Lieblingslieder bis zur Höllenfahrt

DONNERSTAG, 1. MäRZ 2018

#Dieter Stoll, #Kultur, #Opernhaus, #Schauspielhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Am Nürnberger Staatstheater beginnt eine Endrunde: wie die scheidenden Chefs von Oper, Orchester und Schauspiel ihren Nachruhm sortieren, während der Ballettdirektor schon die nächste „Dekade“ ansteuert.

Nun beginnen sie also zu verrinnen, die Nürnberger Restlaufzeiten. Nur noch ein paar Monate, aber dann Ende der Fahnenstange: Staatsintendant Peter Theiler zieht den eigenen Karriere-Sehnsüchten auf den Wogen klingender Hochkultur nach Dresden ins Hoheitsgebiet von Christian Thielemann hinterher. Generalmusikdirektor Marcus Bosch steigt, nachdem er nicht gleichzeitig Münchner Professor und Nürnberger Philharmoniker-General sein durfte, nun um auf individuellen Amts-Dreisprung zwischen München (Musikhochschule), Heidenheim (Opernfestspiele) und Rostock (Philharmonie). Schauspieldirektor Klaus Kusenberg schiebt den frisch eingetroffenen Rentenbescheid beiseite und macht den Oberpfälzer Spartenchef in Regensburg. Der kippende Domino-Effekt, den die drei Herren damit unter ihren ungesicherten Mitarbeitern am Richard-Wagner-Platz auslösten, ist nicht mehr aufzuhalten. Ob die diffuse Stimmungslage, die am rasant auf den Wendepunkt zusteuernden Staatstheater grade etwas torkelnd zwischen Trauerfall-Elegie und Kehraus-Trotz schwankt, am Ende zu eindeutigen Freudensignalen kommen kann, ist noch völlig offen. „Aufgeräumt“ wird sie im Juli vor dem scharfen Knick zur neuen Zeit auf alle Fälle sein – und dieser Begriff kann ja extrem unterschiedliche Bedeutungen zwischen Anmaßung und Entspannung haben.

REGIE-DAUERLAUF CONTRA ORGANISATIONS-KUNST

18 Jahre Nürnberger Schauspieldirektion von Klaus Kusenberg haben ihr Finale, das ist tatsächlich die längste Amtszeit seit Menschengedenken im mehrfach umgebauten Haus am Richard-Wagner-Platz. Weder Gründungszeit-Begleiter Hesso Huber (16 Jahre) noch Rettungskommando-Anführer Hansjörg Utzerath (15 Jahre), die zweifellos wichtigsten Chefs in der Anstalts-Chronik, erreichten diese Qualitätsstufe von Verweildauer ganz. Nebenan im Opernhaus, wo seit Jahren immer wieder die nächste Sanierungszwangspause und in diesem Zusammenhang zwischendurch gerne auch mal radikale baupolizeiliche Schließung des ganzen Gebäudes angedroht wurde, ist der Atem kürzer. Da kommen die 18 Dienstjahre allenfalls durch mathematische Übungstricks zustande: Peter Theiler, der Staatsintendant und Operndirektor, bei dem in den letzten Jahren begehrliche Seitenblicke nach dem Chefposten im heimatlichen Basel vermutet wurden, zieht nach zehn Spielzeiten in die andere Richtung ins gesellschaftspolitisch etwas angekratzte Touristen-Mekka der Semperoper, bleibt in Nürnberg damit also zwei Jahre hinter dem Amtszeitsumfang von Vorgänger Wulf Konold zurück. Marcus Bosch, der Generalmusikdirektor und Philharmoniker-Frontmann, gibt nach acht Spielzeiten mit unterdrücktem Groll auf, wird so in der Präsenz annähernd deckungsgleich mit seinen Vorgängern Philippe Auguin und Christof Prick bleiben.

Wirklich vergleichbar ist die Arbeit der drei derzeitigen Leitungsfiguren auf Abruf ohnehin nicht. Während Kusenberg als inszenierender Spartendirektor vom Regiepult aus (40 Eigenbau-Inszenierungen vom Chef persönlich bei rund 250 Fließband-Produktionen zwischen 2000 und 2018) ein hausväterlich mildes Regiment führte und Bosch zwischen Konzertprogramm und Opern-Höhepunkten immer auch gegen die beklagte Trägheit der öffentlichen Wahrnehmung mit der eigenen, markanten Musikerhandschrift paraphierte, war der nicht inszenierende Theiler ganz Manager, konzentriert auf den exklusiven Akzent der Organisationskunst. Er kaprizierte sich auf Entdeckungen und leitete sie meist elegant in sein Programm um: Außergewöhnliche Sänger (wie Vincent Wolfsteiner, Rachael Tovey, die aus Gelsenkirchen mitgebrachte Hrachuhí Bassénz und Antonio Yang), profilfreudige Reise-Regisseure (der Sachse Peter Konwitschny, der Spanier Calixto Bieito, die Italienerin Laura Scozzi, auch der Österreicher Georg Schmiedleitner vom Schauspiel-Stammplatz nebenan), viele komplett übernommene Musteraufführungen zum Nachstellen (aus Basel, Toulouse, Wien, Paris, Bordeaux, Graz), redlich vorsichtiges Bemühen um zu Unrecht verdrängte Komponisten, aber gar nichts aus der Gegenwart, das prägend in Erinnerung geblieben wäre. Und zum Amüsement neben dem Comic-Naschwerk aus koloraturverziertem Jux vor allem nostalgische Musicalshows mit dem soliden Facharbeitercharme von gestern (wie etwa in dieser Saison von den eingekauften Entertainment-Spezialisten Gaines Hall und Thomas Enzinger).   

