Rache bringt meinen Sohn nicht zurück: Die Menschenrechts-Preisträger im Interview
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Der Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg 2025 wird an eine Organisation verliehen, deren Arbeit auf den ersten Blick unvorstellbar erschient: Inzwischen über 800 Palästinenser und Israelis haben sich im „Parents Circle – Families Forum (PCFF)“ zusammengeschlossen, um sich in ihrer Trauer zu unterstützen, denn alle haben Angehörige im Israel-Palästina-Konflikt verloren.
Marian Wild hatte für curt die Ehre, die beiden Vertreterinnen der Organisation, die den Preis am 21. September entgegennahmen, Laila M.A. Alshekh und Robi Damelin, ausführlich zu interviewen.
Marian: Sehr viele Menschen sehen diesen Israel-Palästina-Konflikt als den schwierigsten der Welt an. Beide Seiten streiten sich über rund 2.000 Jahren Geschichte, während in der Gegenwart Menschen für diese Vorstellungen auf allen Seiten leiden und sterben. Die Organisation PCFF versucht, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Was sind die größten Hindernisse auf diesem Weg?
Laila M.A. Alshekh: Heutzutage ist es viel schwieriger, weil jeder Mensch wütend und traurig ist, nicht nur wegen der Morde, sondern auch wegen der beiden Regierungen, die nichts unternommen haben, um dies zu stoppen, sondern sogar noch viel Schlimmeres getan haben, um diesen Konflikt fortzusetzen. Wir glauben in unserer Organisation an Frieden und Versöhnung, selbst unter all diesen Umständen. Nach diesem Krieg ist es jedoch sehr schwer, weil man mit den Menschen nicht über Frieden sprechen und sie davon überzeugen kann. Und ihre Familien werden jeden Tag in Gaza getötet. Alle Palästinenser, sogar in der Westbank oder sogar die Palästinenser, die in Israel leben, haben Verwandte in Gaza. Unsere Arbeit wird also noch schwieriger, weil es den Palästinensern jetzt verboten ist, nach Israel zu reisen, und sogar den Israelis ist es verboten, nach Palästina zu reisen. Wir können uns nicht persönlich treffen. Stellen Sie sich vor, ich kann Robi nicht in Palästina oder Israel treffen. Wir sind etwa zehn oder vielleicht 20 Minuten voneinander entfernt, aber das ist unmöglich. Wir haben Zoom-Meetings, aber zu Beginn dieses Krieges war sogar das schwierig, weil alle Angst hatten. Sie wussten nicht, was passieren und was alle zueinander sagen würden. Aber ich glaube, nach ein paar Tagen, nach zwei Tagen, rief mich Robi an und begann, nach der Situation zu fragen. Und meine jüngste Tochter, sie ist zehn Jahre alt, begann mich zu fragen, ob Robi sich um uns sorgt. Ich sagte: „Ja, natürlich.“ Und sie sagte, sie wolle nicht, dass wir getötet werden. Ich sagte: „Natürlich nicht. Nicht alle Israelis wollen die Palästinenser vernichten, und nicht alle Palästinenser wollen alle Israelis töten.“
Man kann also auf beiden Seiten Menschen finden, die wirklich über Frieden nachdenken, die an die neue Generation denken, die diesen Konflikt beenden wollen, die etwas tun wollen.
Robi Damelin: Ich denke, wir müssen uns die Wurzeln dieser Organisation ansehen. Wie hat sie angefangen? Und wie schafft man Vertrauen? PCFF wurde von einem religiösen jüdischen Mann ins Leben gerufen, dessen Sohn vor vielen, vielen Jahren von der Hamas entführt und getötet wurde. Das war zu einer Zeit, als Jitzchak Rabin, der damalige Premierminister, unter massiven Angriffen der Öffentlichkeit litt. Der Polizeiminister beispielsweise, der heute in Israel im Amt ist, stahl damals das Kennzeichen von Rabins Auto und er sagte: „Wir könnten, wenn wir dieses Kennzeichen vom Auto stehlen können, leicht an Sie herankommen.“ Das ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass dieser Mann heute die Macht über die Polizei hat. Was ich gleich zu Beginn dieses Gesprächs sagen wollte, ist, dass ich Israeli bin, aber ich bin nicht die Regierung. Ich bin jedoch Teil des Systems, und es ist heute sehr, sehr schwierig, Israeli und Jude zu sein.
