Die unerfüllbare Sehnsucht nach dem grünen Licht

SAMSTAG, 1. FEBRUAR 2020

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Kulturkommentar, #Opernhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Warum es (auch weiterhin) so schwer ist, Karten für die Nürnberger „West Side Story“ zu bekommen: irritierte Gedanken über Produktionskosten, Besucherquoten und Millionensubventionen am Staatstheater, und an welchen Zahlen man den Aufschwung messen kann.

Bühnenerfolge haben manchmal schmerzhafte Nebenwirkungen, dagegen helfen weder Dramaturg noch Apotheker. Kann es denn wirklich sein, dass eine derzeit von Interessenten geradezu überrannte Aufführung am Nürnberger Staatstheater der gefühlt größte Publikumserfolg seit Jahren ist und dabei gleichzeitig wie eine latente Gefährdung für die allgemeine Stimmungslage und die akute Etat-Bilanz des Hauses wirkt? Tatsächlich ärgert sich mancher Theaterfreund und wohl jeder gezielt suchende Gelegenheitszuschauer, der per quellender Mundpropaganda oder Kritikerlaudatio auf die Opernhaus-Produktion von Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“ aufmerksam wurde, nachdem er seit Wochen und schon für die nächsten Monate vergeblich um Karten für eine der Vorstellungen bemüht ist. „Alles grau“, sagte mir kürzlich eine mit den Raffinessen der Website-Farbenlehre im Online-Vorverkauf vertraute Stammbesucherin im Tonfall aufkeimender Verbitterung, nachdem sie im Elektrospielplan ein Dutzend vergeblicher Klicks auf der Suche nach dem sehnlichst erwarteten grünen Lichtsignal für freie Plätze abgesetzt hatte. „Derzeit nicht verfügbar“ durfte sie allenfalls immer wieder lesen, sofern nicht alternativ das verflucht trügerische Wort „Restkarten“ nach einem Moment der Hoffnung bloß eine geradezu höhnisch geringe Anzahl unzumutbarer Einzelplätze mit frustrierender Sichteinschränkung am seitlichen Rang anbot.

SIEBEN VORSTELLUNGEN IN VIER MONATEN

Warum, fragten inzwischen mehrere Leute aus dem elastisch erweiterten Bekanntenkreis, die mich schon lange verdächtigen, irgendwie bei allen Problemen der Nürnberger Bühnen mit meist überflüssigem Geheimwissen dienen zu können, warum also wird ein derart populäres Stück von einer (ich zitiere) „doch schließlich öffentlich finanzierten Bühne“ denn nicht einfach viel öfter gespielt, wenn (noch`n Zitat) „der Bürger“ so eindeutig danach verlangt? „Passiert ja selten am Theater, dass in diesem Bereich die Nachfrage das Angebot dauerhaft übertrifft“, hängte einer dann als sachkundig sarkastisch klappernde Zustandsbeschreibung dran, was als erste Stufe von Volkszorn zündbar sein könnte. Wahr ist, dass die seit Ende Oktober so außergewöhnlich begehrte und durchweg bis auf den letzten Armesünderplatz ausverkaufte „West Side Story“ jetzt im Februar gerade ein einziges Mal im Spielplan auftaucht und in den drei Folgemonaten inklusive Mai insgesamt karge sechs Termine am Opernhaus ankündigt. Chancen? Gering!

