Wir schreien schon lange und wurden nicht gehört!

DIENSTAG, 1. JULI 2025, NüRNBERG

#Integration, #Interview, #Sorush Mawlahi, #we integrate, #we rock it

Wenn junge Geflüchtete nach Deutschland kommen, stehen sie in gewisser Weise erstmal allein da. Und vor einer Vielzahl komplexer Herausforderungen. Sorush Mawlahi hat das hinter sich: Er kam 2016 mit 16 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Heute ist er in seinem Traumjob angekommen, engagiert bei den Grünen und Vorsitzender im Integrationsrat. In Schulen erzählt der Mitbegründer von we integrate von seinem Weg: “we rock it” heißt das Programm, wir haben mit Sorush darüber gesprochen. 

Hallo Sorush, du betreust das we integrate-Projekt “we rock it”. Wie läufts? 
Wir haben 2019 den Verein gegründet und gleich mit dem Projekt „we rock it“ begonnen. Damals war ich noch allein unterwegs. Später kam Hussein aus Syrien dazu, der ebenfalls Workshops gehalten hat. Momentan bin ich allerdings wieder überwiegend allein aktiv, da Hussein aufgrund seines Studiums weniger Zeit hat. Neben dem Projekt bin ich Vorsitzender des Integrationsrats und engagiere mich im Koordinierungsgremium der Allianz gegen Rechtsextremismus. Wegen dieser vielfältigen Aufgaben plane ich die Termine an Schulen in der Regel vier bis fünf Wochen im Voraus. In diesem Jahr fanden bereits Workshops im April und Juni statt. Wann immer ich im Rahmen meiner anderen Tätigkeiten – zum Beispiel in Wohnheimen oder an Schulen – unterwegs bin, nutze ich die Gelegenheit, um auch dort meine Geschichte zu erzählen und die Aufklärungsarbeit fortzusetzen.
 
Was ist die wichtigste Botschaft deiner Arbeit an den Schulen? 
Die wichtigste Botschaft meiner Arbeit an Schulen ist Aufklärungsarbeit. Mir ist es besonders wichtig, dass junge Menschen verstehen, wie das Leben von Geflüchteten in Deutschland wirklich aussieht und mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind – wie sie ihr Leben komplett neu aufbauen müssen. Ich selbst konnte anfangs kein Wort Deutsch, hatte nichts und habe in einem Wohnheim für minderjährige Geflüchtete gelebt. In meinen Workshops erzähle ich meinen Werdegang: wie lange man auf das Asylinterview und eine Aufenthaltserlaubnis warten muss, wie sich die ständige Angst vor einer Abschiebung anfühlt, und wie frustrierend es ist, sich immer wieder auf Ausbildungsstellen zu bewerben und abgelehnt zu werden.
Ich hatte den Traum, bei der DATEV zu arbeiten, und habe mich acht oder neun Mal dort beworben – erst 2019 habe ich schließlich eine Zusage erhalten und konnte meine Ausbildung beginnen. Nichts geht schnell, es braucht viel Geduld, und man muss bereit sein, sich den Herausforderungen zu stellen. Das Leben besteht aus genau diesen Herausforderungen. Auch mir ging es sehr schlecht, aber ich habe nicht einfach zugeschaut. Ich bin laut geworden, habe Haltung gezeigt und mich aktiv auf den Weg gemacht – nicht nur, um meine eigene Situation möglichst zu verbessern, sondern auch, um die Lebensrealität vieler anderer sichtbar zu machen, aufzuklären und insbesondere Jugendliche zu motivieren, hinzuschauen und mitzudenken.
 
Wie wählst du die Inhalte aus? 
Das hängt stark von der Zusammensetzung der Klassen ab – ob es sich um eine Kinder- oder Erwachsenengruppe handelt. Momentan sind viele Klassen gemischt, und in nahezu jeder Klasse gibt es mittlerweile jemanden mit Migrationsgeschichte. In meiner eigenen Schulzeit war ich der einzige Schüler mit Flucht- und Migrationserfahrung. Damals kamen oft Fragen von einheimischen Jugendlichen wie: „Warum bist du hier? Was ist passiert? Wie habt ihr in eurer Heimat gelebt?“
In meinen Workshops beginne ich immer mit meiner persönlichen Geschichte und den Herausforderungen, denen ich begegnet bin. Danach erzähle ich, wie es zur Gründung des Vereins kam, und suche bewusst den Austausch mit der Klasse. Viele interessieren sich besonders für die Fluchtwege: Wie bin ich nach Deutschland gekommen? Welche Länder habe ich durchquert – etwa den Iran, die Türkei, Griechenland? Andere wiederum wollen mehr über die bürokratischen und alltäglichen Prozesse hier in Deutschland wissen: Warum durfte ich anfangs nicht zur Schule gehen? Wie funktioniert der Übergang vom Sprachkurs in den M-Zweig? Wie läuft eine Ausbildung ab? Und wie kann man Projekte starten, laut sein und etwas bewegen?
Grundsätzlich richte ich mich danach, was die Klasse interessiert. Ich spüre schnell, worauf sie „Bock“ haben – im Großen und Ganzen erzähle ich aber immer meine ganze Geschichte.
 
