Familie am Arsch: Dinge, die ich sicher weiß

FREITAG, 16. FEBRUAR 2024, STADTTHEATER FüRTH

#die ich sicher weiß, #Dinge, #Fürth, #Premiere, #Rezension, #Stadttheater Fürth, #Theater, #Theaterkritik

Rezension von Andreas Thamm, zuerst erschienen auf www.nachtkritik.de

Rosi will eine Liste schreiben, mit all den Dingen, die sie sicher weiß. Sie ist in Berlin gestrandet, während eines verkorksten Euro-Trips, wo ihr ein wunderschöner Spanier 400 Euro stahl. Jetzt will sie heim, zurück zu den Menschen, die doch unbedingt glauben sollten, dass ihr Abenteuer glückt, die Menschen, die man nicht loswird, ihre Familie in Australien.

Sie stehen da im Hintergrund rund um eine baumgroße Wäschespinne auf einer drehenden Scheibe. Das ist die Familie Price, Mutter, Vater, zwei Söhne, zwei Töchter, Rosi, 19, ist die jüngste. Der große Garten vorm Haus, erzählt die älteste Tochter Pip, da spielte sich das ganze Leben ab. Das ganze Leben ist die Familie in Dinge, die ich sicher weiß, dem 2016er-Stück des australischen Autoren Andrew Bovell, das am Fürther Stadttheater von Bettina Rehm inszeniert wird.

Die Familie Price, das wird in der monologischen Anfangsszene deutlich, stellt eine Behauptung auf: Wir sind eng verbunden, wir halten zusammen. Und was dann folgt ist ein Kondensat der Schwierigkeiten, die diese Liebe in immer neuen, fein komponierten Eskalationsstufen auf die Probe stellen.

Die Bühne dreht sich weiter, setzt immer wieder andere Figurenkonstellationen zusammen. An der Spinne weht Wäsche in pastelligen Rot- und Blau-Tönen. Der Vater, Ben, mit seiner Frau, Fran, das Zentrum bildend, ist ohnehin immer am Bügeln. Als Rosi nach Hause kommt, wo sie erfährt, dass ihr Lieblingsbruder Marc sich von seiner Freundin getrennt hat. Dabei hatte seine Mutter die doch ins Herz geschlossen!

Schwerer wiegt, dass Pip sich von ihrem Steve trennen will, mit dem sie zwei Kinder hat. Sie liebt ihn nicht, ihr ist eine Stelle in Vancouver angeboten worden. „Du wolltest Kinder, da kriegt man das auf die Reihe“, ätzt giftig Michaela Domes als Mutter Fran. Es gibt wenig Liebe zwischen diesen beiden Frauen. Fran bevorzugt den maximal missratenen Ben, den schmierig-karrieristischen Finanzdienstleistertypen, der mit einer neuen Karre protzt, um seinen Working-Class-Daddy zu provozieren.

Bob, der immer leicht gebeugt schlurfende Anton Koelbl, wird anfangs im Kontrast zu seiner Frau als emotional intelligenter Elternteil etabliert. Bis Marc, der Erstgeborene mit der Schläue ausweisenden Brille, mit seiner Last nach vorne tritt, mit seinem Monolog vor der Drehscheibe: „Ich war nie Teil des Ganzen“, sagt er mit brechender Stimme. Sei froh, möchte man schon fast sagen, aber es liegt schon jetzt ganz viel echter Schmerz in der Luft.

Die behauptete Toleranzgrenze seiner Eltern ist an dem Punkt, an dem Marc seine Transidentität nach all den Jahren endlich offenlegt, erreicht. Das ist, mit lautstarken Erruptionen, der Konflikt, der die vorangegangenen in den Schatten stellt. Fran: „Hör auf zu glauben, dass wir damit umgehen können!“ Die Schauspieler:innen sind mikrofoniert, ihre Atmung, ihr Schnauben sagt teilweise mehr als Bovells hammerharte Sätze.

