Dem Egers sei [Frau ihr] Welt #23

FREITAG, 8. NOVEMBER 2013

#Egersdörfer

Ich habe die Menschen beobachtet. Ach was! Ich habe die Menschheit beobachtet – immer und immer wieder. Niemand, keine Sau – ob ihm oder ihr Frohsinn oder Mühsal in das Antlitz und somit das kümmerliche Leben eingekratert ist, schaut während des Gehens ohne Unterlass auf den Boden, selbst nicht bei Kopfsteinpflaster - welches ja nicht nur in dieser Innenstadt großzügig verstreut ist. Ich allerdings muss beim Gehen immerzu auf den Fußweg starren, und zwar beharrlich. Jeden Schritt muss ich mit Bedacht wählen. Denn es ist so: eine meiner Hirnhälften ist alleinig für das Gehen zuständig. In der anderen Hirnhälfte befindet sich alles andere: Hass, Haushalt, Ehe, Shopping, Haarentfernung.

IM RANDBEREICH SIGNALARME STRUKTUREN
von Natalie de Ligt, dem Egers sei Frau

Was immer das für Rückschlüsse auf mein Denkvermögen zuzulassen vermag, Folgendes ist gesichert: meine linke Hirnhälfte, die für das Gehen, ist etwas leichter als die rechte. Denn dort sind ja viel mehr Sachen drin. Während also alle Menschen dieser Erde einen Kopf wie einen Wackelbecher haben, der sich bei jeglicher Eruption, oder wenn man ihn anschubst, wieder von selbst in die aufrechte Position zurückwackelt, das heißt, nicht zur Seite fällt wie ein nasser Sack, fehlt meinem Kopf diese Funktion. Mein Kopf ist quasi kippelig. Er ist anfällig für Schlagseite. Was, wie schon angedeutet, bezogen auf etwaige Hirnleistungen, zunächst ein rein formales und nicht qualitatives Kriterium darstellt.
Nun kommt es bei mir etwa alle anderthalb Jahre vor, dass mein Kopf während ich laufe unvermittelt nach rechts schwappt – auf die schwere Seite, wo alles drin ist außer Gehen. Von diesem Kippvorgang wird geradewegs mein ganzer Körper erfasst. Ich denke noch kurz Wörter wie Ente, Titanic oder Costa Concordia, und dann erreicht die Unwucht auch schon meinen rechten Fuß und ich knicke um – mit dem Sprunggelenk – und ziehe mir entweder eine Weber-A-Fraktur zu, oder, wie letztlich, ein Knochenmarksödem mit Verdickung und Signalanhebung des Ligamentum talofibulare anterius.
Alles in allem zeigten sich im MRT sogenannte „Im Randbereich signalarme Strukturen“. Ich weiß jetzt außerdem, dass mein Innenbandapparat kaum Bereitschaft für die Aufnahme von Kontrastmittel zeigt, ganz im Gegensatz zu meinem Außenbandapparat, die unersättliche Sau! Zudem ahnte mein Sprunggelenk den vertrackten Ausgang sowohl der Bayern- als auch der Bundestagswahl voraus. Im Befund ist von einer „fibrösen Koalition“ die Rede.

