Trojanisches Pferd im Galopp
#Dieter Stoll, #Konzert, #Kritik, #Theater
Wie das Erlanger Markgrafentheater am 300. Geburtstag den Aufbruch zur nächsten Jugendzeit beschwört: Zwischen Jubiläumsstimmung, neuer Weiblichkeit und betreutem Publikumsschlafen auf offener Bühne.
Nach dem 6. Geburtstag bekommt man alsbald die Zuckertüte, zum 10. das Smartphone, mit 18 den Führerschein, mit 50 die ersten mitleidigen Blicke, mit 65 den Rentenbescheid, mit 70 das Käpt´ns-Dinner
bei der Kreuzfahrt, mit 80 den Treppenlifter und mit 100 einen Blumen- strauß des Bürgermeisters. Aber wie feiert man den 300. Geburtstag? So kess wie möglich! „Alles Gute, Altes Haus“, rufen derzeit im Chor mit den generalbevollmächtigten Jubel-Managern in Erlangen die jungen Dinger aus der Nachbarschaft, das Opernhaus Nürnberg (113 Jahre) und das Stadttheater Fürth (116 Jahre), um das 1719 (!) „hochfürstlich“ ans Licht der Welt gelassene Markgrafentheater in all seiner gelenkigen Altersweisheit zu würdigen. Das „älteste bespielbare Barocktheater Süddeutschlands“, dieser Hinweis aufs Alleinstellungsmerkmal eines gegen jegliche Wahrscheinlichkeit pulsierenden Kreislaufs darf nicht fehlen, hat in ferner Vergangenheit mit der vermutlich aus guten Gründen vergessenen Oper unter dem prickelnden Titel „Argenis und Poliarchus“ eröffnet. Seither immer wieder mit erstaunlichem Sinn für Nummernpsychologie oder gar metaphorische Adaption des arabischen Ziffernsystems, das in der so auffällig wiederkehrenden Zahl „Neun“ mit vollem Wikipedia-Ernst neben dem deutschnationalen Kegler-Schlachtruf „Alle Neune“ in der Übersetzung das womöglich noch tiefgründiger angelegte Hurra-Wort „Herrlichkeit“ parkt, seine Bahn durch Jahrhunderte gezogen. Entlang an Pleiten, Pech und Pannen mit beachtlicher Auferstehungsenergie. Es wurde renoviert, restauriert, umgebaut oder aufgehübscht (zuletzt: 1959 das Haus, 1999 der Zuschauerraum, jetzt 2019 das Jubiläumsjahr) und damit allen latent drohenden Institutionsabwicklungen durch Bau-, Finanz- und Bildungskrisen getrotzt. Wiedereröffnung um Wiedereröffnung ragen beim Blick zurück wie eine Stehauf-Pyramide aus der Stadtgeschichte. Langfristige Ordnung und Perspektive entstanden jedoch erst, als die Bürger ihr Theater selber übernahmen. Der gemeinnützige Theaterverein „gVe“ baute „im Auftrag der Stadt“ an der Schwelle zum 20. Jahrhundert das heruntergekommene Markgrafentheater in jeder Hinsicht aus – architektonisch wie ideell und programmatisch. Sechs Intendanzen gab es, seit relativ kurz vor Jahrhundert- und Jahrtausendwende die Kommune nach Leihbespielungen durch die nahen Stadttheater Bamberg und Nürnberg sowie der Wiederbelebung des im Nazi-Kulturbund „Kraft durch Freude“ untergebutterten „gVe“ und seinen emsigen Gastspiel-Organisationen, mit dem späten Beitritt zum Deutschen Bühnenverein endlich den offiziellen Eigenbetrieb „Stadttheater Erlangen“ einleitete. Eine Kulturinstitution, die viel mehr wollen durfte als die Service-Organisation von Durchreisenden, nämlich Wurzeln schlagen. Dass Andreas Hänsel, damals der anschleichende imaginäre Hausherr auf Abruf, 1989 für neun Jahre seinen Vertrag antrat (dann fiel er, wie schon vorher aus ganz anderen Gründen sein Vorgänger Manfred Neu, in Ungnade und es kamen nacheinander Hartmut Henne, Johannes Blum, Sabina Dhein) und die heutige Intendantin Katja Ott seit 2009 und bis mindestens 2024 amtierend seit dem Einstieg nachgezählte 119 hausgemachte Inszenierungen verantwortet, darf jeder für Zufall halten, der weder an Ziffernmagie noch an die Eigendynamik von Neunmalklugkeit glauben mag. Einfach herrlich!
