Gelände im Aufbruch #1: Das Ex-Reichsparteitagsgelände und seine Zukunft

MONTAG, 24. JUNI 2024

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Der erste Teil unserer neuen Kolumne “Gelände im Aufbruch”, mit Interviews von Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner, geführt von curt-Kolumnist Marian Wild.

MARIAN WILD: Lieber Hajo, letztes Jahr haben wir in unserer Interviewreihe ausführlich über die Vergangenheit und Gegenwart des Reichsparteitsgsgeländes (RPG) und seiner Orte gesprochen. Diesmal soll es aus verschiedenen Perspektiven um dessen Zukunft gehen. Da ist es schon ein bisschen lustig, dass sich unser erstes Gespräch um die Wiederauflage des Buchs von Kurt Halbritter aus den 1960er Jahren dreht. Halbritter hat gnadenlos die Verschiebung im Sprechen und Handeln der Zivilgesellschaft im NS-Staat aufgespießt, die These von den nichtswissenden Mitläufer*innen war danach erledigt, oder? 
HANS-JOACHIM WAGNER: Tja, lieber Marian, diese Argumentationsfigur ist leider nicht obsolet – sie zieht sich quasi wie ein Leitmotiv durch die bundesrepublikanische Geschichte bis heute. Die Nürnberger Prozesse sind ein erstes Dokument, gefolgt 1961 vom Eichmann-Prozess und den Ausschwitz-Prozessen unter Fritz Bauer in Frankfurt, die im August 1965 beendet wurden. In allen juristischen Auseinandersetzungen war das Narrativ des Nicht-Wissens verbunden mit dem Unschuldsplädoyer. Diese Argumentation zeigt sich aber auch später noch – etwa in den Memoiren von Leni Riefenstahl (1987) und ihren Interviewfilmen. Margarete Mitscherlich bezeichnete Riefenstahl 1994 zu Recht als „Superverleugnerin“. Ein weiteres nachhaltig schockierendes Beispiel war für mich Adolf Hitlers Sekretärin Traudl Junge, die 2002 das Buch „Bis zur letzten Stunde – Hitlers Sekretärin“ veröffentlichte; und das ungebrochen nationalsozialistische Denken in dem Dokumentarfilm „Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin“, ebenfalls aus dem Jahre 2002, wo Jung die Mär vom Nicht-Wissen perpetuiert. Es sind Einzelbeispiele, aber sie stehen zugleich für einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs ... dazu auch weiter unten noch einige Gedanken.
 

Eine umgekehrte Schlussfolgerung aus Halbritters Buch scheint mir, dass kein autoritäres Regime ohne "gehorsame" Mitmenschen entstehen kann. Wie erzieht man also in diesem Punkt zu dem richtigen Maß an zivilem Ungehorsam? Eventuell durch das stattlich verordnete Verbot von bestimmten inklusiven Schreibweisen an Schulen, das Bayern jetzt eingeführt hat?
Am Ende ist es natürlich eine Frage von Erziehung. „Gehorsam“ galt bis in der Generation meiner Eltern als zentrale „Tugend“ der Kinder, „Du sollst Vater und Mutter ehren“ – steht in den 10. Geboten. Aufmüpfigkeit, Widerrede, die eigene Meinung waren nicht gewollt und inakzeptabel. Das hat sich sicherlich über die Jahre in Erziehung und Bildung abgeschliffen. Ich durfte als Kind „Pippi Langstrumpf“ und „Rappelkiste“ im Fernsehen nicht anschauen – ich war schon ein „Dickkopf“ genug. Ich habe nun leider keine eigenen Kinder, bin aber Patenonkel einer ganzen Schar ... und ich verstehe meine Arbeit an der Universität natürlich auch und vor allem als eine pädagogische. Vielleicht bin ich hoffnungslos altmodisch, aber ich halte es noch immer mit den Prinzipien der Aufklärung und Kants Diktum „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Und ich bin mir sicher, dass Mündigkeit weniger mit zivilem Ungehorsam zu tun hat, als mit der Fähigkeit, Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und dann in der Abwägung zu einem begründeten Urteil zu gelangen. Bildung im umfassenden Sinne ist der Graus aller autoritärer Regime.
 