HOFFNUNGSLAUF AM SOMMERLOCH

Erst kurz vor der Saisonpause im Juni und Juli, wo Intendanten ringsum sowieso im Bannfluch von Freilichtfestivals und Biergartenfesten alljährlich haareraufend gegen das drohende Sommerloch im Parkett ihrer Häuser kämpfen, sollen drei bzw. fünf schon jetzt buchbare Aufführungen die dann vermutlich grade bedenklich nach unten wackelnde Gesamtplatzausnutzungsquote retten. Denn der zweite Teil der laufenden Opernhaus-Saison steckt voller künstlerischer Ambitionen und somit (das ist nicht Publikumsbeschimpfung, sondern -beschreibung) unberechenbarer Akzeptanz-Risiken. Was wird angenommen, wo lauert der Flop, wer soll bei Pfingstferienabwesenheit der Schulplatzmiete-Abordnungen die Lücken schließen? In Vorbereitung und ab März bis Ende Juni im Premierenangebot sind dem Abonnenten nämlich völlig unbekannte Musiktheater-Titel wie Ausgrabungen („Der Dämon“ des Russen Anton Grigorjewitsch Rubinstein) und Uraufführungen (des Katalanen Hector Parras „Die Wohlgesinnten“) neben gediegener Softmoderne des 20. Jahrhunderts (Benjamin Brittens „Peter Grimes“) und dem Entertainment-Experiment mit in Deutschland chronisch unterschätzter britischer Opern/Operette (Arthur Sullivans „Die Piraten von Penzance“) – und da braucht es im Gegengewicht dringend Sicherheiten, obwohl sie nicht nur lieb, sondern auch teuer sind.
Es ist kompliziert, stimmt, und dazu ein wenig schlicht. Aufführungsrechte für die gängigen Broadway-Shows von gestern und heute sind schwierig auszuhandeln, die Tantiemen-Anteile bei den Einnahmen der laufenden Vorstellungen werden von den Verlagen nach Weisung ihrer rechtehabende Auftraggeber höher angesetzt als in Fällen aus dem gängigen Standardrepertoire. „Der Vogelfänger bin ich ja“ oder „Da geh ich zu Maxim“ ist unterm Strich günstiger als „Maria-Maria-mariamaria“. Dazu kommt, dass die längst nicht mehr auf das dauerhafte Doppelspiel von Oper und Operette trainierten Solisten des ohnehin nur noch bedingt „fest“ engagierten Ensembles, die inzwischen selbst mit den holzgeschnitzten Dialogen von Wiener Schmäh und Berliner Revue offenkundig unlösbare Umsetzungsprobleme haben, in den meisten Musicals bei der gleichgewichtigen Kombination von Gesang, Wort und Tanz einfach chronisch überfordert sind. Was nichts daran ändert, dass die Öffentlichkeit solche Produkte aus der örtlichen Kulturfabrik unnachsichtig einfordert, teils wohl sogar als tragenden Beweis für „modernes Musiktheater“ einstuft. Der vorherige Nürnberger Intendant Peter Theiler holte, beflügelt von Sonderzuschüssen einer großzügigen Mäzenin, solche importierten Dauerlutscher-Leckerli (wie „Funny Girl“, „Sweet Charity“ und „Silk Stockings“) aus versunkenen Broadway-Epochen und setzte die in prädentale „Allmächd“-Komik umgeleitete Nürnberger Mundartfassung von „My Fair Lady“ wie eine Innovationsbehauptung dazu. Auch er buchte für das Oldie-Sortiment kostspielige Gäste, und sei es manchmal auch solche aus Fürth.

DAS SIND JA 160 MARK!

Also muss der planende Prinzipal Jens-Daniel Herzog, der schon im Vorjahr zur Startsaison als Signal seines vorhandenen Willens zum gezielten Leichtsinn das weniger erfolgreiche und somit nicht von Zugaberufen bedrängte „Catch me if you can“ als eines der teuersten Produktionen in der Bilanz stehen hatte, für den Sonderposten „Entertainment“ reihenweise Spezialisten einkaufen. Singende Tänzer und swingende Musiker, die gegen Honorar und Spesen erst zu den mehrwöchigen Proben und dann für jede einzelne Vorstellung anreisen. Selbst das bei inzwischen sehr staatstheatralisch stolzen Komfortpreisen für diskutable  Plätze von mehrheitlich zwischen 65 und 82 Euro (meine sparsame Mutter selig hätte da spontan erwogen, zu sagen: Das sind ja 160 Mark!) komplett ausverkaufte Opernhaus würde mit jedem zusätzlichen Musical-Termin auf diese Weise weitere große Lücken ins hochsubventionierte Millionen-Budget reißen, denn die Tagesausgaben sind mit den möglichen Einnahmen nicht annähernd gedeckt, wenn das halbe Ensemble aus allen Teilen des Landes anreisen muss. Natürlich geht das innerhalb des komplexen Finanzierungssystems aus Einnahmen und Ausgaben, den zufließenden Geldern aus Steuerzuschüssen und Eintrittsgebühren gegen die abfließenden Summen für Gagen nebst Produktions- und Verwaltungskosten, letztlich auf Kosten der Anderen, der weniger Populären. Doch eben diese stützt es zumindest atmosphärisch dennoch gleichzeitig durch die buchhalterisch belegbare Steigerung beim kalkulierten Kassensturz-Soll und nach Prozenten projizierten Zuschauerzahlerwartungen in der Endabrechnung. Hundert Prozent sind hundert Prozent, ganz gleich wie teuer das Erfolgserlebnis erkauft ist. Absurd, aber Theater.