Wir hatten beschlossen, dass wir unsere erste Mitarbeiterversammlung abhalten. Wir haben mehr oder weniger 20 Mitarbeiter. Palästinenser, Israelis, wir haben von allem zwei. Es gibt also zwei Direktorinnen im Elternkreis. Es ist das erste Mal, dass wir eine palästinensische Direktorin haben, und das freut mich sehr. Und zwei Sprecher, auch zwei Personen, die sich mit Bildung befassen. Niemand unterschreibt etwas ohne den anderen. Niemand kann ohne den anderen ein Programm erstellen. Das macht das Leben schwierig. Dies ist jedoch die einzige Möglichkeit, in einer Situation, die nicht gleichberechtigt ist, Respekt zu zeigen und nicht bevormundend zu sein und anderen Menschen zu sagen, was gut für sie ist. Also hatten wir unsere erste Mitarbeiterversammlung vielleicht zwei Tage nach Kriegsbeginn im Oktober. Und ich komme immer wieder auf den Oktober zurück, weil er jetzt ein wichtiger Meilenstein in den Ereignissen in Israel und Palästina ist. Seit dem 7. Oktober sage ich immer, dass Israel den Krieg verloren hat. Es war eine sehr demütigende Erfahrung, insbesondere für Männer. Und wenn man gedemütigt wird, was macht man dann? Man rächt sich. Und dann konnten sie keine große Rettungsaktion für die Geiseln durchführen, wie sie es in Entebbe getan hatten. Wissen Sie, diese Armee, die eigentlich eine so großartige Armee sein soll ... sie konnten die Geiseln nicht retten. Das ist eine weitere demütigende Erfahrung für Männer, die so macho sind. Da sind all diese jungen Kinder, die in Gaza zur Armee eingezogen werden, die sich kaum rasieren können. Und was erleben sie dort? Sie sehen Kinder, die vor Hunger sterben, sie sehen Leichen. Sie haben die Erlaubnis zu töten. Was bringen sie zurück in unsere Gesellschaft? Das ist eine sehr komplexe Situation. Ein Kind sieht, wie seine Mutter vor den Bomben flieht und es seine Geschwister nicht beschützen kann. Es hat keine Bewegungsfreiheit, weder durch Israel noch durch Ägypten. Und so hat es keine Hoffnung. Was für ein Erwachsener wird aus ihm werden?
Das bedeutet nicht, dass ich Gewalt gutheiße. Ich sage nur, dass man, wenn man beginnt zu verstehen, wo die Dinge ihren Ursprung haben, ein Gespräch beginnt. Und man muss sich jetzt zwei Nationen ansehen, die ein Trauma erleben werden. Du hast keine Vorstellung davon, wie viele Soldaten aktuell Selbstmord begehen. Und das Trauma, das post-traumatische Stresssyndrom: Ich sehe diese Kinder vor dem Verteidigungsministerium stehen, die darauf warten, irgendwie behandelt zu werden. Aber die gesamte Nation steht unter Schock. Und was ist mit den Palästinensern? Wer wird ihnen helfen?
Was sind eure persönlichen Gründe, warum ihr bei der PCFF mitmacht?
Laila: Meine Geschichte begann 2002, um vier Uhr morgens. Am 11. April 2002 wachte mein Sohn Qusay, er war damals gerade sechs Monate alt, in einem sehr kritischen Zustand auf, weil in dieser Nacht israelische Soldaten in mein Dorf gekommen waren und Tränengas geworfen hatten, wodurch er sehr krank wurde. Als wir versuchten, ihn in ein Krankenhaus in Bethlehem zu bringen, hinderten uns die israelischen Soldaten daran, weil wir in einem Dorf außerhalb leben. Sie sagten, es sei eine Militärzone, also versuchten wir, ihn nach Hebron zu bringen, der nächsten Stadt nach Bethlehem. Aber auch dort sagten sie uns, dass die Hauptstraße gesperrt sei. Die letzte Chance bestand also darin, ihn über eine holprige und lange Straße zwischen den Dörfern zu transportieren. Aber erneut, zum dritten Mal, hielten sie uns mehr als vier Stunden lang auf. Wir versuchten, mit ihnen zu reden. Wir versuchten, ihnen zu erklären, dass unser Sohn so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht werden müsse, aber sie hörten nicht auf uns. Sie hielten uns einfach auf. Als wir dann endlich das Krankenhaus erreichten, sagten die Ärzte, es sei zu spät, um sein Leben zu retten. Sie brachten ihn auf die Intensivstation, wo er noch einige Stunden lebte, bevor er starb. Ich erinnere mich, dass ich wie verrückt geweint habe, denn als Mutter denkt man immer daran, wie man seinen Sohn retten kann. Ich konnte nichts tun, um sein Leben zu retten. Er starb in meinen Armen, und das war so schwer. Ich war voller Hass und Wut auf alle. Aber am meisten auf die Israelis, denn für mich waren sie alle für seinen Tod verantwortlich, weil er gerade einmal sechs Monate alt war. Er hatte nichts verbrochen. Und ich denke immer darüber nach, warum ihm das passiert ist. Und ich antworte mir selbst und sage, sein einziges Verbrechen war, dass er Palästinenser war. Aber gleichzeitig wollte ich mich nicht rächen, denn Rache würde meinen Sohn nicht zurückbringen, sondern nur noch mehr Hass und Wut schüren. Nach diesen drei Jahren habe ich einen weiteren Jungen bekommen. Ich habe ihm denselben Namen gegeben wie meinem ersten Sohn.