 
Das RPG ist als Ort der Inszenierung und Propaganda entstanden, er diente dazu die Bevölkerung des NS-Staats emotional an das System zu binden und damit in all die Alltagsmomente einzudringen, die Halbritter dokumentiert hat. Kann dieses Gelände diese Propagandarolle aus deiner Sicht wieder spielen?
Zunächst müssen wir die Dichotomie zwischen „Staat resp. System“ und „Bevölkerung“ kritisch in Frage stellen. Dahinter verbirgt sich nämlich gerade das o.g. „Entschuldungs- bzw. Verführungsnarrativ“. Die Bevölkerung war der Staat, bildete das System und war insofern Vollstreckerin der menschenverachtenden Ideologie. Die Rede „Davon haben wir nichts gewusst“ taucht in erschreckender Weise neuerdings im Kontext geschichtlicher Relativierungsdebatten erneut aus der rechten Ecke auf. Wir haben den Historikerstreit der Jahre 1986/87 eben noch nicht hinter uns gebracht. Ich empfehle in diesem Zusammenhang die nochmalige Lektüre von Peter Weiss, “Die Ermittlung“, als sehr erhellend.
Aber zurück zu Deiner Frage: Die Architekturen des Nationalsozialismus besitzen bis heute eine Anziehungskraft; sie zeigen Wirkung – es ist eine des Staunens und des Überwältigtseins. Es ist die schiere Größe einerseits, und die Kulissenhaftigkeit, die erst auf den zweiten Blick zu durchschauen ist, die Faszination auslösen. Es wäre naiv zu glauben, dass die Architekturen, die jetzt losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion das Stadtbild prägen, ihre Wirkung eingebüßt hätten. Hinzu kommt – auch darüber sollten wir uns nicht hinwegtäuschen -, dass der Ort nach wie vor eine Attraktivität für Anhänger rechter Ideologeme besitzt. Der „Rückeroberung zu Propagandazwecken“ müssen wir uns entgegenstellen. Wenn das ehemalige Reichsparteitagsgelände demokratisch besetzt wird, besteht die Gefahr, dass ihm erneut eine Propaganda-Funktion zugeschrieben werden könnte, nicht. Die Öffnung des Zeppelinfeldes und der Zeppelintribüne mit der Eingangshalle werden das ihrige zur Entmystifizierung des Ortes beitragen. Die historisch-politische Bildungsarbeit im Doku-Zentrum, der Lern- und Begegnungsort Zeppelinfeld und Zeppelintribüne und auch der Erinnerungsort Bahnhof Märzfeld werden die demokratische Besetzung des Areals begründen.
 

Wir sehen seit Ende Januar einige hundert Demonstrationen gegen rechts im ganzen Land, nach Schätzungen mit inzwischen weit über 5 Millionen Teilnehmenden. Allein in das nie gebaute Deutsche Stadion am Gelände hätten 500.000 Menschen gepasst. Wie monströs ist das RPG also in dieser Hinsicht, als Gegenüber dieser Demos? 
Die beiden Zahlen lassen sich nur schwer zueinander in Beziehung setzen bzw. vergleichen. Einerseits ein gigantomanisches Gebäude, das der Unterhaltung eines Publikums mit zweifelhaften „Sportarten“ gedient hätte (Ich frage mich, ob das Deutsche Stadion je hätte „funktionieren“ können ...). Andererseits die Demos gegen rechts, die als politische Willensbekundung zu verstehen sind und eine erstaunlich neue Dimension in den politischen Diskurs bringen. Hier positioniert sich eine – wenn ich es richtig sehe – bürgerliche Mitte; hier gehen Menschen auf die Straße, die sich bisher wenig oder gar nicht in den öffentlichen politischen Raum begeben haben.
Bei den Demonstrationen verlieren wir indessen leider aus dem Auge, was sich seit einigen Monaten im linken Spektrum ereignet. Der sich ungehemmt Bahn brechende Antisemitismus in linken Intellektuellenkreisen und in den diversen Szenen von Kunst und Kultur ist unerträglich, und mich irritiert doch stark, dass es hier nicht zu übergreifenden Protesten kommt. Wer hätte gedacht, dass es zwischen rechter und linker Ideologie zu Allianzen kommen könnte. Und wer hätte gedacht, dass sich so tiefe Bruchlinien in unseren Demokratien auftun würden, dass unerwartet Grundfeste gesellschaftlichen Miteinanders gefährdet sind.
 

