Matthias Egers Egersdörfer: Anton und die Frau Keilholz

SONNTAG, 1. MäRZ 2020

#Comedy, #Egers, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

DEM EGERS SEI WELT #80: NACHBARN – KOLUMNE AUS CURT 04-2020.
Anton Kolb war in Gedanken. Er blickte auf seine Schuhe, die über die quadratischen Gehsteigplatten liefen. Er wäre achtlos an seiner Nachbarin vorbeigelaufen, wenn diese ihn nicht gleich zweimal hintereinander gegrüßt hätte. Er hob seinen Blick und grüßte die Dame in ihr faltiges Gesicht mit den rot gemalten Lippen hinein. Die alte Schlitzbier wohnte, seit Anton denken konnte, im Vorderhaus. Er selbst war vor über zwanzig Jahren in eine Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock des Hinterhauses gezogen.

Anton mochte es gern leiden, wie die Zeit verging, wenn er mit der alten Schlitzbier ab und an ein wenig plauschte. „Haben Sie das mitbekommen? Die haben den Keilholz gestern abgeholt“, sagte die Schlitzbier mit hungrigen Augen. Keilholz war der Nachbar, der gegenüber in einem gelben Haus mit Garten wohnte. „Wer hat den Keilholz abgeholt?“, wollte Anton wissen. Frau Keilholz beugte ihren Kopf näher zu Anton. Er konnte die essigsauren Worte riechen, die ihm Frau Schlitzbier leise ins Gesicht sprach: „Ein Sondereinsatzkommando ist gekommen. Die haben ihm einen Sack über den Kopf gestülpt. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Kabelbindern zusammengebunden. Seinen Schlafanzug hat er noch angehabt. Barfuß ist er abgeführt worden. Seine Frau stand in der offenen Haustür und hat laut geweint.“ „Hat er wohl wieder Traktorreifen im Vorgarten verbrannt“, antwortete Anton im Bestreben, die Dramatik, die in den Worten der Frau Schlitzbier lag, ein wenig zu schmelzen. „Wenn’s das nur wär‘. Lieber Herr Anton, denk nur einmal, der wollte mit seinen Freunden eine Moschee wegsprengen und damit einen Bürgerkrieg provozieren.“ „Der Keilholz hat doch keinen einzigen Freund. Der macht doch nix anderes, als jeden Tag, den Gott gibt, einen anderen Baum in seinem Garten abzuhacken und großflächig Chlorophyll zu vernichten.“ Frau Schlitzbier hauchte mit ihrer ganzen inwendigen Säuerlichkeit den Anton an und raunte: „Der soll die acht Mordbuben im Internet gefunden haben. Das Digital hat der Teufel gemacht, Herr Anton. Merken Sie sich das. Das haben die vor einer Stunde im Radio gesagt. Sie müssen das Radio aufmachen. Da bringen die das jetzt jede Stunde. Ich muss jetzt sofort zur Frau Chapla. Der muss ich die Geschichte vom Keilholz erzählen. In ihr Ohr muss ich hineinschreien. Die hört ja so schlecht. So laut kann man kein Radio aufdrehen, dass die Frau Chapla hört, was da gesagt wird.“ Im Weggehen vernahm er noch, wie die Frau Schlitzbier noch sagte: „Das Internetz, das ganze Digital hat der Teufel gemacht.“