Nach 16 Jahren traf ich einen meiner Freunde wieder, den ich lange nicht gesehen hatte. Wir fingen an, über das Familienleben zu sprechen, und dann erzählte er mir vom Elternkreis und wie er beigetreten war und wie er an einem der Projekte teilgenommen hatte. Ich unterbrach ihn und sagte: „Bist du verrückt? Wie kannst du mit mir darüber sprechen? Weißt du, was mit meinem Sohn passiert ist?“ Und er sagte: „Gerade deshalb möchte ich mit dir darüber sprechen.“ Ehrlich gesagt hielt ich ihn für verrückt. Aber eines Tages rief er mich an und sagte, es gäbe ein Treffen des Elternkreises in Bethlehem, und ich solle kommen. Und ich sagte: „Ja, natürlich“, nur damit er aufhörte, darüber zu reden. Und als ich an diesem Tag dort hinging, waren am Anfang nur Palästinenser da. Wir saßen da und unterhielten uns. Fünf Minuten später betrat ein Israeli den Raum. Ich spürte etwas in meiner Brust. Ich wollte nicht mit ihnen im selben Raum sein und versuchte zu gehen. Mein Freund überredete mich, einfach sitzenzubleiben und zuzuhören. Und dann sah ich etwas, das mich verblüffte, als die Palästinenser und Israelis zusammenkamen. Sie fingen an zu lachen, zu reden, sich zu umarmen und zu küssen. Und das war das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe. Und ich dachte mir: Oh mein Gott, die sind ja verrückt, wie können sie das nur tun? Und dann: Du solltest dich hinsetzen und zuhören, um zu erfahren, was sie einander so nahe bringt. Ich spürte, dass wir denselben Schmerz teilen, dass wir dieselben Tränen vergießen. Auch wenn wir unterschiedliche Lebensumstände haben, sind wir alle Menschen. Und nichts ist schlimmer, als ein Kind oder ein Familienmitglied zu verlieren. Und niemand kann diesen Schmerz verstehen, es sei denn, er befindet sich in der selben Situation. Das Hauptprojekt unserer Organisation heißt „Barrel Narrative Project” und ist meiner Meinung nach das wichtigste Projekt der Welt. Denn dieses Projekt gibt den Menschen die Möglichkeit, einander zuzuhören. Und ich glaube, der erste Schlüssel zu allem ist, einander zuzuhören. Wir haben uns innerhalb von drei Monaten acht Mal getroffen. Wir haben viele Aktivitäten durchgeführt. Wir hatten zwei Professoren von beiden Seiten, palästinensische und israelische, die über die Geschichte der beiden Nationen sprachen. Wir besuchten das Yad Vashem Museum in Jerusalem, um mehr über den Holocaust zu erfahren, da viele Palästinenser den Holocaust leugnen und glauben, dass die Israelis ihn erfunden haben, um ihre Handlungen in Palästina zu rechtfertigen. Wir besuchten sogar ein palästinensisches Dorf, das vor 1948 existierte. Es geht darum, einander zu verstehen, zu verstehen, woher jeder kommt. Das war das erste Mal, dass ich darüber gesprochen habe, was meinem Sohn passiert ist. Ich konnte die Geschichte nicht zu Ende erzählen. Ich fing an zu weinen. Dann kam eine israelische Frau auf mich zu und entschuldigte sich. Sie sagte: „Ja, ich habe dir nichts angetan, aber die Menschen, die dir Leid zugefügt haben, sind mein Volk, und ich bin auch Mutter. Ich kann deinen Schmerz verstehen. Ich kann die Worte verstehen, die du nicht aussprechen konntest.“ Und sie kam und umarmte mich. Wir fingen beide an zu weinen. Und um ehrlich zu sein, war das das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass sich jemand wirklich um mich kümmerte, jemand, der meinen Schmerz wirklich verstehen konnte, auch wenn ich nicht viel darüber gesagt hatte. Das war für mich der Schlüssel, mein Herz und meinen Geist zu öffnen, um zuzuhören und weiterzumachen. Sie wusste nicht, dass sie mit ihren einfachen Worten mein ganzes Leben verändert hatte. Und sie brachte mich sogar zurück zu meinem Glauben als Muslimin, denn im Koran steht, dass man nicht alle Menschen wegen des Fehlers einer Person verurteilen darf.
