Reportage: Hier bin ich Mensch, #3

SONNTAG, 1. NOVEMBER 2015

#Flüchtlinge, #Mensch, #Reportage

Thomas und Johannes haben das Foto-Interview-Projekt „Hier bin ich Mensch“ gestartet: Sie treffen Flüchlinge in den Aufnahmestellen, interviewen sie und laden sie zum Shooting ein. Die Bild- und Wortstrecke wird exklusiv in curt veröffentlicht. Im dritten Teil der Serie berichten wir von Taye, 29, aus Afrika.

Intro

Man hat mir gesagt, wenn man fest an etwas glaubt, dann wird es wahr – dann erfüllen sich Träume. Was, wenn diese Träume Albträume sind – oder dazu werden?
Was, wenn der Glaube selbst zur Gefahr wird? Der Glaube an Gott, an ein besseres Leben – und der Glaube an mich selbst? Und was, wenn ich mit meinem Glauben nicht nur mich, sondern auch andere in Gefahr bringe? Menschen, die mir helfen, die sich kümmern, auf die ich angewiesen bin.
Auf mir liegt ein tiefschwarze Decke aus Ungewissheit – gefüllt mit bleischwerer Angst. Wenn ich aufstehe nehme ich die Decke überall mit hin – und meine Albträume. Sie lässt sich nicht mehr abschütteln, sie ist ein Teil von mir geworden.
Es ist auf Dauer zu schwer, um mit der Decke zu laufen, zu lernen – zu kämpfen. Ich habe das über ein Jahr versucht. Deshalb bleibe ich jetzt einfach liegen – unter meiner tiefschwarzen Decke, unter der bleischweren Angst.
Jeden Tag hoffe ich, dass mir jemand diese Last abnimmt, dass jemand sagt: „Du darfst bleiben, Taye!“, oder von mir aus auch: „Herr ööh ... wie schbrichd ma etz den aus? ....Taye, bitte begleiten Sie uns. Sie werden erst verlegt – und dann abgeschoben.“

Manchmal wäre ich gerne unsichtbar.
Ich würde einfach gehen, niemandem zur Last fallen, mich auflösen und federleicht davon schweben – unsichtbar bin ich ja fast. Würde das Bett, in dem ich liege, nicht so viel Platz in dem kleinen Raum mit den anderen drei Betten einnehmen, ich nähme keinen Platz ein. Weder in diesem Raum – noch im Leben anderer oder der Gesellschaft.
Ich würde jeden noch mal besuchen, der mir geholfen hat, dem ich dankbar bin, der meine Decke in der letzten Zeit zumindest kurz aufgeschüttelt hat. Ich würde um Verzeihung bitten, wo ich um Verzeihung bitten muss. Ich würde das Kreuz mitnehmen, das um meinen Hals hängt. Schon mein ganzes Leben – das Zeichen meines Glaubens. Es hat mich oft in Gefahr gebracht, aber es gehört zu mir – auch wenn ich mich auflöse.
Unsichtbar werden. So wie der Flüchting in Schweden, in dem anderen Heim, in dem ich war. Der ist eines Abends gegangen – in den See gleich hinter dem Heim. Ich habe ihn nie wieder gesehen.



Taye hat Angst um seine Familie in der Heimat und um die Menschen, die ihm dort geholfen haben die Papiere zu bekommen, mit denen er die Flucht nach Europa bewerkstelligen konnte – daher möchte er sein Herkunftsland nicht genannt wissen. Afrika sollte ausreichen, da wir seine Geschichte mit der Ankunft in Deutschland beginnen wollen. Sie zeigt nämlich, dass auch in der vermeintlichen Freiheit die Sorgen noch lange nicht vorbei sind. Und das Gefängnis, das ihm in seiner Heimat droht, manchen Flüchtling auch hier stets umgibt.