DIE ABSCHIEDS-POLONAISE SETZT SICH IN BEWEGUNG

Schon in den nächsten Wochen beginnen in allen Häusern die inoffiziellen Abschiedsfestspiele. Da sollte man, um die Höhepunkte zu erwischen, rechtzeitig im eigenen Terminkalender Seiten blockieren. Noch im März (genauer Termin in Arbeit) wird ein Film als Kunstwerk über Kunstwerker Premiere haben, der im Auftrag des Hauses wie ein flimmerndes Multimediadokument die vorsortierte Bilanz der 18+10+8-Ära verarbeitet. Er wird auch für die Allgemeinheit verfügbar ins Netz gestellt, soll also in der www.-Ewigkeit gegen den naturgemäß schnell verblassenden Ruhm mit aller Videokraft anleuchten. Anschließend setzt sich die Live-Polonaise der letzten Grüße in Bewegung.
Die Oper kann mit der Bewältigung von Zimmermanns „Die Soldaten“ (sechs Vorstellungen mit je 200 Mitwirkenden zwischen 17. März bis 23. April) das künstlerisch wie finanziell denkbar anspruchsvollste Projekt, womöglich sogar den Höhepunkt des Jahrzehnts, an der Spitze platzieren und mit der Spalier-Gala „Addio del passato“ am 30. Juni die Protagonisten der überschaubaren Theiler-Ära (es moderiert der Chef persönlich) zum letzten Arien-Gewitter versammeln. Im Schauspielhaus überlässt der Direktor seinem ehemaligen Vize Frank Behnke (jetzt Schauspieldirektor in Münster und im Vorjahr hier mit „Terror“ für einen fetten Publikumserfolg gut) die ultimative Demonstration von Ensemble-Dichte vor dem Auflösungsprozess. Er wird mit vielen Darstellern, die zum größten Teil nächste Saison nicht mehr in Nürnberg engagiert sind, also quasi in der Balance zwischen Feuern und Feiern, die immer wieder faszinierende Shakespeares-Komödie „Wie es euch gefällt“ inszenieren (20 Vorstellungen vom 14. April bis 18. Juli). Maßgeschneiderte Schlussrunden-Extras im Revue-Geschenkpapier folgen: Erst die hausgemachte Uraufführung „Raumstation Sehnsucht“ mit ewigen Lieblingsmelodien der Beteiligten als Sturmgepäck der großen Gefühle im fabulierten Satelliten-Kreislauf (12 Vorstellungen vom 2. Juni bis 19. Juli), wo das Reisefieber nach Aussage der kofferpackenden Autorinnen den Aufbruch ins All ebenso betreffen kann wie den Umzug nach Fürth. Wir verlassen uns vertrauensvoll auf Theatermusikerin Bettina Ostermeier (siehe „Ewig jung“), dass uns dabei niemand „Atemlos durch die Nacht“ führt. Dann der abendfüllende Quittierungsseufzer aus dem Direktionsbüro „Glück gehabt“ (am 20. und 21.  Juli) mit der verwegenen Schnelldurchlauf-Rückspiegelung von 18 Spielzeiten. Zur ebenfalls sangesfrohen, aber eben auch „sehr persönlichen“ Vollversammlung des Ensembles, sind „Überraschungsgäste“ früher Jahre eingeladen. Melanie Wiegmann, die einstige „Margaretha di Napoli“ von 2000 und spätere Reisende in diversen deutschen Stage-Musicals, wird hoffentlich den Urlaubsschein bei der ARD-Soap „Sturm der Liebe“ schon eingereicht haben.

Zwischen den auch als Basis-Programmatik oder Traum-Zustandsbeschreibung tauglichen Titeln „Wie es euch gefällt“ und „Glück gehabt“ verlangt wohl auch schon die neue Ära jenseits der Bühne auf einer Pressekonferenz mit eigenem Slogan nach Aufmerksamkeit. Spätestens Anfang Mai werden der noch in Dortmund beschäftigte 55-jährige Staatsintendant Jens-Daniel Herzog (seine ziemlich gut gelungene „Tosca“-Inszenierung von 2011 kehrt wie zum Anwärmen der Intendanz zufällig im Juni in den Opern-Spielplan zurück – damit hat auch er schon mal „Glück gehabt“), die vermutlich direkt von hessischer Gastarbeit an der Seite der Frankfurter „Lustigen Witwe“ namens Marlis Petersen anreisende, noch Erfurter Orchester-Generalin Joana Mallwitz (32) und der zuletzt mit Oper in Amsterdam beschäftigte Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger (37) ihre ersten Spielpläne samt den neuen Ensembles vorstellen.