Aber irgendwie geht es gar nicht darum, weder um das Sprunggelenk, noch um seine hellseherischen Fähigkeiten, dessen partielle Verweigerungshaltung, noch um mein entsetzliches Leid, weil ich sechs Wochen eine Bandage tragen muss, die, glaube ich, eine allmähliche Fehlstellung des Fußes erzeugt.
Es geht auch nicht um breite, rezeptpflichtige Schmetterlingsabsätze, die ein feixender Orthopäde an jeden meiner Schuhabsätze anbaut, wie Spoiler an einen Opel Kadett – nur damit ich nicht mehr umknicken kann – und die hässlich sind wie die Nacht und die meinen gesamten Schuhpark bis an mein Lebensende verunstalten werden.
Es geht auch nicht darum, dass ich nach dem Fuß-Unglück in unserer Wohnung – von meinem angetrauten Mitbewohner kategorisch als Bierhorst bezeichnet – fast verhungert wäre, weil das rundliche Pelztier mich unmittelbar nach dem Missgeschick allein im Horst zurück ließ. Zuvor packte er alle Lebensmittel in einen Rucksack, zog von dannen und schickte mir drei Tage später per Bote einen Sack Schmutzwäsche und einen Karton dreckiges Geschirr zu, beigefügt ein Zettel, auf dem stand: „Wasch, spül!!! Wenn ich wieder komme, kochst Du für mich und die Gabi!!!!“ Die Befehle waren jeweils mit drei und vier Ausrufezeichen versehen.
Gabi ist die neue metaerotische, außereheliche Liebschaft von meinem Specht. Sie hat sich den Hintern an den Busen und die Brüste unters Steiß operieren lassen. Po- und Brusthälften allerdings nicht neben- sondern übereinander. Eine sogenannte Doppel-Tausch-OP. Es ist nicht schlecht gemacht. Mein gurrender Täuberich findet es „spannend“. Ich verzeihe ihm seine Abenteuer. Denn jedes der Dämchen bringt ganz eigene Vorlieben und Fähigkeiten mit, die auch mir zugute kommen.
Gabi beispielsweise hat eine künstlerische Ader. Sie erschafft reizende Miniaturskulpturen. Sie verwendet hierfür ein besonderes Naturmaterial: und zwar ausnahmslos die Bröckchen von Speiseresten, die mein Mann – auch sehr kunstvoll – während der primären Zahnreinigung aus seinen gewaltigen Zahnzwischenräumen auf den Badezimmerspiegel katapultiert. Nach drei Tagen, ergo sechs Anwendungen, ist der Spiegel derart zersiedelt, dass man sein eigenes Gesicht nur fragmentiert zu sehen bekommt.
Gabi nennt diesen Zustand immer liebevoll „Meine Milchstraße.“ – Die Milchstraße hat viele Gesichter, je nach dem, was es zu essen gab – und nach Tagesform meines Kugelfischs. Schier unendliche Variationen der Gesamtkomposition tun sich auf der Spiegelfläche auf: Der gute Mann arbeitet mit und ohne Goldenem Schnitt, er lässt abstrakte Anordnungen entstehen, die sich am aktuellen Diskurs der Gegenwartskunst orientieren, mal locker verteilt, mal in konzentrierten, äußerst präzisen Verdichtungen, ein anderes Mal tauchen Formationen auf, die auf klassische Bildgattungen Bezug nehmen und an Landschaft oder auch mal an ein Stillleben oder Porträt denken lassen. Aber auch der Form, Farbe und Größe der einzelnen Brocken sind keine Grenzen gesetzt: Zu Beginn glänzen und schillern sie, als gäbe es kein Morgen, und mischen sich unter jene, die schon zwei Tage alt sind und das – vor allem auch bei alten Ölgemälden gefürchtete – Krakelee aufweisen.
Gern wäre Gabi während dieser, ihre Milchstraße erschaffende Mundperformance dabei. Aber da sage ich im Hinblick auf den zu wahrenden Restanstand: „Das geht nicht! Bröckchen holen: Ja! Ficken: In Ordnung! Aber Anwesenheit im Badezimmer: Nein!“

Aus schwer nachvollziehbaren Gründen können die Speisebatzen die Größe des Zahnzwischenraums, aus dem sie stammen, deutlich überschreiten. Darüber hinaus besitzen die Brocken die Fähigkeit, mit der Umwelt in symbiotischen Kontakt zu treten, also eine fibröse Koalition einzugehen. Am liebsten tun sie das mit den Fruchtfliegen, die sich direkt aus den Bröckchen entwickeln können oder mit jenen Fruchtfliegen, die von der Küche ins Bad migrieren. Beide Kolonien, ob nun mit Migrationshintergrund oder ohne, vermögen es, sich tagelang und mit heiterem Gesumm an der Brocken-Leckerei zu laben.
Vor Gabi war meine Haltung zu diesem Badezimmerspiegel-Dilemma eindeutig: Ekel, Hölle, Weber-A-Fraktur! Doch meine Einstellung hat sich geändert. Auch wenn der Spiegel wieder einmal kurz vorm Umkippen ist, denke ich: „Obacht, nichts anrühren! Kunst! Das holt die Gabi!“ Mit ihr ist eine neue Zeit angebrochen, denn sie spachtelt die Brocken und Bröckchen unermüdlich und ebenso umsichtig ab, verbringt sie in ihre Arbeitsstube und formt daraus tragische Figuren aus Funk, Fernsehen und Politik.