Am selben Tag, an dem ich meinen Sohn verlor, hatte ich einen Traum. Eine weiße Taube kam und landete auf meiner Schulter. Und sie sagte zu mir: „Mama, weine nicht, ich bin glücklich.“ Er war gerade einmal sechs Monate alt, und ich verstand nicht, warum er als weiße Taube kam. Als ich dann Mitglied der Organisation wurde, erinnerte ich mich daran, dass die Taube das Symbol des Friedens ist. Es war wie eine Botschaft Gottes, die mir sagte, dass dies meine neue Mission ist. Gott wollte nicht, dass mein Sohn stirbt, ohne etwas erreicht zu haben. Ich hatte es verstanden. Und ich erinnere mich daran – das gibt mir immer wieder Kraft.
Robi: Als die Armee mir mitteilte, dass David, mein Sohn, getötet worden war, kam ein Journalist auf mich zu. Und so hielt ich im Fernsehen einen ganzen Monolog an Ariel Sharon, der damals Premierminister war. Und ich sagte: „Ihr dürft niemanden im Namen meines Kindes töten.“ Ich weiß nicht, woher das kam. Ich wusste nicht einmal, dass ich das gesagt hatte. Das war wirklich eine Vorahnung dessen, was ich mit dem Rest meines Lebens tun würde. Aber ich musste einen Rahmen finden. Und der Elternkreis hörte mich bei einer großen Demonstration sprechen, vielleicht drei Monate nach Davids Tod. Ich weiß nicht, woher ich den Mut genommen habe, denn es waren etwa 60.000 Menschen dort. Ich sagte: „Wir können das nicht alleine schaffen. Wir brauchen einen palästinensischen Partner.“
Und so schloss ich mich dem Elternkreis an. Sie luden mich zu einem Wochenende in Ostjerusalem ein und ich erinnere mich, wie ich am Tisch saß und den palästinensischen Müttern in die Augen sah und erkannte, dass wir den selben Schmerz teilten, weil auch sie Hinterbliebene waren. Und dass wir ein sehr starker Katalysator für Veränderungen sein könnten, wenn wir gemeinsam auf der Bühne stehen und mit einer Stimme sprechen würden, um die Gewalt und die Besatzung zu beenden und Versöhnung zu erreichen. Also schloss ich mein Büro und begann, mit einem palästinensischen Partner um die ganze Welt zu reisen. Und natürlich sprach ich Englisch, weil ich in Südafrika geboren war und in der Anti-Apartheid-Bewegung mitgewirkt hatte, so dass ich alles verstehen konnte. Wahrscheinlich war es diese Überlebenstaktik, die mich dazu gebracht hat, so auf die Ermordung meines Sohns zu reagieren. David war Student an der Universität Tel Aviv und studierte für seinen Master in Philosophie. Er war ziemlich frech, spielte Waldhorn und war Teil der Friedensbewegung. Er war ein junger Mann, der zum Militärdienst einberufen wurde und gehen musste, weil sein Gewissen ihm das sagte. Und er dachte, dass seine Soldaten die Menschen vielleicht anders behandeln werden, weil er ist, wer er ist. Eines Nachts sitze ich an meinem Computer, es klopft an meiner Tür, ich öffne und da stehen drei Soldaten. Und man weiß, dass das nur eines bedeuten kann, also schlage ich ihnen die Tür vor der Nase zu, weil ich unmöglich glauben kann, dass ich mein Kind verloren habe. Und sie klopften weiter und klopften weiter, und schließlich öffnete ich die Tür. Und als mir später mitgeteilt wurde, dass man den Mann gefasst hatten, der David getötet hat, wurde es schwierig. Man erwartete wohl, dass ich vor Freude und Rache durch das Wohnzimmer tanzen würde. Aber das ist nicht passiert. Jetzt musste ich beweisen, dass ich meine Worte auch ernst meine. Und meine ich meine Worte ernst? Ich habe drei Monate gebraucht und dann einen Brief an die Familie des Mannes geschrieben, der David getötet hat. Ich erzählte ihnen vom Elternkreis, von der PCFF. Tatsächlich sind wir jetzt 800 Familien. Und viele von ihnen sind seit Oktober beigetreten, was außergewöhnlich ist. Ich meine, sie sind fast sofort beigetreten, weil die Hamas tatsächlich die falschen Leute getötet hat, denn viele von ihnen waren von Anfang an Linke und hatten mit Road to Recovery und all diesen Organisationen zusammengearbeitet. Und tatsächlich ist der neue Vorsitzende des Elternkreises in unserem Vorstand ein Mitglied der Familie Inon, deren Eltern am 7. Oktober verbrannt sind.