Da Taye offizielle Papiere und ein Visum hatte, war die Reise nach Europa für ihn zunächst der einfachere Abschnitt seines Weges. In Deutschland angekommen sollten die Schwierigkeiten erst beginnen.
Ursprünglich war Deutschland nur ein Zwischenstopp. Verwandte in Schweden waren das eigentliche Ziel seiner Reise. In Frankfurt mit dem Flieger gelandet, ging die Reise über München und Kopenhagen weiter nach Schweden. Asyl hat er erstmals dort beantragt, würde er dort jedoch nicht erhalten, da er in Deutschland das erste Mal europäischen Boden betreten hatte. Und das, obwohl er in Schweden Familie hat, die ihn unterstützen will, sowohl materiell, als auch Fuß zu fassen und ein neues Leben zu beginnen. Das Einzige, was er jedoch in Schweden erfuhr, war die Unterbringung in einem großen Auffanglager irgendwo im Nirgendwo und der Bescheid, dass er schnellstmöglich nach Deutschland zurück gebracht werde. Es ging also wieder zurück. Erst in die Nähe von Hamburg, dann weiter in den Süden. Registrierung in Zirndorf und nach zwei Nächten dort in ein großes Auffanglager in einem ehemaligen Möbelhaus in Fürth. Dort sollte er 21 Nächte bleiben. 21 Tage und Nächte. Auf engstem Raum, mit hunderten anderen Menschen. Privatsphäre nur durch ein zwischen den Feldbetten gespanntes Tuch. Keine Aufgabe, keine Beschäftigung für ihn. Nichts, was dem Tag Struktur geben würde. Selbstverständlich war dort die Atmosphäre immer wieder einmal angespannt. Unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich. Doch Taye war alleine und hatte sich schon auf der gesamten Reise zur Gewohnheit gemacht, sich aus allem herauszuhalten und sich unsichtbar zu machen. Denn seit seiner Ankunft in Europa wusste er, dass nun endlich alles zu einem guten Ende käme. Wenn nicht in Schweden, dann zumindest in Deutschland. Hauptsache in Freiheit, ohne Repressalien und ohne Angst. Angst hatte ihn sein gesamtes Leben lang begleitet. Was sollten ihm da drei Wochen in einer großen Halle unter Menschen, die letztendlich auch nichts anderes als er wollten, schon anhaben?

Ein großes Wohnhaus mit Menschen und Familien aus aller Herren Länder wurde dann sein neues Zuhause. Man lebte dort miteinander und versuchte alles geregelt zu bekommen, was mit den ersten Schritten in der neuen Heimat verbunden war. Dort traf er auch auf ein paar Jungs, ungefähr in seinem Alter und ebenfalls aus Afrika. Man teilte sich ein Zimmer zu viert und verbrachte sehr viel Zeit miteinander. Zeit hatten sie alle erstmal mehr als genug. Gemeinsam verging sie schneller und man konnte sich austauschen und gegenseitig Halt geben. Angst hatte er nun keine mehr. Sie ist der Zuversicht, nun endlich eine Perspektive und eine neue Heimat gefunden zu haben, gewichen.

Auch, weil es hier Menschen gab, die ihm bei seinem Neustart im fremden Land helfen wollten. Zunächst organisierte eine Betreuerin im Heim alles, was man benötigte, koordinierte Behördentermine und half nicht zuletzt auch beim Ausfüllen der in Deutschland obligatorischen Formulare. Aber auch aus der Bevölkerung erhielten sie Unterstützung. Eine pensionierte Lehrerin bot für Flüchtlinge ehrenamtlich einen Deutschkurs an. Zumindest bis es auch von offizieller Seite eine Integrationsmaßnahme gab. Die ersten Schritte fielen also mit der Unterstützung zahlreicher Menschen einigermaßen leicht.

Die verbleibende Freizeit nutzte Taye, um sich umfassend zu informieren. Im Internet, im Fernsehen und natürlich auch auf Facebook, nahm er alle verfügbaren Neuigkeiten auf über die Lage in der Heimat, über die Situation der Flüchtlinge in Europa und natürlich auch die Lage in seiner neuen Heimat. Von Pegida hatte er gehört, den Demonstrationen, den Brandanschlägen und auch den Übergriffen. Das waren aber nur Nachrichtenmeldungen. Seiner Gewissheit, nun endlich angekommen zu sein, tat dies keinen Abbruch. Natürlich verfolgte er auch die Politik in den Medien und tauschte sich darüber auch mit Freunden und anderen Vertriebenen aus. Plötzlich war von einer Asylrechtsverschärfung die Rede. Negative Gedanken und Sorgen zogen wie graue Wolken auf. Könnte das Auswirkungen auf ihn haben? Denn auch wenn in seinem Heimatland kein schrecklicher Bürgerkrieg tobte wie ihn Syrien, Verfolgung, Inhaftierung und Militärzwangsdienst bedrohten ihn dort dennoch bereits sein gesamtes Leben. Dies sollte aber zukünftig nicht mehr ausreichend sein um in Deutschland Asyl zu erhalten. Sorgen wurden einmal mehr zu seinen stetigen Begleitern. Er konnte sich nicht von ihnen befreien und sinnierte den ganzen Tag darüber, was wohl auf ihn zukommen würde.

Inzwischen durfte Taye eine Integrationsmaßnahme besuchen, dort wurde ihm und anderen Flüchtlingen Deutsch und grundlegende Dinge aus dem Lebensalltag und der deutschen Arbeitswelt vermittelt. Aber wie sollte er sich für den deutschen Lebensalltag interessieren, wenn ihm doch wieder der finstere Alltag in seinem Herkunftsland drohte?

