„Töt´ erst sein Weib“: Beethoven im Dokuzentrum

9. JUNI 2016 - 29. JUNI 2016, DOKUMENTATIONSZENTRUM

#Dieter Stoll, #Kritik, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Nebenan in den weiten Hohlräumen des Nazi-Colosseums hatten 2009 die aussterbenden Zeitzeugen mit dem Text von Peter Weiss´ verdichteten Auschwitzprozess-Protokollen zum Ortstermin Nürnberg gebeten. Es war eine lange nachwirkende Gedenkmarsch-Inszenierung von „Die Ermittlung“ durch Kathrin Mädler, die jetzt grade als Intendantin in Memmingen antritt. Stefan Otteni rückt mit seiner bis nach Guantánamo reichenden Verlängerung eines hausgemachten Extrakts von Beethovens „Leonore“-Experimenten (vor dem Einrasten ins heute gängige „Fidelio“-Opernformat) in der backsteinrohen Ausstellungshalle des Dokuzentrums nicht bloß räumlich nah an dieser Erinnerung – er bleibt auch nahe bei sich. Der Regisseur suchte in den letzten Jahren immer wieder mit der Aufhebung der Sparten den neuen Blick. In Nürnberg zuletzt mit einer Schauspieler-„Bohème“, einem von Gegenwart bedrängten Händel-„Judas Maccabäus“, kürzlich in Bamberg in der Verbindung von Theater und Symphonikern für einen Befund „Von deutscher Seele“. Otteni setzt auf offene Grenzen.
 

Der Spielort, die Institution am ehemaligen Reichsparteitagsgelände, wo der Größenwahn noch im Verfall an der Fassade klammert, hatte auch architektonisch die eindeutige Antwort gefunden. Wie ein Pfeil bohrt sich der neue Eingang des Dokuzentrums in die alte Gebäudehülle. Wer zur Uraufführung der „Leonore“-Adaption „Töt´ erst sein Weib“ über die Treppe aus der Gegenwart in die fixierte Vergangenheit schreitet, betritt mehrere Dimensionen von Geschichte. Nicht nur die anmaßende von Ideologen, auch die zeitweise hilflose beim Umgang mit deren Resten. Das aufklärerische Musik/Theater-Projekt und seine Verfolgung von Spuren politischer Gefangenschaft bis  in die Gegenwart passt da geradezu unheimlich. Es wird durch weit gestreute Zitate belegt, aber ein Spiel soll und will es ja trotzdem bleiben.

Der Weg des Zuschauers führt, sobald er die Simulation von Sicherheitskontrolle überstanden hat, durch ein Labyrinth von Gefängniskäfigen. Einzelzellen im Grundriss Guantánamo, hinter deren Maschendraht die Opfer mit verbundenen Augen kauern. Auf einer Seite der langgestreckten Halle sind die jungen Musiker (das Orchester der Hochschule unter der befeuernden Leitung von Guido Johannes Rumstadt) platziert, daneben und gegenüber wandert das Publikum mit kleinen Hockern entlang am Randplatz der Ereignisse. Zu sehen sind irritierend bekannte Szenen, schaukelnd auf der Kippe zwischen Nachrichtenlage und Kunstverklärung. Eine Frau sucht ihren verschwundenen Mann, wohl ein Opfer der politischen Machthaber. Es ist nicht Leonore, sondern „die Frau“ von heute, die nicht akzeptiert, dass ein Mensch einfach verschwinden kann. Die Schauspielerin Elke Wollmann drängt als nahe kommende Leitfigur vorbei an den pathetischen Stillständen der Handlung (die Text-Bearbeiter unterbrechen die Klänge unwillig, wenn sie voreilig abzuheben versuchen) und findet zur Partnerschaft der Ermutigten mit  der Opernfigur (Margarita Vilsone). Ein suggestives Bündnis von zwei Frauen gegen den Rest der Welt, das in der Kunst siegt und in der Realität zerrinnt. Wenn am Ende Florestan von und für Leonore befreit ist, zieht die Frau der Gegenwart allein weiter mit ihrem Vermissten-Suchbild. Sie war nicht im kurz aufgeblendeten Fokus der Macht.

Stefan Otteni, zusammen mit Kai Weßler und Christina Schmidl für die in Zitaten schärfende Neufassung verantwortlich (dazu psychisches Folterverhör, das wie Waterboarding in Wortgewalt wirkt), hat auch Arien zur besseren Schlagkraft umgestellt und die brave Vaterfigur Rocco mit dem verbrecherischen Kommandanten Pizzarro zum vereinigten Prototyp Biedermann & Bösewicht umgebastelt. Damit überfordert er den Sänger und die Zuschauer. Anders als den Gefangenen Florestan (Sunggoo Lee), der 90 Minuten lang tapfer hoch droben an der Decke der Halle im Netz zappelt, buchstäblich im Geflecht der Ungerechtigkeit, und dann nicht nur die große Arie sondern auch das karge Wort der Wahrheit ergreift. Nicht, dass es viel nützen würde. Da musste das Publikum schon vorher aufstehen und Nelken fassen, weil „der Minister kommt“, und die frohe Botschaft vom faulen Kompromiss mitbringt. Von da an mag der Regisseur, der für die Niedlichkeiten der spielopernseligen Glücksbeschwörung milden Spott hatte (die Familienidylle rollt als fahrbares Rasenstück herbei), nicht mehr auf seinen Nachschlag an Staatsverdrossenheit verzichten. Der Politiker lädt am Staatsmannsmikrophon ein paar Floskeln aus dem echten Fundus unserer Bundesregierung ab, verschwindet schnell wieder und überlässt den Bürokraten das Feld. Die Gefangenen werden zurück in die Käfige getrieben, der Wachmann sagt achselzuckend „Ich hab´ die Regeln nicht gemacht“. Blackout. Der Jubel vom holden Weib wieder demnächst in diesem Theater.

Es ist eine ergreifende, manchmal versonnen abdriftende, am Ende verzweifelnde Aufführung. Statt „Fidelio“-Hoffnungsfanfare der Sturz ins Ungewisse. Aber halt, „die Frau“ hat alles fotografiert und protokolliert – sie wird nie nachgeben.

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Musiktheater-Kritik von Dieter Stoll
für das Berliner Kritiken-Portal „nachtkritik.de“

www.nachtkritik.de

Töt´ erst sein Weib
Musik-Theater nach „Leonore“ von Ludwig van Beethoven
Regie: Stefan Otteni
Musikalische Leitung: Guido Johannes Rumstadt

Termine
09.06.2016, 19.30 Uhr
16.06.2016, 19.30 Uhr
17.06.2016, 19.30 Uhr
26.06.2016, 19.30 Uhr
29.06.2016, 19.30 Uhr
 




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