Preisgesang für eine Theater-Saison

FREITAG, 1. JULI 2016

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Theater

Den OSCAR (der so heißt, weil er wie der Onkel einer Hollywood-Sekretärin aussah) gibt es bekanntlich für den amerikanischen Blick aufs Weltkino, die LOLA (die nicht rennt, sondern den Blauen Engel als Schutzpatron repräsentiert) flattert gegen die Selbstzweifel der einheimischen Filmindustrie. Den geballten FAUST (unter Goethe tun sie es nicht, die deutschen Theaterintendanten), schwingt der Bühnenverein als Trophäe gewordenen Ritterschlag für hausgemachte Liveprodukte. Kann man das runterbrechen aufs kleinere Format, auf die Kultur vor der Haustür? Na freilich, wenn man will.

 

DER KLEINE DÄUMLING VOM FAUST

Der Gedanke zwickt, ob sich nicht als kleiner FAUST-Däumling wenigstens einmal ein Theater-CURT aus Franken räuspern könnte. Jetzt, da die Spielzeit endet und mancher Besucher für seine Privatbilanz sowieso ein bohrendes „War da was?“ in die Welt setzt.

WENN DAS BLUT IN DIE ARIE TROPFT

Jaja, da war was. Neulich nach der Premiere der letzten Opernhaus-Produktion der Saison in Nürnberg, wo eine  Jung-Regisseurin den überfürsorglichen Verdi-Papa Rigoletto als Kidnapper entlarvte, wurde wieder mal klar, wie breitspurig die Reize sind, die von solchem Bühnenspektakel ausgehen. Die allgemeine Reaktion war Standard, sobald es Buh-Rufe gibt, werden die Bravo-Rufer lauter. Beschützerreflexe! Drumherum wird differenziert: „Nie im Leben ist das eine Gilda“, schimpfte Opernfreund A schon zur Pause. „Alle singen viel zu laut“, legte Opernfreundin B nach. „Gegen dieses Orchester kommt keine Stimme nicht an“, erklärte ein Sachkundiger. „Soll das originell sein?“, spottete der Nachbar, der sowieso gegen Regisseure ist, über die Regie. Seine Begleiterin, 50 Jahre Abo-Erfahrung in der Oper, mochte den Trend zum Einheitsbühnenbild immer noch nicht: „Wohnen die alle im gleichen Haus?“ Opernfreundin C, bekannt für die rigorose Ablehnung jeglicher Neudeutung im Theater, griff fürs Verurteilen der Details („Warum ritzt die sich beim Singen die Arme auf?“) in Verkennung der Wortbedeutung mehrfach nach dem Geiselbegriff „einfallslos“. Da hatte der andere Opernfreund an der Garderobe sein Fachurteil noch gar nicht abgegeben: „Muss ganz schön teuer gewesen sein, das Bühnenbild“. Ja, sagt seine Begleiterin, „das soll in der Oper auch so sein, mir gefällt das“.  „Bravo“, hatte ein junger Mann immer wieder gerufen, und als jemand deswegen indigniert den Kopf schüttelte „Bravo-bravo“.
So aufwühlend ist Theater also – manchmal. Manchmal ist es auch banal, besserwisserisch, gestelzt, mit Zeitgeist parfümiert, von Tradition benebelt, mit Trara nichtssagend. Oder überrumpelnd, was nur denjenigen treffen kann, der samt seinem Kunstverständnis nicht mit dem Rücken zur Wand steht.

Muss man ja alles erst mal rekapitulieren beim Blick zurück aufs verspielte Jahr. Wo mehrfach die Geflüchteten, die wir aus der Tagesschau kannten, wie ein theatrales Abbild der Realität als maskierte Statisten („Götterdämmerung“ Nürnberg) oder originale Aktivisten („Neuland“ Erlangen) auftauchten, beim Entertainment die Frage nach dem „guten“ Geschmack überknattert wurde und die oft wie eine Rheumadecke auf pensionsberechtigte Texte geworfene Zeitgenossenschaft die windigen Kämpfe um die Frage der Be-Deutung erwärmte. Dennoch, es ist was geblieben – entfesseln wir einfach mal das Lob.

Wenn es denn den Theater-CURT gäbe, den gestreuten Preis für ein Bühnenjahr unserer Region, ich würde ihn am Ende dieser Spielzeit so vergeben:

SCHAUSPIEL-PRODUKTION

Textflächen-Vermittlerin Elfriede Jelinek hat mit  ihrer Gegenwarts-
Kommentierung nach Antiken-Muster unter dem Titel DIE SCHUTZBEFOHLENEN den Theaterleuten jede Menge Spielmaterial hinge-schaufelt. Unter der Regie von Bettina Bruinier entwickelte das Ensemble daraus eine Argumentationsschlacht voller Witz und Wut. Die Neuentdeckung der dramaturgisch einwandfreien Denkpause inbegriffen. Nach „Kontrakte des Kaufmanns“ der zweite Fall, bei dem Nürnbergs Schauspiel eine Jelinek-Uraufführung durch Reduzierung aufs Wesentliche nochmal erfindet.