Von da an hatte ich nicht mehr viel Geduld, ich bin kein sehr geduldiger Mensch. Aber ich habe einfach gewartet. Ich habe auf einen Antwortbrief gewartet, und natürlich hat das drei Jahre gedauert. Die Leute glauben, dass es so etwas wie sofortige Versöhnung gibt. Das gibt es nicht. Das ist eine Neuigkeit für sie. Und schließlich schickte mir der, der David getötet hatte, über eine Website eine Nachricht, in der er mich für verrückt erklärte. Aber dass ich verrückt bin, wusste ich bereits (lacht). Er schrieb, dass ich mich nicht in die Nähe seiner Familie begeben solle. Und, dass er zehn Menschen getötet habe, um Palästina zu befreien. Aber ich wusste von seinen Eltern, dass er als kleines Kind miterlebt hatte, wie sein Onkel von der israelischen Armee brutal ermordet wurde. Und er verlor zwei weitere Onkel im zweiten Aufstand. Er schlug den Weg der Rache ein. Er gehörte keiner Organisation an, weder der Hamas noch der Fatah.
Als ich seine Nachricht bekommen hatte, gab ich es auf, ein Opfer zu sein. Wenn man aufhört, ein Opfer zu sein, ist man frei. Denn ich hatte dieses schreckliche Dilemma: Kann ich diese Arbeit machen, wenn ich nicht nach meinen Worten handle? Also kehrten wir nach Südafrika zurück und drehten einen Film namens „One Day After Peace”, der um die ganze Welt ging. Es ist ein Dokumentarfilm über die Wahrheits- und Versöhnungskommission und über meine eigene Reise auf der Suche nach der Bedeutung von Vergebung. Der Elternkreis hat buchstäblich mein Leben übernommen, denn das ist es, was ich 24 Stunden am Tag mache, und das ist meine Überlebensstrategie.
Auch der 7. Oktober war für mich eine sehr ähnliche Erfahrung. Ich musste sofort etwas unternehmen, und deshalb reise ich seitdem um die ganze Welt mit der Botschaft: Seid bitte Teil der Lösung, nicht Teil des Problems! Denn keine der beiden Seiten wird verschwinden. Ich spreche dabei nicht von unserem Schmerz, denn dieser Schmerz verschwindet nie. Er lastet auf unseren Schultern, aber man lernt, damit zu leben. Und wenn man sein Kind verliert, ist das Leben nie mehr das selbe. Es gibt nie wieder die gleiche Freude bei einem Anlass. Aber man muss Humor einsetzen, denn das ist ein Durchbruch zum Herzen: Wenn ich die Menschen zum Lachen bringe. Oder sie kommen in einen Raum und alles ist furchtbar ernst und die Leute hassen mich schon, bevor ich überhaupt den Mund aufgemacht habe. Sie haben keine Ahnung, wie viele Demonstrationen es in anderen Ländern gegen mich gibt!
Man muss das akzeptieren und die Menschen einladen, zu kommen und zuzuhören, anstatt sich ein Urteil zu bilden, bevor sie überhaupt wissen, wer man ist. Und dafür bin ich sehr dankbar. Wie außergewöhnlich ist es, zu sagen, dass ich dankbar bin, weil ich die Gelegenheit hatte, Teil des Lebens von tief in Wut und Hass versunken Menschen zu sein – durch die Zusammenarbeit und das Erzählen von Geschichten. Denn die Hauptaufgabe des Elternkreises ist die persönliche Geschichte. Selbst die härtesten Herzen können sich einer persönlichen Geschichte nicht entziehen. Wie könnte man Laila zuhören, ohne Schmerz zu empfinden? Und genau das ist wichtig. Das ist es, was uns menschlich macht.
