Jonas Hassen Khemiris Comedy-Drama = [ungefähr gleich]

13. DEZEMBER 2015 - 18. JANUAR 2016, STAATSTHEATER

#Dieter Stoll

 
Ob es wirklich 177 Rollen sind, wie es der zur Begrüßung des Publikums vorgeschickte Schauspieler gleich mal ranschmeißerisch in die Runde plaudert, wird wohl niemand mitgezählt haben. Die Großzügigkeit des Autors, der „beliebig 4 bis 20“ Darsteller zur Bewältigung seines auf 26 miteinander verzahnte Szenen verteilten Textes vorschlägt, wirkt auch so übermenschlich genug.

Der 37-jährige Schwede Jonas Hassen Khemiri, studiert auf Wirtschaftswissenschaft und Literatur und daheim längst eine Größe, lässt in seinem sechsten Theaterstück unter dem lustvoll irritierenden Hohn-Titel „= [ungefähr gleich]“ seine Wissensquellen gegeneinander sprudeln. Er entwirft das Kaleidoskop einer Welt, in der die allerheiligste Ökonomie der Kosten/Nutzen-Rechnung jedem Gläubigen irgendwann die Tür öffnet – am liebsten die Falltür.

„Ich stürze“, jammert der junge Uni-Professor auf Albtraum-Basis und findet sich unvermittelt real in der auf Optimismus geeichten Dozentenrolle wieder, wo er seinen Studenten die Weltwirtschaftslage in goldener Floskel-Währung erklärt. Viel später, kurz vor dem Ende, wird er zweifeln und am Pult vergeblich zum Widerstand aufrufen, ehe er bei den letzten Worten wieder zu seiner sehr spezifischen Fallstudie mit imaginärem Börsencrash-Hintergrund zurückkehrt. „Man muss nur springen“, sagt er da heimtückisch lebensberatend, denn: „Es gibt keinen Boden“.
Bis dahin ist es in diesem Stück ein weiter, zumindest unüberschaubarer Weg, wo am Straßenrand die Passanten nach Prototypen Spalier stehen. Etwa der Hoffnungsträger, der „Zweitbester“ an der Abendschule war und im Jobcenter am buchstäblich gesichtslosen Staat scheitert, neben der vom  Leben am Biohof spinnenden Verkäuferin (die einstweilen klaut) und dem unverwüstlich „wohlerzogenen“ Obdachlosen, der das originelle Betteln mit wechselnder Leidensgeschichte als Geschäftsmodell betreibt. Mümmelnde Omas und quengelige Kinder treten auf, Freistilkämpfe mit inneren Stimmen werden wie für einen Comicfilm ausgetragen, kopflose Monster reden herzlose Sprüche. Die große Suche nach dem Glück, ohnehin am uneingeschränkten Vertrauen aufs Rubbellos klebend, hat allenfalls im prüfenden Blick auf Leute, denen es „noch schlechter“ geht, weiterreichende Stabilität.

Dabei begann es mit einem Auftritt aus fernen Jahren in ganz anderer Dimension, dem Zeugnis des ab 1828 mit dem Patent der Kakaopresse zu Europas Naschwerk-König aufsteigenden Casparus van Houten. Der milliardenschwere Holländer (klar: sofort grüßt Rudi Carrell) wird herbeizitiert, weil er nach 14 Jahren schwach entöltem Erfolg „in ein schwarzes Loch gefallen“ war, die Firma verkaufte und fortan neben der „Formel für den größtmöglichen Unterhaltungswert“ auch den „Lockruf der Tauchenten“ untersuchte. Sein inzwischen zumindest anteilig aktualisierungsbedürftiges Theorem übermittelt die Lehre sachkundiger Investition für den  Kauf von Unterhaltung statt drohender Lebenskraftverschleuderung für Vergängliches wie Schokolade und Theater. Die gruppendynamische Aufforderung ans Publikum, die Kosten ihrer Eintrittskarten (bitte aktuell am jeweiligen Abend einzusetzen) mit dem intellektuellen Mehrwert der Vorstellung gegenzurechnen, gehört zum Originaltext.

Mutig ist das schon, denn das Ergebnis kann der Autor kaum vorhersehen. Liest man seinen Text, bleibt man bis zur letzten Seite unsicher, wie laut in diesem Räderwerk der durchaus pathetischen Miniatur-Dramatik die Satire tickt. An der Deutschlandpremiere am Thalia-Theater, wo van Houten als lebender Schokoriegel in Begleitung von Miss Piggy auftrat, wurde die grelle Komik kritisiert – und tatsächlich kämpft drei Monate später auch die Nürnberger Produktion, etwas behutsamer freilich, mit der Comedy-Eigendynamik der Vorlage als wären`s lauter Gongschläge.

Der in Wien lebende Regisseur Christian Papke, seit der vorigen Spielzeit vom Stammsitz Nürnberg aus für das durch Osteuropa ziehende, sehr ernsthafte Dramenwettbewerbs-Festival „Talking About Borders“ zuständig, verfällt dem Komödianten-Charme der Schauspieler (Karen Dahmen, Bettina Langehein, Thomas L. Dietz und Christian Taubenheim - allesamt trittfest in jeder Pointe) bis es fast zu spät ist. Zwei Drittel der Vorstellung im erweiterten Fitnessraum schleudern rasende Drehungen des Jux-Karussells die Tragik in jeder Runde wieder aus der Bahn. Dann wird der Schalter plötzlich umgelegt, auf eine Stunde ungebremster Heiterkeit folgen per Notbremsung 35 Minuten Betroffenheitsstillstand. Der amüsierte Blick auf den unausgeschlafenen „Traum vom Leben“ erlischt, der bestens gelaunte Zuschauer fühlt sich ertappt. Inwieweit da ein besonders doppelbödiges Konzept dahintersteckt oder Jonas Hassen Khemiri einfach den härteren Zugriff einer eher brutalen als verspielten Groteske braucht, wird von Hamburg über Nürnberg nun an die Berliner Schaubühne zur weiteren Bearbeitung durchgereicht.

In Nürnbergs BlueBox wurde die Aufführung bei der Premiere gefeiert als ob sie tatsächlich die begehrte Unterhaltungswert-Formel gefunden habe. Die Direktion scheint sich nicht ganz so sicher zu sein, sie schiebt Ende der Woche Michael Frayns Edel-Klamauk „Der nackte Wahnsinn“ nach.


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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Internet-Portal nachtkritik.de (Berlin)

www.nachtkritik.de

= [ungefähr gleich]

von Jonas Hassen Khemiri
Regie: Christian Papke
Premiere: 13.12.2015 in der BlueBox des Schauspielhauses Nürnberg

www.staatstheater.nuernberg.de

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Termine

Dezember 2015
15.12.2015, 20.15 Uhr
19.12.2015, 20.15 Uhr
27.12.2015, 20.00 Uhr

Januar 2016
09.01.2016, 20.15 Uhr
13.01.2016, 20.15 Uhr
18.01.2016, 20.15 Uhr
 
 




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#Dieter Stoll

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STAATSTHEATER. Wenigstens die Premiere kommt noch vor dem zweiten Lockdown. So hatte sich das Nürnberger Staatstheater seinen Besetzungs-Coup sicherlich nicht vorgestellt, trotzdem ist die Regiearbeit von René Pollesch in Nürnberg natürlich das Highlight der Saison. Am Freitag feiert Take the Villa and Run! Premiere, am Samstag, 31.10., ist das Stück ein zweites Mal zu sehen. Theaterkritiker Dieter Stoll schreibt im Vorfeld:   >>
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