Wie reagieren die Kids? 
Die Rückmeldungen der Lehrerinnen und Lehrer sind oft sehr eindrücklich. Sie sagen mir im Nachgang häufig: „So ruhig haben wir die Klasse noch nie erlebt.“ Eine solche persönliche Geschichte hört man eben nicht jeden Tag. Besonders Jugendliche, die selbst ähnliche Erfahrungen gemacht haben, fühlen sich in dem Moment weniger allein – sie merken, dass sie mit ihrem Schicksal gesehen und verstanden werden.
 
Wie bist du hergekommen? 
Mein Großvater war Bürgermeister, mein Vater arbeitete mit internationalen Partnern, unter anderem mit Franzosen, Amerikanern und Deutschen. Als er von den Taliban entführt und später wieder freigelassen wurde, war für uns klar: wir müssen fliehen. Ich war damals 15 Jahre alt. Bis zur Türkei konnten wir als Familie zusammenbleiben, doch danach haben wir uns verloren. Zwei bis drei Jahre lang wusste ich nicht, wo meine Angehörigen waren.
Das Schwierigste war für mich, nicht nur für mich selbst, sondern auch für meinen kleinen Bruder Verantwortung tragen zu müssen. In Deutschland war der Start alles andere als leicht. Zwar konnte ich Englisch, aber trotzdem wurde mir häufig gesagt: „Lern Deutsch!“ – selbst wenn ich nur nach dem Weg gefragt habe, weil ich mich in Nürnberg noch nicht auskannte.
Ich wollte unbedingt zur Schule gehen, durfte das aber nicht, weil ich nicht mehr schulpflichtig war. Stattdessen wurde ich in einen Sprachkurs geschickt. Jeder einzelne Schritt war mit Hürden verbunden. Ich habe über 50 Bewerbungen geschrieben und wurde oft nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Die Gründe dafür sind vielfältig: mein Name, meine Herkunft, mein Aussehen, meine Sprache – all das hat sicher eine Rolle gespielt.
 
Wir haben in Deutschland zunehmend das Problem mit rechten Strömungen in der Politik und der Gesellschaft. Merkst du das in deiner Arbeit an den Schulen? 
Ja, das spüre ich ganz deutlich. Letztes Jahr habe ich an einer Schule gesprochen, und im Nachhinein hörte ich, dass jemand gesagt hat: „Sei schlau, wähl blau.“ Ob das Teilnehmende aus meinem Workshop waren, konnte ich nicht feststellen. Man merkt aber schnell, wer keine Akzeptanz für andere Lebensrealitäten hat, weil sie oft in diese Richtung beeinflusst werden.
Manche fragen auch eher indirekt: „Wann wollen Sie denn zurück in Ihre Heimat?“ Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft – das hier ist mein Zuhause. Ich bin als Kind hier angekommen und habe mir hier ein Leben aufgebaut. Was soll das also heißen, „zurück“? Wären wir in Afghanistan in Sicherheit gewesen, wären wir nie gegangen. Finanziell ging es uns gut, aber wir waren in Lebensgefahr.
Wenn rechtsextreme Kräfte in Deutschland an die Macht kommen, gibt es auch für uns keine Sicherheit mehr. Viele Leute sitzen schon heute auf gepackten Koffern. Die Gesellschaft entwickelt sich in eine falsche Richtung. Und wenn dann Anschläge passieren – wie in München oder Mannheim – wird nicht über soziale Belastungen oder Versäumnisse gesprochen, sondern über Herkunft und Religion.
Ich merke das auch im Alltag, zum Beispiel in der U-Bahn: Solange man Deutsch spricht, gibt es keine Probleme. Sobald man aber in seine Muttersprache wechselt – Dari, Persisch, Arabisch – werden die Blicke groß und misstrauisch.
We integrate hat sich seit 2019 zum Ziel gesetzt, Vorurteile abzubauen. Wir schreien schon lange, dass Rassismus und Diskriminierung in der Gesellschaft existieren und zunehmen. Aber wir wurden lange nicht wahrgenommen. Erst als im vergangenen Jahr die Remigrations-Pläne öffentlich wurden, haben auch die Einheimischen Angst bekommen.

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Alle Infos und Kontakt: we integrate: we rock it
 
 




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