nacht. Die Verabschiedung erfolgte hastig und Stunden später sollte ich mich noch fragen müssen, ob sie überhaupt stattgefunden hatte. Überhastet tappte ich aus der Wohnung. Meine Beine wollten lieber liegen. Mit Mühe stieg ich auf das Fahrrad und fuhr zum Bahnhof.

Mein Fahrradfreund war zu dem vereinbarten Zeitpunkt nicht an dem Treffpunkt innerhalb des Bahnhofgebäudes anzutreffen. Wie ein Affe sprang Nervosität auf meine rechte Schulter. In der Haupthalle lief ich, das Fahrrad schiebend, hin und her und meine Augen suchten aufgeregt den treuen Gefährten. Die Zeit verrann und mein Hals wurde trocken. Die Zugabfahrtszeit drückte wie eine Schirmspitze in meinen Bauch. Im Augenwinkel tauchte der beunruhigte Mann auf. Seine Erleichterung, mich zu sehen, war am Rand leicht angeschimmelt. Meine Ansicht über Ort und Zeitpunkt unseres Zusammentreffens waren nur eine irrende Vermutung gewesen. Wir eilten zum Zug nach Dresden. Beim Einladen des Fahrrades in den Waggon fürchtete ich zu stürzen und mich dabei zu verletzen.

Nachdem wir die Räder untergebracht hatten, setzten wir uns im kurzen Abstand von ihnen gegenüber in das Abteil. Mein Vis-à-vis sagte wenige Worte und atmete mehrmalig hintereinander kräftig aus. Dann war sein Ärger wegen unserem verhunzten Zusammenfinden weggesaugt wie ein winziger Keksbrösel. Ich sprach noch ein bisschen. Am Fenster vorbei rollte die Landschaft hinter meinen Rücken. Meine Augenlieder wurden schwer. Ich murmelte eine halbe Entschuldigung und schon fiel mein Kinn auf die Brust. In fahrigen Gedankenschlaufen schlummerte ich zwischen den Haltestellen. Erhob kurz den Kopf, um dem Freund ins Gesicht zu schauen und Häuser, Straßengrau, Bäume, Strauch und Baumärkte und das Grün der Wiesen unscharf verwischen zu lassen. Ich schloss wieder die Augen und lehnte mich an die Fahrtgeräusche und sank in den moosigen Halbschlaf.

Wir erreichten unseren Zielbahnhof. Nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, suchten unsere Augen Zeichen und Richtung. Wir bestiegen unsere Räder und fuhren los. Wir hielten an. Der Freund sah zurück. Ich sah zurück. Wir fuhren auf dem richtigen Weg am Ufer der Elbe. Die Fahrradkette drehte sich in gleichbleibender Geschwindigkeit über den Radkranz. Sanft traten meine Füße die Pedale. Ich saß im Sattel und fuhr dem Freund hinterher. Über Stunden sah ich den Freund nur von hinten. Manchmal vergrößerte sich unser Abstand. Dann fuhren wir dicht hintereinander. Ich übernahm gelegentlich die Führung. Meistens fuhr der Freund voraus.

Wir erreichten Riesa. Schnell fanden wir ein Hotel, in dem wir übernachten konnten. Ich schloss die Zimmertür hinter mir. Wie ein müdes, dummes Tier glotzte mich der graue Bildschirm des Fernsehers an. Ich öffnete meine Fahrradtaschen und wurde mit den Nachwirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss auf die Zusammenstellung meines Reisegepäcks konfrontiert. Ich nahm mir vor, irgendwo zu notieren, dass ich künftig Koffer und Taschen für Reisen nur noch im nüchternen und ausgeschlafenen Bewusstseinszustand befüllen möchte. Sinnvoll wäre auch eine Liste zu schreiben, auf der stand, welche Dinge man sinnvoller Weise mit sich nahm, wenn man eine mehrtätige Fahrradreise unternahm. In dieser Situation wäre es der ideale Zeitpunkt gewesen, um festzuhalten, was ich nicht eingesteckt habe, was aber hilfreich und nützlich wäre. Ich überlegte, an welcher Stelle ich den Hinweis hinterlegen sollte, aus dem hervorging, dass ich mit dem Saufen erst begönne, nachdem ich Klamotten und Zeug eingepackt hätte.