Anton ging im Hinterhaus in den ersten Stock hinauf, sperrte auf und trat in seine Wohnung. Er schloss die Tür, hängte seinen Mantel an den Garderobenständer, zog seine Schuhe aus und schlüpfte in seine Hausschlappen. Dann betrat er die Küche und schaltete das Radio auf dem Kühlschrank ein. Es ertönte leicht ranzige Schnulzenmusik mit oberbayerischem Gesang. Er schaltete das Radio wieder ab und atmete erleichtert in die angenehme Stille aus. Anton ging ins Wohnzimmer. Dort rückte er den kleinen Fußschemel vor den mit weinrotem Stoff überzogenen Ohrensessel, der in der hinteren linken Zimmerecke stand. In diesem Sessel hatte er schon als kleiner Bub, eingewickelt in eine flauschige blaue Decke, gelegen und genüsslich an seinem Daumen gesaugt. Mit einem flüchtigen Halbgedanken berührte er sacht diese Erinnerung, so wie man im Vorbeilaufen einem liebgewonnenen Freund kurz über die Hand streicht, und ließ sich auf der weichen Sitzfläche des Fauteuils nieder. Er setzte sich seine Kopfhörer auf. Jetzt war die Welt plötzlich still. Das Ticken der Wanduhr und das Rauschen des Windes vor dem Fenster drangen nicht mehr durch die Hörmuscheln in seine Ohren. Anton nahm sein Mobiltelefon zur Hand und aktivierte die Bluetooth-Verbindung. Dann drückte er für einen längeren Moment mit seinem Daumen auf einen Knopf am Kopfhörer. Das Gerät war nun eingeschaltet und hatte sich mit dem Handy verbunden. Anton aktvierte die Anwendungssoftware seines Musikstreamingdienstes und wählte eine Aufnahme von Bruckners 9. Symphonie aus. Er hatte von diesem Mitschnitt über eine Empfehlung des Radiosenders seines Vertrauens gehört. Jetzt lächelte er kaum wahrnehmbar, glücklich über sein angenehm gepolstertes Sitzen und den Umstand, dass für eine gute Weile niemand irgendwas von ihm verlangen würde. Flüsterte anschließend noch ein kurzes „Ach, Gott“, was an keine Person gerichtet war und was er mit den überdeckten Trommelfellen kaum selbst wahrnahm. Die Symphonie begann in seine Gehörgänge zu fließen. Anton schlüpfte mit seinen bestrumpften Füßen aus den karierten Pantoffeln heraus und setzte selbige auf die Fußbank. Dann legte er seine Arme auf die Lehne und schloss seine Augen. Es brauchte keine vierzehn Takte von Bruckners Tondichtung und Anton hatte die Schlitzbier, Keilholz, das Digital und darüber hinaus sämtliche ungeklärten Belange seiner in weiten Teilen sehr abgesicherten Existenz hinter sich gelassen wie einen durchgestrichenen Ortsnamen auf einem Schild, an dem ein liebesberauschter Held in drängendem Verlangen auf dem Motorrad vorbeisaust.