„HIER BIN ICH UND HIER BLEIBE ICH!“

Dazwischen klinkt sich selbstbewusst Ballettchef Goyo Montero ein, souverän aus extraordinärer Sonderstellung eines gleitenden Übergangs-Propheten. Der von Prinzipal Theiler 2008 als Nachfolger von Daniela Kurz installierte Choreograph, kann als Einziger aus dem Ur-Team weiterhin in Nürnberg bleiben und ansonsten inmitten der Wehmutproben seiner Kollegen ungerührt das schlicht „Dekade“ (fünf Vorstellungen von  23. Juni bis 2. Juli ) genannte Intermezzo-Jubiläum mit eigenen Terminen im unausgesprochen triumphalen „Hier bin ich und hier bleibe ich – Yes Sir!“ gegen die allgemeine Selbstauflösung positionieren. Mit wechselnden Gästen als mobiles Sahnehäubchen auf der Werkschau will auch Montero punkten – er empfiehlt den Fans, die in den zurückliegenden Wochen seine letzte Opernhaus-Produktion „Dürer‘s Dog“ geradezu stürmten, schon jetzt mehrfachen Besuch.

WILDE TÖNE UND WUNDERKERZEN-ORGIE

Orchester-Chef Marcus Bosch, der vor acht Jahren mit riesigen Willkommensplakaten am Hauptbahnhof überschwänglich empfangen wurde und dann alsbald erkannte, dass die spröden Franken samt ihren artgenossenschaftlichen Kulturpolitikern auch in der Maestro-Verehrung meist haushälterisch bleiben, setzt den eigenen Schlussdoppelpunkt sehr pointiert künstlerisch herausfordernd und  hingebungsvoll populär. Für Verdis „La traviata“ eilt er (vom 17. April bis 20. Juli) nach den anspruchsvollen Raritäts-Serien von „Idomeneo“-Mozart und „Soldaten“-Zimmermann für elf abrundende Herz/Schmerz-Vorstellungen der Kameliendame ans Opernhaus-Pult, schließt in der Meistersingerhalle am 13. Juli die Folge seiner Philharmonischen Konzerte mit einer radikalen Höllenfahrt zwischen Zimmermann und Mahler (der groteske „König Ubu“, durch vier Jahrhunderte Musikgeschichte rasend, gar mit dem beißhemmungslosen Matthias Egersdörfer als teuflischen Moderator, dazu die revolutionär ansetzende „Auferstehungssinfonie“, die im Schlusssatz so „wild herausfahrend“ und danach gleich „wieder zurückhaltend“ sein soll wie das die Gesellschaft von ihren Künstlern erwartet) und gönnt sich hinter der Überschrift „Letzte Dinge“ noch den allerletzten Befreiungsschlag auf der grünen Wiese ganz anders: „Summertime“ am 22. Juli im Luitpoldhain, ein sommerabendfüllendes Gershwin-Konzert vor vermutlich 70.000 Zuhörern mit der integrierten Wunderkerzen-Orgie für laufende Facebook-Rankings. Die massenhaft beglaubigte Versöhnung von E(rnster)- und U(nterhaltungs)-Musik als Nachlass wäre auch nicht schlecht.

Was denn nun im Rückblick das Beste war? Im Schauspiel Handke und Jelinek, Shakespeare und Schiller oder Ayckbourn und Kusz? In der Oper die allgegenwärtigen Heroen Mozart, Verdi und Wagner oder doch die Hausfavoriten Donizetti und Rossini? Beim gut abgehangenen Musical etwa „Funny Girl“ (Opernhaus) oder eher die stückgewordene Party der „Rocky Horror Show“ (Schauspielhaus)? Man müsste glatt Hitparaden basteln. In einer der nächsten CURT-Ausgaben beispielsweise.

Wenige Wochen vor dem Ende und mittendrin im melancholischen Aufruf zum „Feste Feiern“ kann sich das Kusenberg-Schauspiel übrigens nochmal seine überregionale Bedeutung offiziös bestätigen lassen. Wenn es denn ehrgeizig genug ist in der Mobilisierung seiner letzten Kraftreserven. Bei den Ehrenpreisen der alljährlichen Bayerischen Theatertage, wo die festen Institutionen des Freistaats nach eigenem Ratschluss etwas aus dem laufenden Spielplan in den Wettbewerb schicken, hat das Nürnberger Ensemble immer wieder (und unterm Strich vergleichsweise am meisten) mit einzelnen Schauspielern und kompletten Aufführungen abgeräumt. Für 23. Juni besteht Hoffnung, da werden bei einem Festakt die Auszeichnungen für die Auslese 2017/18 vergeben. Und ein Nürnberger Beitrag zum Umweltschutz wäre dabei obendrein denkbar, denn man könnte die Sieger-Urkunden mit der U-Bahn heimwärts transportieren – das 36. Festival von Bayerns Bühnen vom 6. bis 23. Juni findet nämlich in Fürth statt.
 




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