Was fehlt, ist die Liebe, an der Rosi hängt. „Du musst aufhören, uns so sehr zu lieben“, sagt Marc. „Wir sind am Arsch.“ Es kommt immer noch ärger. Fran offenbart Bob, dass ihr die Liebe in 30 Jahren abhanden gekommen ist. Und Ben fehlt natürlich noch, der vollgekokst und verzweifelt zugeben muss, Unsummen veruntreut zu haben. Er ist Bobs größte Niederlage: Wo die Moral nicht gefruchtet hat, hat die Familie, der Stolz seines Lebens, nicht funktioniert. Und gleichzeitig auch wahr: Wer so am Boden ist, braucht die Mutti wieder.

Regisseurin Rehm hat für diesen zusammengeschnurrten Verfall einer heilen Welt zusammen mit Ausstatterin Clara Wanke unverkopfte, subtile Bilder gefunden: die Wäsche in den Farben der Geschlechter, das ständige Umziehen der Figuren im Hintergrund. Irgendjemand will immer etwas abstreifen, loswerden, ein Leben finden, das passt. Bovells Text ist dabei so dicht und voller Leben, dass zweieinhalb Stunden ohne Längen vergehen. Das gesamte Ensemble widmet sich diesem Text mit viel Aufrichtigkeit und einem realistischen Spiel in sämtlichen psychologischen Nuancen.

Wenn einer herauszuheben ist, dann doch der glänzende Anton Koelbl, der seinen Bob durch diese Leidensgeschichte hindurchtragen muss, einen Mann, dem alles zwischen den Fingern zerrinnt, der zwischen Wutausbruch und Nervenzusammenbruch versucht, Haltung zu bewahren. Dem die Stimme versagt. Es gibt keine Versöhnung und nichts von dem, wie er sich sein Leben im Alter vorgestellt hat, wird eingelöst. Das Publikum verlässt den Saal mit dickem Kloß im Hals.


Dinge, die ich sicher weiß
Von Andrew Bovell
Deutsch von Maria Harpner und Anatol Preissler
Inszenierung: Bettina Rehm
Bühne und Kostüme: Clara Wanke
Lichtdesign: Raphael-Aaron Moss
Dramaturgie: Astrid Reibstein
Mit: Michaela Domes, Anton Koelbl, Sunna Heittinger, Boris Keil, Jonas Kling, Hannah Candolini
2 Stunden 30 Minuten, eine Pause




Twitter Facebook Google

#die ich sicher weiß, #Dinge, #Fürth, #Premiere, #Rezension, #Stadttheater Fürth, #Theater, #Theaterkritik

Vielleicht auch interessant...

Kultur  01.02.-31.03.2024
Nü, Fü, ERL. Tafelhalle
Nach der aufregenden, installativen Tanz-Performance Wer lebt, der lügt des Kollektivs co>labs folgt schon im Februar die nächste Premiere in der Tafelhalle: Katharina Simons inszeniert in Exit Through The Inside mit ihrem Team CUTTY SHELLS einen kollektiven Ritus zur Transzendenz. Der Choreografin geht es inhaltlich um das Gefühl der Sehnsucht nach grenzenloser Verbundenheit und dem Wunsch nach eskapistischen Erfahrungen. Diesen emotionalen Topoi verleihen die Performer:innen mit einem ekstatischen Tanz der Liebe, Harmonie und Zerstörung Ausdruck und entführen das Publikum auf diesem Wege in Sehnsuchtsorte und einsame Schattenwelten. Der Arbeit ging eine intensive Recherche in Sachen Technoschamanismus und Transmedialität voraus. Premiere: 22.02. Weitere Aufführungen: 24.02., 15.03., 16.03. Zudem sei noch der Hinweis auf das ensemble Kontraste gestattet, das am 17.02. einen Abend unter dem Titel Augenblick und Ewigkeit gestaltet. Auf dem Programm steht Morton Feldmans Piano and String Quartett, kombiniert mit einer Installation der Fotokünstlerin Awoiska van der Molen.