OPERN-AUFFÜHRUNG

Was Georg Schmiedleitner (Regie), Marcus Bosch (Dirigent), Stefan Brandtmayr (Bühne)  und das ganze, festspielreife Sänger-Ensemble bei Wagners vierteiligem „Ring des Nibelungen“ hinlegten, wurde von Stück zu Stück besser. In der GÖTTERDÄMMERUNG war der Höhepunkt erreicht, auch bei den Solisten (Vincent Wolfsteiner, Rachael Tovay, Antonio Yang), die den herausfordernden Signalen der Regie bei gleichzeitig optimal eingesetzter Stimmkraft folgten. Sie kommen alle wieder 2017 zum mehrmaligen „Ring“-Zyklus.


OFF THEATER

Ein Kult-Buch, das auf dem Scheiterhaufen der Nazis gelandet war, als Wiederentdeckung auf der Bühne. Ödön von Horváths JUGEND OHNE GOTT, der Roman eines Außenseiters auf Abruf,  wurde am Gostner Hoftheater in der Regie von Wenke Hardt aus Berlin zum intelligenten Typen-Kabinett mit hohem Thriller-Anteil. Gerd Beyer, Matthias Rott und Thomas Witte im Wechselrahmen des rasenden Rollenspiels, das den großen Dramatiker mit Feingefühl aus der Romancier-Reserve lockte.


THEATER-WUNDER

Eine bessere Antwort aufs zähflüssige „Leitkultur“-Lamento in der politischen Debatte war kaum denkbar. Mit dem interkulturellen Projekt NEULAND in Regie von Jakob Fedler, wo direkt aus laufenden Erlanger Sprachkursen neun Geflüchtete aus Pakistan, Afghanistan, Syrien, Irak und der Ukraine für den Versuch gemeinsamer Annäherung an die Stolperstellen der deutschen Märchen-Poesie in der „Garage“ verpflichtet wurden, gelang ein kleines Wunder.  „Neuland“ brachte mit dem großartigen Lotsen Christian Wincierz im Zentrum auch  Neues Theater, nämlich eine ganz eigene Ästhetik spielerischer Erforschung. Um es mit dem bevorzugten Wortkürzel der Aufführung für die Quittierung gelungener Szenen zu sagen: „Juhu!“


PROJEKT

Am Fürther Theater sind in den letzten Jahren vom Junioren-Ensemble KULT bis zu „Bürgerbühne“-Formaten viele Zusatz-Initiativen zum laufenden Vorstellungsbetrieb entstanden. Fürs Projekt ANDERS HERUM DENKEN, bei dem die Konzeptentwicklung in Händen der Gruppe mit dem schönen, ausbaufähigen Namen „Zusammenkunst“ lag, wagten sie den gemeinsamen theatralischen Kraftakt einer spartenübergreifenden „Gesellschafts-Inszenierung“ in Partnerschaft mit Johannes Volkmanns Papiertheater und der kunst galerie fürth.  Ein Experiment, das nach Zukunft verlangt.


REGIE OPER

Sein Theater ist fast immer unbeirrbar eigenwillig, manchmal mit genialischer Durchschlagskraft. Eine Zumutung? Selbstverständlich! Für Janaceks dunkle Straflager-Ballade „Aus einem Totenhaus“, die den Zuschauer bei aller kompositorischen Sachlichkeit in melancholischen  Schüben bewegt,  entwickelte CALIXTO BIEITO (Regie und Bühne) sein atemberaubend vieldeutiges Schockbild für Klangreflexe, eine singuläre Musiktheater-Installation mit Doppeldecker. Kein Fall für stille „Genießer“, ein Monument der Wahrhaftigkeit von Musiktheater. Wir hoffen auf Bieitos  „Trojaner“-Regie 2017/18.


REGIE SCHAUSPIEL

Er hat Woyzeck eine Stunde nackt im Kreis laufen lassen und Richard III. mit einer Frau besetzt, aber diesem Quasi-„Klassiker“, diesem einst auch in der konventionellen Verfilmung so nervenzerrend realistischen Zukunfts-Roman „1984“ verhalf er feinfühlig in ein neues, albträumerisches  Kunst-Leben. CHRISTOPH MEHLER  löste mit der Fortschreibung der Überwachungsstaatsaffäre auf der Cinemascope-Bühne der Kammerspiele die Strukturen der moralisierenden Fabel so auf, dass dem Zuschauer gar nichts anderes bleibt, als das Mosaik der Gedanken mit Blick auf kommende Zeiten für sich neu zu ordnen.