Was ist aus eurer Sicht das Beste, was der PCFF passieren kann? Was braucht sie, um ihre Arbeit fortzusetzen?
Robi: Es wäre zuallererst besser, wenn die Menschen all diese Energie, die sie gegen uns oder gegen den Krieg richten, stattdessen in die Unterstützung aller NGOs stecken würden. Es muss nicht unbedingt der Elternkreis sein. Und natürlich brauchen wir Mittel, um unsere Arbeit fortsetzen zu können. Und auch einfach deshalb, weil Trump in seiner großen Weisheit beschlossen hat, die Finanzierung einzustellen. Der Elternkreis war ja ein großer Nutznießer der Finanzierung durch USAID. Und so suchen wir natürlich nach Finanzmitteln. Aber genauso wichtig ist es auch hier, Teil der Lösung zu sein, nicht Teil des Problems.
Und so haben wir erst kürzlich beschlossen haben, dass wir keine soziale Einrichtung sind, keine Wohltätigkeitsorganisation. Es ist einfach ein Nebeneffekt dessen, was gerade passiert, weil alles so schlimm ist. Deshalb haben wir dieses Jahr etwa 2.000 Schultaschen für die Kinder in Palästina hergestellt.
Es ist sehr wichtig, dies zu tun, aber dafür braucht man Geld. Wir haben gerade einen Spielplatz in Palästina renoviert, aber das ist nicht unsere übliche Arbeit. Die besteht darin, den Menschen Verständnis zu vermitteln. Es muss einen Rahmen geben, damit ein Versöhnungsprozess integraler Bestandteil jedes zukünftigen politischen Friedensabkommens sein kann. Andernfalls haben wir nur einen Waffenstillstand bis zum nächsten Mal.
Laila: Ich denke, wir müssen unsere Stimmen überall hörbar werden lassen und multiplizieren. Ja, und alle über unsere Organisation und unsere Ziele informieren, denn das ist so wichtig für uns. Wir hatten gerade ein Sommercamp. Übrigens unterstützt die deutsche Regierung das Sommercamp in Zypern, weil die Kinder aus dem Westjordanland nicht nach Israel kommen können und umgekehrt. Also müssen wir es nach Zypern verlegen. Es ist unglaublich, zu sehen, wie 40 Kinder in zehn oder zwölf Tagen zu heilen beginnen.
Robi: Wissen Sie, ich habe meinen Enkel, der ein richtig verwöhnter Bengel ist. Wenn er mich das jemals wieder sagen hört ...
Marian: … Ich schreib es ins Interview. (alle lachen)
Robi: Ich sage das überall, weil es wahr ist. Ich bin so weichherzig, wenn es um ihn geht. Wissen Sie, ich bin eine harte Frau, aber zu meinen Enkelkindern bin ich nicht hart. Und er war im Sommercamp und sagte zu mir: „Das war die beste Woche, die ich je erlebt habe.“ Also habe ich versucht zu verstehen, warum. Es war das erste Mal, dass er mit palästinensischen Kindern interagieren und seine Angst überwinden konnte. Denn Angst ist es, die Hass erzeugt, der wiederum Gewalt erzeugt. Und das alles, weil wir uns nicht kennen!
MARIAN: Danke für dieses Gespräch. Und noch eine gute Zeit in Nürnberg, der Stadt der Menschenrechte!
Parents Circle – Families Forum (PCFF)
ist eine israelisch-palästinensische Organisation, der inzwischen über 800 Mitglieder angehören, die Angehörige im Israel-Palästina-Konflikt verloren haben. PCFF wurde 1995 von Yitzhak Frankenthal gegründet.
Laila M.A. Alshekh ist 48 Jahre alt, wurde in Jordanien geboren und hat dort Buchhaltung und Wirtschaft studiert. Die Familie stammt ursprünglich aus Bethlehem.
Robi Damelin ist 81 Jahre alt und stammt ursprünglich aus Johannesburg, Südafrika. Ihre Familie war Teil der Anti-Apartheit-Bewegung. Sie ging 1967 während des Sechstagekriegs nach Israel, um für den Staat zu kämpfen, und lebt heute in Jaffa.
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Internationaler Nürnberger Menschenrechtspreis
Nürnberg ist Stadt des Friedens und der Menschenrechte. Alle zwei Jahre zeichnet sie Einzelpersonen oder Gruppen aus, die sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen.
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