Natalie de Ligt


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EGERSDÖRFER UND ARTVERWANDTE - u.a. auch mit "Der Frau ihr Welt" von und mit der scharfsinnigen Kunsthistorikerin Natalie de Ligt.
Nummer 2 findet am Dienstag, den 12.11., ab 20 Uhr im KunstKulturQuartier (ex K4) statt (und wird ganz offiziell von curt präsentiert!).
Zu den Artgenossen im November zählen das geniale Cartoonisten-Gespann Hauck und Bauer, Träger des Deutschen Karikaturenpreises, sowie Thomas Lienenlüke, Comedy-Autor zahlreicher Fernsehsendungen und Kabarettprogramme (z. B. Satire-Gipfel, Derblecken auf dem Münchner Nockherberg). Ebenfalls mit von der Partie sind der zum Kult avancierende Praktikant Philipp Moll, die unterwürfige Gespielin Carmen sowie - nach der bestandenen Feuertaufe im Oktober - Egersdörfers Ehefrau, die geistreiche und nicht minder scharfzüngige Kunsthistorikerin Natalie de Ligt. Durch einen heiter-bissigen Abend führt das einer bunt-verrückten Popwelt entsprungene „Nummerngirl“ Bird Berlin (Sänger und Tänzer Bernd Pflaum).

Mehr von Matthias Egersdörfer: www.egers.de.
Siehe auch: Ankündigung und Nachbericht zu Egersdörfer und Artverwandte - Teil 1
(aus curt 10-2013)




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#Egersdörfer

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TAFELHALLE. Es ist ja nicht so, als ob der feine Herr Matthias "Egi" Egersdörfer in der Vergangenheit von den Preisjurys ignoriert und übergangen worden wäre. Das nicht selten unflätige Gebaren dieses grob wirkenden Mannes wird seit 2007 mit verblüffender Regelmäßigkeit ausgezeichnet: Hamburger Comedy Preis, Kabarett Kaktus, Passauer Scharfrichterbeil, Stuttgarter Besen, Böblinger Fingerhut, Hassfurter Warentrenner, Göppinger Beutel, ... Einer fehlte! Und nunmehr endlich hat unser Achill den Olymp erklommen und darf sich den, noch dazu von seiner Geburtsstadt gestifteten und vom dort ansässigen Burgtheater vergebenen, Deutschen Kabarettpreis in seine stets penibel polierte Preisvitrine stellen. Er ist mit 6.000 Euro dotiert, was für einen A-Prominenten aber zweitrangig sein dürfte und wahrscheinlich mittlerweile automatisch an ein Witwen- und Waisenhaus überwiesen wird.
Aber im Ernst! Der curt ist mehr als stolz über ein Wort, das nur aus fünf Buchstaben besteht, weil wir das sagen dürfen: UNSER Egi gewinnt den Deutschen Kabarettpreis 2024. Er ist nicht nur, auch das dürfen wir hoffentlich sagen, ein Freund des Hauses, er ist auch, denn einige Gesichter hat der curt bereits kommen und gehen sehen, er ist, das dürfte korrekt so sein, unser langjährigster Schreiber, der seit hunderten und hunderten von Ausgaben unser schönes Heft einleitet. Der Herr Egersdörfer ist einer, der nicht nur, wie es die Jury beschreibt, mit Mut, Vielseitigkeit und Beharrlichkeit seinen Platz in deutschen Kabarettszene erobert hat und mit seinem Bühnenego auf manchmal verstörende Weise Schmerzgrenzen auslotet, nein, er ist auch einer, der sich trotz hallenfüllender Tourneetätigkeit landauf, landab und einem Millionenpublikum im Öffentlich Rechtlichen Fernsehen, nicht zu schade ist, mit absoluter Verlässlichkeit sein Textchen für die kleine Kulturpostillenklitsche in der Heimat abzuliefern. Damit unsere Leser:innen sich in jedem Heft wenigstens für die zwei bis vier Seiten auch mit Literatur mit Anspruch auseinandersetzen dürfen. "Im deutschsprachigen Kabarett gehört Matthias Egersdörfer zu den ganz großen Geschichtenerzählern" – und im Nürnberger Kulturmagazinjournalismus erst recht!
Vielen Dank, Matthias, und herzlichen Glückwunsch! Er trifft bestimmt nicht den Falschen, dieser Preis.
www.egers.de