SÄNGER

Als er vor Jahren nach Nürnberg kam, war der Sänger VINCENT WOLFSTEINER keineswegs  unbekannt, aber zur Galerie der echten Helden-Tenöre zählte ihn niemand. Jetzt, da er (nach gelungenen Kraftakten als Otello und Tristan) mit Wagners „Götterdämmerung“-Siegfried so bravourös bei der mörderischsten aller Partien angekommen ist,  wird sich das ändern. Hat sich schon geändert, denn die renommierte  Frankfurter Oper warb ihn ab. Aber er wird zu den „Ring“-Zyklen 2017 wiederkehren und erneut zeigen, was bei Wagner in der Kombination von intelligent eingesetzter Stimm- und Komödiantenkraft alles möglich ist.


SÄNGERIN

Die Vielseitigkeit dieser Sopranistin, die nach scharfen Kurven zwischen Wagner, Benatzky und Mozart in dieser Saison mit mindestens ebenso gegensätzlichen Größen wie Puccini, Rameau und Verdi nachlegte, erinnert an ferne Vergangenheit, als die Spezialisten noch nicht den Ton in der Opernwelt angaben, sondern am meisten die abenteuerlustigen Alleskönner verehrt wurden. Respekt also für MICHAELA MARIA MAYER, auch dafür, wie sie bei den mutwilligen Überschreitungen gelegentlich die Fachgrenzen allerliebst angestupst hat.


SCHAUSPIELERIN

Sie schafft das mit Offensiv-Mimik und vollem Körpereinsatz sogar  innerhalb eines Stückes – oft zu faszinieren und manchmal zu nerven. Die Rampe war immer ihr fixiertes Ziel, der Zuschauer durfte sich als bevorzugter Adressat fühlen. In den turbulentesten Nürnberger Spielplan-Angeboten „Der nackte Wahnsinn“ und „Ewig jung“, wo die junge Schauspielerin JOSEPHINE KÖHLER wie eine lebende Energiespende wirkt, ist das auch so. Doch man staunt, wie sich ihre explosive Komödiantik  inzwischen ins Ensemble-Tableau integriert. Und dennoch gilt weiter, was ihr Markenzeichen ist: Die Jung-Schauspielerin kann vieles, nur übersehen werden kann sie nicht.


SCHAUSPIELER

Sein Werther gehört  zu den bleibenden Kult-Figuren im Erlanger Spielplan, Goethes rettungslos liebender, im Gefühlswirbel verlorener Jüngling. Jetzt hat MARIO NEUMANN auch als an Gott und der Welt, vor allem am Versagen des eigenen Vaters verzweifelnder Sohn Semi in der anspruchsvollen Bühnenfassung von Josef Bierbichlers ländlicher Jahrhundert-Saga „Mittelreich“ auf den Punkt gespielt. Wie er sich da mit wortgestützter Turner-Kür am Ring geradezu choreographisch gegen das Schicksal streckt und am Ende den letzten Satz der Aufführung („Die Erde ist keine Heimat“) als Fallbeil auf falsche Hoffnungen sausen lässt – großes Theater.


BALLETT

Die Tanz-Sparte des Staatstheaters Nürnberg hat in den letzten Jahren viele Fans dazugewonnen. Goyo Montero baute die Compagnie als großes Kollektiv aus, denn mehr noch als der einzelne Solist gilt in seinen Stücken das ganze Zwanziger-Tableau des Talent-Ensembles. Dennoch sind wie seit Jahren auch in dieser Saison wieder bei jeder Premiere die Solo-Einsätze von SAYAKA KADO (weiter im Ensemble) und MAX ZACHRISSON (nächste Saison leider nicht mehr in Nürnberg) aufgefallen. Typisch für Monteros Entwicklung, repräsentativ für das Können der ganzen Truppe.


SHOWTIME

Der Klatschmarsch allein kann es nicht sein, auch beim hochgewirbelten Spaß wirft das Theater, sofern es seine Seele nicht verkaufen will, den Anker aus nach einem Bodensatz von tieferem Sinn. Mit Erik Gedeons Seniorenrevue auf der Pflegestufe EWIG JUNG (Schauspielhaus Nürnberg) und dem „intergalaktischen Liederabend“ samt Helene-Fischer-Double um eine Quiz-Show für Gestrandete unter dem Titel HEIMAT ERLANGEN (Markgrafentheater) sind zwei attraktive Luftballons aus der Saison-Produktion im stabilen Entertainment-Schwebezustand. Sie bleiben uns erhalten!

Anerkennung, die in ihrer Halbwertzeit weit übers Ende der jeweiligen Aufführung hinaus reicht, ist am Theater eine Rarität. Dabei wäre die prüfende Neugier der Zuschauer auf die Entwicklung dieser, letztlich ja  „ihrer“ Bühnen, die wichtigste Voraussetzung für eine Perspektive. Mit Diskussionen, vielleicht mit gezielten Preisgesängen, am besten mit aufregenden Aufführungen. Auf ein Neues!

Den Däumling vom FAUST, den Theater-CURT, gibt es nicht.
Aber gut, dass wir drüber geredet haben.




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