Das Gelände soll auch zum Lernort werden.  Wie lernt man kritisch gegen Populismus und Propaganda zu sein, und wen werden diese Lernorte voraussichtlich erreichen können?
Du stellst die beiden zentralen Fragen, mit denen wir uns im Geschäftsbereich Kultur aktuell beschäftigen. Teils habe ich oben bereits versucht, die Komplexität dieser Herausforderung zu formulieren. Kritische Haltung gewinnt man über Aufklärung, die historisch-politische Bildungsarbeit ist also zentral. Dabei kann es aber nicht bleiben: Die Anbindung an die Lebenswelt der Besuchenden ist dann der notwendige Schritt, der gegangen werden muss. Wenn Du heute Jugendlichen eine Rede Adolf Hitlers vorspielst – in Bild und Ton -, dann werden die wohl eher irritiert-amüsiert sein über diesen Herren mit seinen komischen Körperbewegungen und der zuweilen schrillen Stimme. Diese Außenseite gilt es zu durchdringen, um die Wirkungsprinzipien von Propaganda und Demagogie zu verstehen. Wo lassen sich Referenzen in der Gegenwart finden. Die zentrale Frage: „Was hat das mit mir zu tun?“ ist zu stellen und im besten Fall auch zu beantworten.
Wer wird adressiert... Im Doku-Zentrum die jährlich 300.000 Besuchenden aus der ganzen Welt und hier insbesondere auch die unzähligen Gruppen aus den diversen Schulformen. Teile dieser Besuchsgruppen werden später auch den Bahnhof Dutzendteich, Zeppelinfeld und Zeppelintribüne besuchen. Mit der Öffnung einer Hälfte des Zeppelinfeldes wächst dem Lernort eine ganz neue Herausforderung zu. Hier wie auch bereits schon auf der Stufenanlage der Tribüne werden wir es zukünftig auch mit Einzelpersonen zu tun haben, die vielleicht „zufällig“ hier vorbeikommen. Deshalb gilt es, auf dem Feld – wie auch bei der zu kommentierenden Rednerkanzel auf der Tribüne – neue Formen der Vermittlung zu finden. Hier stecken wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen des Doku-Zentrums tief in der Erarbeitung.
 

Kurt Halbritter war in der Riege der Satiriker*innen, aus deren Kreis dann auch z. B. das Titanic Magazin hervorgegangen ist. Braucht die Debatte also mehr Satire?
Puh, das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Du sprichst mit einer Person, die im Kern zwar kein Satiriker ist, aber mit einem eindeutigen Hang zum Komischen im Leben und in den Künsten ausgestattet ist. Ein von mir hochgeschätzter Kollege gab mir während der Bewerbung um den Kulturhauptstadttitel den Spitznamen „Bruder Leichtfuß“. Und es ist vielleicht das, was ich mir für die Debatte wünschen würde. Weniger verspannt, weniger ideologisch, dafür größere Offenheit und Entspanntheit – auch und gerade angesichts der „Schwere“ des Gegenstands. Ich habe jüngst noch einmal Max Czolleks Buch „Versöhnungsstheater“ zur Hand genommen. Immer lesenswert!

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Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner

ist studierter Musikwissenschaftler, Philologe und Kunsthistoriker. Nach Tätigkeiten an den Opernhäusern in Koblenz und Köln war er Musikreferent im Kulturamt der Stadt Köln und bis 2017 Fachbereichsleiter für Musik, Theater und Tanz bei der Kunststiftung NRW. Wagner leitete in Nürnberg von Januar 2018 bis August 2021 das Büro für die Kulturhauptstadtbewerbung 2025. Seit dem 01.08.2021 hat er die Leitung der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände inne.
 




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