Das Fleischwerk. Sauspiel im Schauspiel: Jedem kann alles passieren.

24. OKTOBER 2015 - 23. JANUAR 2016, SCHAUSPIELHAUS

#Dieter Stoll

Alles so schön weiß hier, alles schnell abwaschbar: Willkommen in der Großschlachterei, wo die Blutspur zur Arbeitsplatzbeschreibung gehört und deshalb vom Bodenbelag über die Wände bis zur Bekleidung alles aus Plastik ist. Die Illusion von „Wisch und weg“-Sauberkeit braucht Kulisse. Hier wird gemetzelt, nicht nur an den Schweinen, auch an der Humanität. Mittendrin im Gerangel um den Anschluss ans Schnäppchenjagdrevier, wo der Konsument  schon auf die Siegerbeute im Preiskampf wartet, suchen die „Wanderarbeiter“ aus Osteuropa ihre Minimal-Chance zum Überleben.

hristoph Nußbaumeder hat für sein  Stück „Das Fleischwerk“, vor sieben Wochen in Bochum uraufgeführt und jetzt am Nürnberger Schauspielhaus in der Inszenierung von Markus Heinzelmann auf großer Bühne erneut zur Debatte gestellt, die denkbar heftigste Metapher zum Spielfeld gemacht. In der ersten Szene zerlegt einer der bulgarischen Arbeiter denn auch gleich eine Sau in Originalgröße, dass es spritzt und die Innereien nur so in die Szene purzeln. Ein trauriger Mann, einst vegetarischer Fernfahrer und nun Schweine-Chauffeur („Ware mit Seele“, sagt der Vorarbeiter), kommt dazu und spuckt eigenes Blut. So drastisch so gut, aber was dann?

Bühnenbildner Gregor Wickert lässt erst viel später (und auch da überflüssigerweise) einen Container aus dem Himmel in die weite Leere herabfahren, denn zunächst bleibt es beim Einheitsraum. Ob offene Straße oder Wohnung simuliert wird, der übermächtige Schlachthof steht allzeit bereit zur Hintergrund-Bedrohung. Die auftretenden Personen sind Gefangene im kriminellen „Schweinesystem“, das ist schnell klar, aber der dabei entstehende Kampf der Schauspieler um ein klein wenig Charakterstärke  jenseits der abrufbaren Klischees hat auch seine tragischen Momente. Das liegt schon an der Vorlage, denn Christoph Nußbaumeder mag sich nicht für ein Thema entscheiden, wo es doch so viele gibt. Also geht es von der Massentierhaltung über die Wanderarbeiterausbeutung und den verweigerten Mindestlohn bis zum Krebstod nach allen Seiten wuchernd am Schicksalsschlagwerk entlang. In einer Sprache, die noch dem größten Schuft (Stefan Willi Wang spielt den brutalen Subunternehmer „mit iranischen Wurzeln“ vom ersten Ausfallschritt an wie einen Zuhälter aus dem B-Movie) verblüffende Merksätze zuteilt: „Der Mensch ist zu allem fähig, der Krebs nicht!“ Wer noch zweifelt, bekommt Nachschub: „Jedem kann alles passieren, wenn man auf die Falschen trifft“. Der Autor verteilt solche Weisheiten mit der Gießkanne auf Gut und Böse. Und womöglich gehört er mit diesem Stück zu denen, die man nicht treffen sollte.

Regisseur Markus Heinzelmann steht wie gelähmt vor diesem umschnörkelten Konflikt-Angebot aus bewegten Standbildern. Er lässt sich nicht auf Nußbaumeders angebliche Horvàth-Nähe ein, verweigert also das verschärfende Fixieren von Wort und Tat, verbannt jegliche Tiefenbohrung im  Künstlichkeits-Koma, bevorzugt den steifhüftigen TV-Realismus. Man steht da und redet, gelegentlich wie auf Kommando von krähenden Temperamentsausbrüchen durchgeschüttelt, aneinander hin. Für Irritation, zumindest Verwirrung soll die Aufhebung der Chronologie, die willkürliche Rückblende beim Plot-Abspulen sorgen. Dazu flimmern Bilder aus Wirtschaftswunderjahren im Hintergrund, der junge Wanderarbeiter (mit viel Emphase: Philipp Weigand) sendet Sehnsuchtsmonologe in die Heimat und schwenkt die Revoluzzerfahne gegen mafiöse Zustände, aber mehr als die eigene Recherche in der westfälischen Großschlachterei interessiert den Autor eben doch die Depression des krebskranken „Viehfahrers“. Stefan Lorch spielt ihn mit geschützter Melancholie, in der Naivität momentweise anrührend, jedoch meilenweit entfernt vom Skandalthema, das im Titel „Das Fleischwerk“ angekündigt ist. Das geht schlichtweg verloren im Gewimmel nachlässig angetippter Dramen und wird zur weiteren Behandlung ans Programmheft verwiesen. Wo es übrigens ganz gut aufgehoben ist. Am meisten gibt es dem Zuschauer zu denken, wenn auf der Bühne über den Köpfen der Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien auf dem wechselnden Spruchband in Großbuchstaben mehrfach das Wort „SESSHAFT“ erscheint. Was da nicht alles an Assoziationen drinsteckt. Szenisch war kaum etwas davon zu sehen.

Christoph Nußbaumeder, zur Premiere angereist, muss wohl zufrieden gewesen sein mit der Aufführung. Er verbeugte sich inmitten des unterforderten Ensembles und bekam, naja, barmherzigen Beifall.

 
---

Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Theatermagazin Die deutsche Bühne
www.die-deutsche-buehne.de

Das Fleischwerk

von Christoph Nußbaumeder
Regie: Markus Heinzelmann
Premiere: 24.10.2015

Schauspielhaus, Staatstheater Nürnberg
www.staatstheater-nuernberg.de


---

Termine

November 2015
Mi 04.11.2015, 19.30 Uhr
Do 12.11.2015, 19.30 Uhr
Sa 14.11.2015, 19.30 Uhr
Di 17.11.2015, 19.30 Uhr
Sa 28.11.2015, 19.30 Uhr

Dezember 2015
Do 03.12.2015, 19.30 Uhr

Januar 2016
Fr 08.01.2016, 19.30 Uhr
Do 14.01.2016, 19.30 Uhr
Sa 23.01.2016, 19.30 Uhr
 
 




Twitter Facebook Google

#Dieter Stoll

Vielleicht auch interessant...

STAATSTHEATER. Wenigstens die Premiere kommt noch vor dem zweiten Lockdown. So hatte sich das Nürnberger Staatstheater seinen Besetzungs-Coup sicherlich nicht vorgestellt, trotzdem ist die Regiearbeit von René Pollesch in Nürnberg natürlich das Highlight der Saison. Am Freitag feiert Take the Villa and Run! Premiere, am Samstag, 31.10., ist das Stück ein zweites Mal zu sehen. Theaterkritiker Dieter Stoll schreibt im Vorfeld:   >>
20240401_Staatstheater
20240401_Pfuetze
20240401_Stadttheater_Fürth
20240401_Wabe_1
20230703_lighttone
20240201_VAG_D-Ticket
20240401_Neues_Museum_RICHTER
20240401_Theater_Erlangen
20240401_Idyllerei
2024041_Berg-IT
20240401_ION
20240201_mfk_PotzBlitz
20240401_Comic_Salon_2
20240411_NbgPop_360
20240401_D-bue_600