Theater: Andi Europäer - Eine Völkerschau

FREITAG, 31. JANUAR 2020, STAATSTHEATER

#Kritik, #Kultur, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

PREMIERE. „Germany. Why not!“ steht auf dem Plakat mit dem staatstragenden Bundesadler – und es dauert nicht lange, bis das als blanker Hohn mit Behörden-Siegel erkennbar wird.

Wir Teilhabende, oben die Performer und unten das Publikum, sind womöglich in einer zu engen Lücke zwischen den TV-Formaten Dschungelcamp und BigBrother eingeklemmt, aber die schnatternde Moderatorin des schwarzrotgoldbunten Abends, die uns gleich beim ersten Auftritt im Namen der Bundesrepublik ein kumpelhaftes „Heike“ anbietet („Ich habe früher sehr viel mit Kindern gearbeitet“) kennt sich aus mit Gewissensdruckstellen und dem befreienden Pfiff diverser Wahlkampf- oder Spielshow-Erregung. „Wer bis zum Schluss bleibt, kriegt einen Kugelschreiber“, verspricht sie dem „Saal voller einheimischer Zuschauer“, den der Autor Philipp Löhle in seinem neuen Stück „Andi Europäer“ neben fünf Prototypen aus deutschen Landen auf der Besetzungsliste wünscht. „Einheimisch“ bedeutet in diesem Fall Afrika, denn dort sind Super-Heike und ihr handverlesenes Konfliktsampler-Ensemble mit einer Art küchenpsychologischer Problem-Peepshow unterwegs. Abgesandte im Auftrag des Auswärtigen Amts, leitkulturell dem Goethe-Institut und der RTL-Familie in etwa gleicher Weise zugeneigt, also annähernd „ganz normale Leute“. Sie sollen mit ihrer Enthüllungs-„Information“ am lebendig abschreckenden Beispiel die vermuteten Fluchtkandidaten von Irrgedanken an einen verheißungsvollen Europa-Traum abbringen. Schaut her, alles gar nicht so toll.

Gibt es seit 2015 als Projekt des deutschen Außenministers. „Ist wirklich so!“, kommentiert der Autor per Projektion die Nachricht und hat damit nach wenigen Minuten den ersten Befreiungslacher des Abends. Es wird fortan viel gelacht. Mit konstruierter Reality das Gruseln lehren? Eher Improtheater-Prophylaxe mit Realitätsansage, wenn frisch montierte Beamer die Übersetzung der dramatisierten Krisenbeispiele ausspucken und zur besseren Übersicht die ordentliche Bearbeitung von Reizthemenkomplexen angekündigt wird: History wird dem geneigten Zuschauer vom andern Kontinent für den weiteren Verlauf versprochen, auch Personality, und die beiden finalen Überschriften lassen in dieser ungewöhnlichen Nachbarschaft schon mal ruckartig aufmerken: „Kulinarisches“ und „Abschiebeverfahren“. Da kommt Freude auf.

Der immer wieder gern am Rand der Farce balancierende Philipp Löhle, seit voriger Saison offizieller Hausautor in Nürnberg, was er hartnäckig mit dem Begriff „Haustronaut“ persifliert, hat mit der Grenzland-Groteske „Am Rand (ein Protokoll)“ und der Globalisierungsparabel „Das Ding“ schon zwei erfolgreiche Produktionen im laufenden Nürnberger Spielplan. Im neuen, erst zum Finale aus der Kabarett-Satire halbhoch ins Mystische hochschnellenden Text, wenn plötzlich ein abgeschlagener Häuptlingsschädel aus deutschen Kolonialzeiten als Trumpf ins Spiel geworfen wird, räumte er fast alle Szenenbeschreibungen wie Hindernisse beiseite, die eine Inszenierung festlegen könnten. Große Freiheit für die Interpreten, denn beim Lesen dieser Versuchsanordnung übers kontrollierte Deutschsein samt reichlich unterlegter Pointen-Federung kann man sich auch ein durch und durch bedrohlich verrücktes Drama vorstellen. Sagen wir mal: theoretisch.

