Flüchtlinge in der Oper: Muss das denn sein?

SONNTAG, 1. NOVEMBER 2015

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Theater

Es ist wieder da – das Kopfschütteln als Kommentar zum Theater, welches grade erneut - nach der langen Sommerpause offenbar mit frischen Kräften – vorlaut in der gehärteten Legierung von Kunst & Realität argumentiert. Flüchtlingsmassen zwischen Heldentenor und Dramatischer Sopranistin auf der Nürnberger Wagner-Bühne, erst fast erdrückt von der niederfahrenden Plattform der herrschenden Gesellschaft, dann mit dem hoch über die Köpfe gestemmten Rettungsschlauchboot als Stimmungskiller bei der Gibichungen-Party, schließlich sehnsüchtig mit plattgedrückter Nase an den Schaufenstern des Wohlstands. „Muss das denn sein?“, fragt die seit Jahrzehnten abonnierte Opernfreundin beim Pausensekt: „Müssen die Flüchtlinge jetzt überall vorkommen?“

MUSS DAS DENN SEIN?

Zu Beginn jeder Saison, wo die im Planungsstadium theoretisch entstandene „Leitkultur“ der Spielzeit mit geballter Premierenladung faktisch vorgestreckt wird, pflegt auch das Publikum seine Gedanken neu zu sortieren. Oder manchmal nur wiederzubeleben. Es hat derzeit allen denkbaren Anlass dazu. Drei weit streuende Schauspielproduktionen („König Lear“, „1984“, „Das Fleischwerk“) und die größte aller repertoirefähigen Opern („Götterdämmerung“) allein am Staatstheater, dazu entedelte Klassik in Erlangen („Nathan der Weise“) sowie in Fürth Moral mit etwas Show-Schaumschlag für Science Fiction aus dem modernen Antiquariat, also Utopie von gestern als nachgebesserte Ermahnung für morgen („Der Tunnel“).

Am Tag der Nürnberger Kammerspiele-Premiere der Neudeutung von Orwells Überwachungs-Grusel „1984“: Vormittags die Vorratsdatenspeicherung aus dem Bundestag in den Nachrichten, abends die Gedankenpolizei auf der Bühne. Beim Weltuntergang der „Götterdämmerung“ statt flammender Scheiterhaufen ein hundertfach entflammtes Tablet-Flackern für die fragwürdige Internetzukunft einer twitternden Ex-Walküre. Im Wanderarbeiterdrama „Das Fleischwerk“ die industrialisierte Menschenverachtung als Schnäppchengesellschaftsprinzip. Beim Roman-Musical „Der Tunnel“ purer Größenwahn als verlogenes Spekulantenversprechen für die Zukunft. Und Nathans weise Toleranzpredigt namens Ringparabel wie eine lockere Partytheorie mit Hörsaalkulisse. Nur beim Nürnberger „König Lear“ darf der Wahnsinn standesgemäß „bei Hofe“ ausbrechen, das Volk bleibt so anonym wie vom Dichter notiert und zieht gesichtslos zum Mitsterben an die Kriegsfronten. Dass in hysterischen Monstern laut Shakespeare „die wahre Natur des Menschen“ kenntlich wird, könnte ohne weitere Drehung ins Aktuelle skandalös genug sein. Der Rest bleibt Ungewissheit: Big Brother etwa (nein, nicht der aus dem TV-Exhibitionistenformat), jener „Große Bruder“ von 1948 (Fertigstellung des Romans) aufs ferne 1984 (fiktive Zukunft und Titel) blickend, lässt 2015 (Kammerspiele Nürnberg) das Jahr 2050 (die verlängerte Perspektive) erstehen. 86 Jahre Zugabe, damit es nochmal wie eine Hochrechnung mit Erschütterungspotenzial funktioniert.

Muss das denn sein?

Im Schauspiel, wo im Vergleich zum Musiktheater oft mehr gedacht als gefühlt und die Reibung an der Gegenwart zumindest grundsätzlich als Qualität akzeptiert ist, liegt die Reizschwelle, hinter der das Kopfschütteln als Reflex des inneren Widerstands beginnt, inzwischen relativ hoch. Der auf- und abgeklärte Zuschauer weiß, dass ihm etwas zugetraut, deshalb auch zugemutet wird. Er hat es sich damit eingerichtet. In der Oper, die durchkostümiertes Rampengedrängel auch nicht mehr für der Weisheit letzten Schluss hält, werden magisch aufgeladene Metaphern bevorzugt oder, um es mit einem prominenten Kritiker solcher Trends zu sagen, „überdimensionale Bilderrätsel“. Die kann der Zuschauer, sich im zuverlässigen Rausch der Klänge wiegend, offensiv knacken oder defensiv betrachten. Und dann Bravo rufen (Sänger, Dirigent) oder Buh (Regisseur). Das ist sie, die schlichte Opernweltordnung, gültig auch 2015.

Muss das denn sein?

Na gut, das mythische Monster, Wagners „Ring des Nibelungen“, bleibt doch der große Sonderfall. Seit der 16-Stunden-Marathon von der Bayreuth-Andacht für Eingeweihte in Richtung Weltuntergangs-epos total expandierte, der riskante Interpreten-Ehrgeiz bis auf die Stadttheaterebene durchsickerte, prallt jede Produktion auf die (manchmal durchaus höhnisch klingende) Frage, was denn da wohl an neuen Einsichten geboten werde. Wenn das soeben vollendete Nürnberger „Nibelungen“-Projekt erstmals 2017 von Regisseur Georg Schmiedleitner und Dirigent Marcus Bosch zyklisch komplett an vier Abenden aufgeführt wird, ist das Gegenwartstheater von 2014/2015 doch gar nicht mehr aktuell. Erklärte mir besagte Opernkennerin mit der Hand am Sektglas. Wirklich? Keine zerstörte Umwelt unter Plastikmüll mehr, keine Flüchtlinge, der Krieg bloß noch Erinnerung an die schlechte alte Zeit? Darauf bitte eine Runde Trauermarsch mit Gänsehaut. Kopfschütteln inclusive.

Muss das denn sein?

Der Saisonauftakt auf breitester Front zeigt die Theater im Großraum Nürnberg nicht besser oder schlechter als in früheren Jahren, sondern schlichtweg weiterhin auf der Höhe der Zeit. Sie stellen sich der Diskussion, dem Zweifel, der Begeisterung. Auch dem Kopfschütteln während und dem grummelnden Widerspruch nach der Aufführung. Denn das ist absolut sicher: Ohne Irritation, ohne die Herausforderung, die eben nicht nur auf der Bühne sondern ebenso in der unterschiedlichen Reaktion darauf ausgelöst wird, kann uns diese Kunst vielleicht unterhalten, doch schwerlich bewegen.  Nichts ist schlimmer als laue Stimmung am Ende einer Aufführung. Es lebe der Buh-Ruf, das Bravo kommt von selber. Ehrlich, probieren Sie es aus, wenn es mal passt…

Muss das denn sein? Es muss!


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TexT. Dieter Stoll




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