Ich zog mich aus und überlegte währenddessen, an welchem Platz ich zu Hause die Liste am besten aufbewahren sollte, um sie im Falle einer Reise griffbereit zu haben. Das Wasser lief warm über meinen Kopf, die Schultern und den Bauch. Ich sah einen Ordner vor mir mit beschrifteten Einlegeblättern. Auf einem dieser grauen Bögen stand in blauer Schrift „Reise und Reisevorbereitung“. Das Wasser lief mir über das Gesicht in den Mund. Ich prustete es an die hellen Wandfliesen. Ich beobachtete, wie mir das Wasser an den Beinen entlang zum Abfluss hinabfloss. Nach dem Abtrocknen faltete ich das Handtuch halbherzig und hängte es über die Duschkabine. Nackt lag ich auf dem Bett. Ich schloss die Augen und hörte ein Brummen. Ich hoffte, dass es später nicht brummen würde, wenn ich schlafen wollte. Dann dachte ich, dass das Brummen nicht wirklich stören und mich beim Einschlafen nicht hindern würde, sondern ganz im Gegenteil dem Einschlafen zuträglich sein konnte. Ich grübelte darüber, welche klanglichen Voraussetzungen ein Brummen erfüllen musste, dass ich es als angenehm empfand. An die Liste mit Dingen, die ich auf Reisen mitnehmen möchte, und die Gedankenstütze über die nüchterne Reisevorbereitung verschwendete ich keinerlei Aufmerksamkeit mehr.

Wie Störche auf einer feuchten Wiese liefen wir durch das Städtchen und suchten nach Nahrung. Im Gegensatz zu Meister Adebar, der seinen Blick zum Boden senkt, um einen Frosch zu entdecken, der ihm eine Mahlzeit darstellen könnte, richteten wir unsere Blicke auf Häuserfronten, hinter denen ein Wirtshaus behaust sein mochte, das äußerlich unser Vertrauen erweckte und im Stande wäre, uns ein plausibles Abendessen zu bereiten. Auf unseren Fahrrädern saßen wir über Stunden mit gesenktem Haupt und starrten auf die Fahrbahn. Die aufrechte Haltung strengte jetzt an. Die Füße drückten mal schwerer, mal leichter, in ständiger Wiederholung die Pedale. Mit den selben Körperteilen nun Schritte auf Asphalt zu vollführen, kostete Mühe. Hunger drängelte sich vor unseren Gleichmut.

Die Gaststätte, die wir betraten, war vermutlich vor 100 Jahren einmal schön gewesen. Tische und Stühle waren in einer eindrucksvollen Inszenierung aufgestellt. Ein Schreiner hatte im Gastraum mit einer Konstruktion aus hellem Holz aufwändig die schwierige Beziehung zu seiner verstorbenen Stiefmutter nacherzählt. Die Wände waren in der Farbe des Wahnsinns gestrichen. Über allem hatte man den Zuckergruß der klebrigen, späten 80er Jahre ausgegossen. Aus der Beschallungsanlage schwallte europäische Popmusik und drangsalierte das Bewusstsein. Die in Klarsichthüllen befindlichen Seiten der Speisekarte waren von einem Tintenstrahldrucker ausgespuckt worden. Der Gestalter hatte dabei die Funktion der Mehrfarbigkeit genutzt und fügte großzügig Ornamente zur Auflockerung der umfangreichen Listen von Speisen, Getränken und den dazugehörigen Preisen hinzu. In der Hoffnung, die an Aberglaube grenzte, wünschten wir uns einen gutbürgerlichen Koch, der allen Äußerlichkeiten ungeachtet über den Töpfen wachte. Das Essen war warm. Das Bier war kalt, und nach dem zweiten Glas ist unsere Enttäuschung betäubt gewesen. Das Sitzen, ohne dabei die Beine bewegen zu müssen, fühlte sich an wie eine herzliche Umarmung. Unsere Worte tanzten Ringelreihen. Im aufeinander Hören und regen Austausch von Geschichten vergasen wir, wo wir uns befanden.

(Wird fortgesetzt ...)

UND WAS MACHT EGERS SONST SO IM MAI?
04.05.  / Katzwanger Kulturzentrum
16.05.  / Opernhaus Nürnberg // „Bei Egersdörfers unterm Sofa“
30.05.  / Katana // Egersdörfer und Fast zu Fürth,  „Fürchtet euch nicht Tour 2018“     
31.05.  / Zentralcafé im KuKuQ // Egersdörfer und Fast zu Fürth, „Fürchtet euch nicht Tour 2018“

Noch mehr Termine – außerhalb der Region – unter www.egers.de.
 




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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