Als Munition fürs reisende Rückkoppelungskollektiv, das da mit Seitenblick auf die eigene Biografie in zunehmend kreischender Auseinandersetzung perverse Travestien von Entwicklungshilfe durchrüttelt, konstruierte Löhle Selbstzerstörungsdialoge, die es krachen lassen. Auf Papier schwingt dieses Wortgefecht in Kettenreaktion zwischen Wut, Spott und unterdrückter Verzweiflung, für die Bühne braucht es Boden unter den Füßen. Der verschreckte Titelheld Andi mit dem Hang zur gelegentlichen Damenbekleidung und unter ständigem Rauschgiftverdacht neben der ostdeutsch dreifach alleinerziehenden „Frisöse“, dem nach einem Männerbeauftragten und „HeToo“ rufenden Stammtischpöbler mit Behördenstrafversetzung nach Ochsenfurt/Unterfranken und dem dunkelhäutigen Vorzeige-Migranten, der immer wieder mit elfenbeinweißen Zähnen „Guttentack“ sagt, bis er, der eigentlich diplomierte deutsche Schauspieler mit dem Karriereknick, die gutbezahlte Fake-Rolle nicht mehr behalten mag. „Volldeppen mit Übertiteln“, lautet die Selbstbeschreibung eines Beteiligten fürs ganze Team. Leicht übertrieben.
 Regisseurin Tina Lanik, die zuletzt im Opernhaus nebenan Puccinis doch recht anders konstruierte „Madama Butterfly“ sachkundig bearbeitet hatte, nimmt den Freibrief zur Akzentuierung gerne entgegen und ätzt jeder Figur gefährliche Kanten hin. Ihre Entscheidung für knallharte Farce kommt schnell wie Blitzeis. Da gibt es keinen Halt, der Rest ist eine zweistündige Rutschpartie durch Vorurteile. Lanik lässt von Ausstatter Patrick Bannwart vier Kabinen wie fürs Wachsfigurenkabinett auf die breite Kammerspiel-Bühne rollen, holt die Insassen aus ihren Eigenheimchen zur Demonstration von Egotrips und positioniert „die Chefin“ mit dem Amtszynismus wie festgewachsen im Zentrum dieses Tumults der Widersprüche. Euro-Patriotin Heike (Stephanie Leue macht daraus eine satirisch hochartifizielle Luftnummer der Floskel-Saltos, ratternd in Worten und Blicken über alle Selbstgewissheit hinweg von einem Absturz zum andern taumelnd) ist Motor des Stückes und der Aufführung. Doch der Motor stottert, Löhles Absichten verläppern ausgerechnet bei seiner Protagonistin im Schnoddersprech des Ungefähren. Die Personen drumherum gewinnen in detailfreudiger, meisterlich durchgehaltener Personenregie verblüffende Schock-Schattierungen von Glaubwürdigkeit: Nicolas Frederic Djuren, der biedere Andi in Seelen-Auflösung, der Krawallspießer Ansgar als polternde Bierbauchstudie von Raphael Rubino und Amadeus Köhli mit dem wie gemeißelt einstudierten Dankbarkeitslächeln bis zur Flucht aus der Maske. Vor allem aber als nachgerückte Ost-Quotenfrau ohne Hemmungen, die das ganze Chaos wie einen Flächenbrand entzündet, die großartige Annette Büschelberger, die nicht „Wendeverliererin“ genannt werden will, und schon gar nicht „Frisöse“. Ihr gleitender Übergang zwischen schmerzhafter Komik und fetzender Empörung hin und her, bewegt Ahnungen einer Aufführung mit tieferen Spuren, die Tina Lanik der Vorlage offenbar nicht zutraute. Why not?, um es mit dem Ministerium zu sagen. Große Heiterkeit also im Saal voller Einheimischer, keine Beklemmung.  


ANDI EUROPÄER
Eine Völkerschau von Philipp Löhle

Premiere: 31. Januar 2020
Theater: Opernhaus Staatstheater Nürnberg
Inszenierung: Tina Lanik
Bühne, Kostüme und Video: Patrick Bannwart
Dramaturgie: Brigitte Ostermann
Lichtdesign: Tobias Krauß
Mit: Stefanie Leue, Nicolas Frederick Djuren, Annette Büschelberger, Raphael Rubino, Amadeus Köhli, Tommy Egger

Theaterkritik von Dieter Stoll


 




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