Er versank feierlich und misterioso in den ersten Satz in D-Moll. Die Streicher intonierten, und mit ihrem Tremolo blieb nur sein bewegungslos ruhender Leib auf dem roten Sessel im Zimmer zurück. Erst sah er hinter seinen geschlossenen Augen nur eine schwarze Fläche, und es erschien ihm nicht unangenehm. Mit der weiterführenden Erzählung des Orchesters wurde eine Abfolge von Bildern in das Dunkel seines Innersten projiziert. Ein zartes Leuchten wie von einem Glühwürmchen tanzte in zarten Schlaufen durch die Dunkelheit seines Schädels. Allmählich steigerte sich aus dem schaukelnden Kreisen ein Glimmen in der Größe eines Teelichts. Und überschlingerte eine glänzende Wasserfläche. Sprang weiter und spiegelte sich im Glanz eines feuchten Tropfsteines. Immer mehr blähte sich das schunkelnde Leuchten und sprang in weiten Bögen vor graugelben Sandstrand über einen Höhlensee. An dessen Rändern wuchsen bizarr geformte Stalagmiten in ewige Höhen. Das Leuchten schwoll an mit der Musik und Anton ließ seinen Blick schweifen in dem riesigen Dom eines unendlichen Höhlensystems mit hohen Kaminen und sich immer weiter verschachtelnden Steinsälen. Ein Taktwechsel erklang und die unterirdische Halle aus Stein verschwand. Er hörte wieder allein die Musik von Bruckner, bis plötzlich wie aus dem Nichts eine Herde goldgeschmückter Giraffen bedächtig und mit erhobenen Häuptern auf der Straße seiner Einbildung einherging. In ihrer stolzen Anmut sahen sie geflissentlich darüber hinweg, dass sie an den Seiten von dicht sich drängelndem, jubelndem Volk bestaunt und leidenschaftlich gehuldigt wurden. Ernste Bären marschierten im nicht nachlassenden Beifallsturm der Männer, Frauen und Kinder. Eine Horde wilder Affen sprang in roten Pluderhosen hinterdrein. Einer schnappte einem Kind blitzschnell eine Rassel aus der Hand und verschwand im Tanz der Tiere. Zuletzt kam der Elefant. Mit gemäßigten Schritten lief er heran. Am Rücken befestigt war ein goldener Thron, auf dessen Lehne eine Bachstelze saß mit einem zartlänglichen, goldenen Krönchen auf dem kleinen Kopf. Im Rhythmus der Schritte des Dickhäuters flatterte das Vögelchen immer für einen kurzen Moment in der Luft. Diesem Zug der Tiere schloss sich eine dutzendfache Wiederholung von dramatischen Sonnenaufgängen an. Im zweiten Satz sah Anton drei Weinbergschnecken im Wettkampf über ein giftgrünes Wellblechdach rasen. Immer wieder wechselten sich seine Bilder mit dem reinen Klang der Musik ab. In seinem Traum der Musik stand er dann vor einem mächtigen Kühlschrank und öffnete diesen und staunte über die stattliche Aneinanderreihung von kleinen Fläschchen mit Tabasco. Es gab nicht nur rotes und grünes. Er entdeckte auch blaues, braunes, weißes und sogar ein goldleuchtendes Fläschchen der scharfen Chilisauce. Die sonstigen Fächer des Kühlschranks waren allesamt sauber und leer. Anton bückte sich und konnte von dort aus in die Unendlichkeit blicken und sie begreifen. Die Bildphantasien, die Bruckner mit seiner 9. Symphonie in Anton weckte, endeten mit der Vorstellung, dass der Kaiser von China in vollem Ornat auf einer ansonsten komplett menschenleeren Kirchweih alleine und ernst seine Runden im Autoscooter drehte.

Anton setzte die Kopfhörer ab und dachte an die Frau Keilholz. Immer, wenn er sie auf der Straße oder im Laden traf oder sie sich kurz über den Gartenzaun unterhielten, ging es um das Wetter. Die Keilholz konnte endlos über sämtliche Wetterlagen sprechen. Sie analysierte die aktuellen klimatischen Bedingungen lang und ausführlich. Sie ließ dabei die Rückschau der Witterung der letzten Wochen nicht außer Acht. Sie wagte Prognosen, beurteilte Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Oft war Anton vor dem Zaun gestanden, hinter dem sich das gelbe Haus befand, und hatte gerätselt, wie viel diese Frau Keilholz über die Witterung sprechen konnte, ohne ein Ende zu finden.

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DER MÄRZ MIT EGERS:

Frankentatort #6! Am 1. März um 20:15 Uhr begibt sich CSI-Egersdörfer wieder als Leiter der Spurensicherung auf Spurensuche: „Die Nacht gehört dir“– klingt wie ein traditionelles curt-Motto!
Am 10.03. um 20 Uhr laden Egersdörfer & Artverwandte erneut auf der Kellerbühne im Erlangener E-Werk ein. Mit dabei wie immer Carmen und Bird Berlin, wohingegen die Gäste sich noch nicht bekennen möchten. Präsentiert von curt! Tickets online unter curt.reservix.de.
Mehr Infos + Termine, nur weiter entfernt oder weiter in der Zukunft: egers.de.




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