Gostner Hoftheater
August Strindberg, geboren 1849, schrieb über 60 Dramen, malte und fotografierte, übte sich in Alchemie, war dreimal verheiratet, psychotisch veranlagt und sein Leben lang von Wahnvorstellungen gequält. Eine faszinierende Figur der Kulturgeschichte, dessen bedeutendes Ehedrama Totentanz zuletzt im Gostner zu sehen war. Wiederaufnahme im noch lange lebendigen ältesten Privattheater Nürnbergs bestimmt möglich. Das Crowdfunding ist mit fast 50.000 Euro beendet worden, ihr könnt natürlich aber weiterhin jederzeit spenden. Es folgen Wochen der Gastspiele und Konzerte und am 27.02. folgt die 5. Episode der Gostner-Soap Ko(s)mische Intrigen. Steffen Radlmaier & Band bereiten sich derweil schon auf eine große Hommage für einen großen Musiker vor: Die Billy Joel Story als Gesprächskonzert am 09.03. im Hubertussaal. Und dann winkt von fern auch schon die nächste Premiere, eine sehr besondere: Früher war auch schon immer alles besser ist das Abschiedsstück von, mit und für das 1-Mann-Ensemble Thomas Witte, der sich, undenkbar aber wahr, in die Rente verabschiedet.

Stadttheater Fürth
Rosie hat die Welt gesehen – oder eher nein, sie wollte die Welt sehen, dann kehrte die 19-Jährige ins sichere Nest ihrer Kindheit zurück. Auch für ihre älteren Geschwister, Pip, Mark und Ben bedeutete das liebevolle Heim der Eltern Bob und Fran einst die Welt. Jetzt müssen sie alle ihren Platz in der echten Welt da draußen finden und ringen dabei mit den Erwartungen ihrer Eltern, die sie nicht mehr erfüllen können oder wollen. Auch Bob und Fran steht eine Krise bevor, wenn das letzte Kind dieses Heim erstmal verlassen hat. Die Familie in Dinge, die ich sicher weiß von Andrew Bovell, wird von großer Liebe zusammengehalten, was nicht heißt, dass darunter nicht komplexe Schichten unausgesprochener Konflikte vor sich hinschwelen würden. Das Stück wurde 2016 in Australien uraufgeführt und ist seitdem ein internationaler Erfolg. Die freie Regisseurin Bettina Rehm holt es nach Fürth. Sie hat zuletzt an der Berliner Vagantenbühne und am Landestheater Schwaben inszeniert. Premiere: 16.02.  

Theater Erlangen
Kleider machen Leute – Uniformen erst recht. Den ultimativen Beweis erbrachte ein Schuhmacher und Ex-Häftling namens Wilhelm Voigt. 1906 war das, als dieser Voigt in Berlin in ausrangierte Uniformen stieg – und sich in den Hauptmann von Köpenick verwandelte. 1931 machte Carl Zuckmayer aus diesem irrsinnigen Stoff ein Theaterstück, das später auch noch mit Heinz Rühmann verfilmt wurde. Ein Klassiker über Status, Klasse und Untertänigkeit. Und heute? Sind die Dresscodes doch eigentlich kaum noch relevant, oder? Im Theater Erlangen befragt Regisseurin Antje Thoms, seit vergangener Spielzeit Schauspiel-Chefin in Regensburg, den Klassiker auf Gegenwärtigkeit. Die nächste Premiere in Erlangen wird dann ein Live-Hörspiel sein. Der in Erlangen immer gern gesehene und sowieso Live-Hörspiel-Experte Eike Hannemann inszeniert Douglas Adams' Per Anhalter durch die Galaxis mit rasanten Dialogen und einer Geräuschkulisse, die die Schauspielenden mit Alltagsgegenständen entstehen lassen. Zu sehen ab 23.02.




   >>
20240401_Pfuetze
20240401_Stadttheater_Fürth
20240401_Staatstheater
20240401_Theater_Erlangen
20230703_lighttone
20240401_Idyllerei
20240401_Comic_Salon_2
20240201_mfk_PotzBlitz
2024041_Berg-IT
20240401_Neues_Museum_RICHTER
20240201_VAG_D-Ticket
20240401_ION
20240411_NbgPop_360
20240401_Wabe_1
20240401_D-bue_600