DIE SEIFENBLASE VOM STÄDTISCHEN MUSICALTHEATER

Wir erinnern uns ja mit absolut subventionsfreiem Vergnügen, dass es im Rathaus einst populistisch abgefederte Bestrebungen gab, aus dem alten Hauptpostamt am Bahnhof einen Nürnberger Musicalpalast zu machen – koste er, was er wolle. Was den Bochumern ihr geschäftig rollender „Starlight Express“ und den Oberbayern ihr von Pleite zu Pleite singender „König Ludwig“, hätte in Franken, so sagte zumindest ein vermutlich gut erfundenes Spottgerücht, demnach beispielsweise ein dauerhaft springender „Eppelein von Gailingen“ sein sollen. Vielleicht. Keiner konnte damals einigermaßen sicher ausschließen, dass solche kommunalpolitisch befeuerte, kulturpolitische Millionen-Albträumchen am Ende sogar auf Kosten des Stadttheaters und seines ganz anders aufgestellten Kulturauftrags realisiert würden. Intern stand das unter meinungsführenden Stadträten zeitweise zur Debatte. Die Seifenblasen sind rechtzeitig geplatzt, wir vermerken es in weiter anhaltender Dankbarkeit.
Vergleichsweise sind die am jetzigen Staatstheater integrierten Musical-Hotspots denn doch eindeutig die bessere Lösung. Inzwischen wird dort aktuell mit spitzem Stift gerechnet, ob man sich – parallel zum deutschen Kinostart von Steven Spielbergs Hollywood-Wiederverfilmung Ende dieses Jahres – am Richard-Wagner-Platz entgegen der bisherigen Planung eine zusätzliche, also zweite Saison mit der Live-„West Side Story“ leisten kann, ohne die Finanzierung schon langfristig beschlossener neuer Musical-Produktionen zu gefährden. „Jesus Christ Superstar“, ein weiteres Erfolgserlebnis des Nürnberger Intendanten während seiner vorherigen Dortmunder Opernhaus-Amtszeit, stünde ja schließlich auch noch an.

AUCH NORA UND STRAWINSKY HABEN AUSVERKAUFTES HAUS

Was die sonstigen Erfolgsmarkierungen der verschiedenen Sparten zur zweiten, in der Regel für Perspektiven der amtierenden Chef*innen besonders wichtigen Saison eines neuen Staatstheater-Teams betrifft, gibt es da momentan unterschiedliche Wahrnehmungen. Goyo Monteros „Strawinsky“-Ballett ist so ausverkauft wie jedes Musical (er arbeitet allerdings schon ein Jahrzehnt in Nürnberg, acht Jahre länger als seine Kollegen), die Nachfrage fürs Konzertprogramm von Joana Mallwitz, der ersten Generalmusikdirektorin der Stadt, explodierte geradezu im Vergleich zu den Jahren der soliden Vorgänger Marcus Bosch und Christof Prick. Die Oper hingegen steht noch direkt vor der Bewährungsprobe, das immer und überall wegen der generell als kritischer einzuschätzenden Kundschaft nah am Krisenmodus positionierte Schauspiel kämpft um neues Stammpublikum, nachdem ein Teil des alten in Folge der ästhetischen Kurskorrektur murrend ausblieb.

Für 18. Juli 2020, wo nach Planungsstand von heute „zum letzten Mal“ die begehrte „West Side Story“ am Opernhaus angeboten wird, gibt es dieser Tage bereits den zeitig angelaufenen Vorverkauf und sogar noch freie Plätze nahe der Bühne zu 82 Euro. Die besten im erschwinglichen Bereich der Blickmitte, offiziell zwischen 38 und 57 Euro im Angebot, sind allerdings 22 Wochen vor dem angekündigten Abschied schon wieder weg. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was meine Mutter dazu gesagt hätte.


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DIETER STOLL, Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ.
Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theaterkritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
Aber auch dort gibt es willkommene Überraschungen, etwa den anhaltenden Kassenerfolg für Ibsens eigentlich als spröde geltende, im flotten Regiedesign aber entdramatisierte Komödien-„Nora“ und die etwas verspätet einsetzende Anerkennung für die mutig satirische „Kaspar“-Inszenierung nach und über Peter Handke. Ballett und Schauspiel haben den Vorteil, dass sie ihre Erfolge unbefangen auswerten können – da kommen die Beteiligten nahezu komplett aus dem fest engagierten Ensemble und stehen für Zusatzvorstellungen allzeit bereit.


 




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