Förderpreis LARA ERMER
Der Förderpreis des Deutschen Kabarett-Preises für das Jahr 2024, dotiert mit 2000 Euro, vergeben vom nürnberger burgtheater, geht an LARA ERMER, geboren in Fürth, mittlerweile leider abgewandert, aber immer noch auf den hiesigen Bühnen zu sehen. Lara Ermer besitzt die Gabe aktuelle Zeitgeistthemen so zu beleuchten, dass daraus absurd-komische Miniaturen entstehen. Thematisch führt sie dabei souverän die satirische Pionierarbeit ihrer Vorgängerinnen fort. Den jungen Frauen im Kabarett gibt Lara Ermer eine starke Stimme. Bitte mehr davon!
www.laraermer.com

Sonderpreis SEBASTIAN 23
Sebastian Rabsahl, auf der Bühne bekannt als Sebastian 23, ist ein Pionier der Poetryslam-Szene. Er verbindet gekonnt und zeitgemäß Wortspiel, Musik, literarische Kurzformen und Politik. Mit seinem kabarettistischen Schaffen bespielt er alle aktuellen Formate der öffentlichen Präsenz gleichermaßen. So überwindet er virtuos die Genregrenzen und erweitert den Spielraum für seine Themen.
www.sebastian23.org

Der Verleihung, moderiert von Luise Kinseher, findet am 11.01. in der Tafelhalle statt.
www.burgtheater.de

Am 24.01. präsentiert der Herr Egi dann sein neues Programm im Gutmann am Dutzendteich:
www.gutmann-nuernberg.de  >>
AKADEMIE DER BILDENDEN KüNSTE. Text Matthias Egersdörfer

Der Moll war ein sehr langsamer Mensch. Er fuhr zum Beispiel mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit Fahrrad. Wäre er auch nur eine Kleinigkeit langsamer gefahren, wäre er schlichtweg umgefallen. Sah man den Philipp zum Beispiel von der Weite aus auf seinem alten Holland-Rad, musste man annehmen, dass er völlig reglos darauf saß und sich nicht bewegte. Auf der anderen Seite verfügte der Moll über eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Jahrelang waren wir gemeinsam zum Christlichen Verein Junger Menschen hinmarschiert und hatten mit schier unermesslichem Übermut die Bibel bis knapp zum Irrsinn zerdeutet, hernach in herzlicher Zugewandheit mit den anderen Christenknaben bis zum Ohrenglühen gerauft und auch ansonsten keinen evangelischen Blödsinn ausgelassen. Dann, von einem Tag auf den anderen, war der Philipp nicht mehr hingegangen. Hat wortlos die Kündigung eingereicht. In Ewigkeit. Amen. Aus die Maus. Ich habe es am Anfang nicht begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Das holdselige Himmelreich hatte seine Grenzen, von engstirnigen Glaubensbeamten errichtet. Da konnte man sich sauber daran derrennen. Und zum Müffeln hat es allenthalben auch schon angefangen gehabt. Junge Männer waren dazu gekommen, die sich für etwas besseres hielten, und vorbei war es mit unserem klassenlosen Bubenclub. Der Moll hatte einen Riecher. Dann hat er sich verzupft. Ohne Getu. Ohne Spektakel und großes Reden. Ich habe länger dazu gebraucht, das zu begreifen.
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