Selbst harmlose Fragen der Kursleiter nach seinem erlernten Beruf lösten bei ihm sofort wieder Erinnerungen und minutenlanges vor sich hin Starren aus. Im Sprachkurs war er oft nur physisch anwesend. Dabei hatte doch der privat organisierte Sprachkurs gezeigt, dass er durchaus Talent hat, Deutsch zu erlernen. In der Integrationsmaßnahmen kam er aber nicht richtig voran. Es ist nicht leicht, einer fremden Sprache zu folgen, wenn die Gedanken wahlweise an der Vergangenheit oder in einer düsteren Zukunft hängen. Hier und jetzt fiel es ihm schwer, die Ängste auszublenden. Aber es gab auch verständnisvolle Kursleiter, die ihm rieten, an der frischen Luft zur Ruhe zu kommen, durchzuschnaufen und den Kopf frei zu bekommen. Auf einer Bank im Park sah Taye ältere Menschen ihren wohlverdienten Ruhestand genießen und bekam ein schlechtes Gewissen. Weil er dachte, er stünde ihm noch nicht zu, in der Sonne zu sitzen. Er müsse sich dies zuerst noch verdienen und zusehen, dass er hier schnellstmöglich Arbeit bekäme. Dazu müsste er aber im Integrationskurs endlich funktionieren. Und mit diesem selbstgemachten Erwartungsdruck wurde es dann im Kurs noch schwieriger für ihn. Immer häufiger kamen düstere Gedanken auf, blockierten, lähmten ihn geradezu.

Seit die Asylrechtsreform beschlossene Sache ist, hat Taye jeden Optimismus verloren. Er hat nur noch wenig Hoffnung, in Deutschland eine Zukunft aufzubauen und sein Leben hier glücklich fortzuführen. Vielmehr rechnet er nun täglich damit, von der Polizei abgeholt und in ein Abschiebelager gebracht zu werden. Er ist verzweifelt, sucht unentwegt nach Möglichkeiten, zumindest eine Duldung und Bleiberecht zu erhalten. Ließe man ihn doch sein Studium hier abschließen. In seiner Heimat stand er kurz vor dem Masterabschluss. Hier müsste er zwar von vorne anfangen, aber das wäre kein Problem. Er würde alles auf sich nehmen, erhielte er die Chance. Aber auch abseits der akademischen Laufbahn würde er jeden Strohhalm ergreifen. Noch einmal ganz von vorne, ganz unten beginnen. Eine Ausbildung, einen gänzlich neuen Berufsweg einschlagen. Ob sich aber ein Unternehmen fände, welches bereit wäre, diesen Weg mit ihm zu gehen, wenn er doch spätestens mit Abschluss der Ausbildung wieder von der Abschiebung bedroht wäre? Taye glaubt nicht daran.
Generell fällt ihm schwer, noch an überhaupt etwas zu glauben. Nach allem, was er bisher durchmachte, nach den Hoffnungsschimmern, war nun alles düster und bedrohlich. Einem schwarzen Loch gleich, das ihn vollständig umschließt und keinen Ausweg lässt. Dabei ist ja ein Ausweg das Letzte, was er sich wünschte. Er will hier ja nicht raus. Er will bleiben, ein eigenes Leben beginnen, auf eigenen Beinen stehen, sich seine eigene Zukunft erschaffen und gestalten.

Doch bevor er sich an die Zukunft macht, muss er die Gegenwart irgendwie geregelt bekommen. Sich und seine Gedanken sortieren, sich aus den depressiven Löchern ziehen, in denen er manchmal sitzt.

Denn seine eigenen Gedanken werden so zu einem Gefängnis. Das Gefängnis in seinem Kopf, schlimmer als das drohende Gefängnis in Afrika, schlimmer als das Gefängnis im Abschiebelager. Dabei ist Taye doch gerade nach Deutschland gekommen, um endlich frei und ein Mensch zu sein.


WEBSITE: Hier bin ich Mensch

THOMAS BÖNIG
Fotograf
Ob mit der Leica in Bosnien, in einem New Yorker Hinterhof oder im grellen Licht des Studios – Thomas Bönig fotografiert immer mit einem klaren Motiv: Er zeichnet eine Stimmung und komponiert daraus ein Bild.
thomasboenig.com

JOHANNES MODI
Autor
Blogger Johannes Modi beschäftigt sich mit dem Zwischenmenschlichen. Beziehungen, Konflikte und Emotionen mit einer Prise Ironie und Selbstkritik sind die Zutaten für seine literarische Speisekarte.
herrschaftsseiten.com

MARTIN PEICHERT
Kameramann
Martin, als langjähriger Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk, folgt dem Projekt mit seinen bewegten Bildern. Seine Erfahrung und technische Präzision garantieren eine hervorragende Dokumentation.




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#Flüchtlinge, #Mensch, #Reportage

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