AM RANDE DER NEUZEIT ANGEKOMMEN
Zum Auftakt der ersten Feierlichkeiten 2019, denen im Mai eine zweite volksfestliche Wochenend-Runde (Motto: „Zähl bis 300!“) mit spartensprengenden Premieren, wunderlichen Projekten sowie dem Gründungsobjekt einer „Bürgerbühne“ folgen wird, waren im Januar neben den Honoratioren auch reichlich Akteure der aktuellsten Pionierzeit angereist. Zeitzeugen dafür, dass es beim Theater nie mit einrüstender Gebäudepflege und Leitkulturgedanken getan ist. Beiläufig also auch eine diskrete 44-Jahr-Feier des aktuellen örtlichen Theaterkunstbetriebs, der erst 1975 mit der Eröffnung der unbefangen an Konventions- und Geschmacksgrenzen rüttelnden Studiobühne „Theater in der Garage“ so richtig am Rande der Neuzeit angekommen war. Das lässt sich, dem widerstandsfähigen Langzeitgedächtnis sei Dank, mit wimmelbildhafter Schwarmintelligenz und Fragmenten persönlicher Erinnerung aufpolstern. Und in Stellung bringen, denn größer könnte der Kontrast kaum sein als zwischen dem völlig vergessenen Komponisten der Eröffnungspremiere 1719 (der seither bei feierlichen Wiedereröffnungen immer wieder sehnsuchtsvoll in die Opernwelt blickende Fest-Aufführungen wie Mozarts „Figaro“ und mit Hilfe der tourenden Compagnia d´Opera di Milano sogar Verdis „La traviata“ zur Seite traten) und dem robusten Brecht-Kampfstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, das jetzt seit Januar 2019 im Spielplan das 300-jährige Kunstverständnis zu Erlangen aktuell „gesellschaftskritisch“ repräsentiert. Welcher Schoß wofür „fruchtbar noch“ ist, darf also auch mal ganz anders andiskutiert werden. Wobei der Brecht wohl auch eher für klassische Größe steht, wenn in der zweiten Feierrunde bis Mai das Gegenwartstheater mit nächtlicher Schlaf-Performance auf offener Bühne antritt, eine „Live-Film-Inszenierung“ von Orwells „Farm der Tiere“ den dekorativen markgräflichen Kulissenzauber für Kino-Simulation nutzt und mit der Uraufführung „Femdom“ das „Manifest neuer Weiblichkeit“ ausgerufen wird. Doch der Blick zurück hilft bei der Orientierung nach vorn.
PURPUR MIT SPRUNGFEDERN UND UFA-RESTSTAR
Momentan fällt mir grade der Grund dafür nicht ein, aber den Festakt für die feine Gesellschaft zur Eröffnung des „hochfürstlichen Opern- und Komödienhauses“ in Erlangen mit Bauherr Markgraf Georg Wilhelm habe ich verpasst. 250 Jahre später anno 1969, da wiederum war Durchlaucht wegen höherer Gewalt verhindert und wurde beim unverzichtbaren Grußwort von einem Oberbürgermeister vertreten, saß ich auf historisierend nachgepolstertem Klappsitz. Da war ich jüngster Mitarbeiter, später Redakteur und Ressortleiter im Feuilleton der Nürnberger Abendzeitung, das auch die Theaterszene in Erlangen beobachtete. Obwohl: Eigentlich gab es dort ja gar keine. Jedenfalls keine eigene. Sondern im morbide edel wie die purpurfarben kaschierten Sesselsprungfedern aus Vergangenheiten ragenden Haus einen pragmatisch aus dem Angebot der Kunstgewerbegegenwart schöpfenden Shopping-Spielplan nach Selbstbestimmungsmodell, von Akteuren des bevollmächtigten Theatervereins „gVe“ als Gastspielarrangement eingekauft. Hauptsächlich bei üppig florierenden Tournee-Unternehmen, ausgeschmückt von gelegentlichen Rosinenpäckchen des Münchner Staatstheaters, das Präsenz in der Bayern-„Provinz“ im Gegengeschäft zu hohen Steuersubventionen des Freistaats als politischen Kulturauftrag abzuhaken hatte. Die verpartnerten Produktionsversandhäuser zwischen Basel und Berlin als Spielplan-Standbein waren spezialisiert darauf, mit prominenten Schauspielern von Leinwand oder Mattscheibe für die Hauptrolle und faltbarer Kulisse für den Hintergrund dem Publikum in sanftem Schwung über mittelhochschwellige Kunst zu helfen. Das hatte für gewisse Zeit subtilen Reiz: Einen Ufa-Reststar wie Lil Dagover mit dem Junior Thomas ihres Alt-Kollegen Willy Fritsch beim Dialog-
Austausch milde geistreicher Literatur zuzusehen, echte Burrrrrgschauspieler a.D. mit naturbelassener Klassik zu erleben (reife Herren, vokal völlig unkaputtbar, spielten den jungen Faust mit straff zurückgekämmten Haar und den alten mit Struwwel-Frisur – oder war´s umgekehrt?), Nadja Tiller mit Walter Giller bei der Füllung von Drehpausen zu sehen, Götz George zwischen Silbersee und Schimanski in der Klassik schwimmend zu erleben, den sowohl für Fritz Kortner wie für James Bond interessanten Klaus Maria Brandauer beim livehaftigen Mehrwert-Abschöpfen seiner Popularität zu bestaunen. Selbst er, der für energische Distanz zur Presse berühmt war, ließ sich bei solchem Anlass nicht allzu lange um ein Interview bitten. Die bedrohliche Erlanger Freizeit zwischen seiner Vorstellungsserie des Psycho-Edelboulevardstücks „Ist das nicht mein Leben?“ wollte gefüllt sein, so bekam sogar Kulturjournalismus denkbar beste Rahmenbedingungen. Brisante Standardfrage des schon damals äußerst investigativen Berufsstandes: Wie gefällt es Ihnen in Erlangen? Behauptet wiederum mein Langzeitgedächtnis.
Unvergesslich aus diesen Jahren mehrere Begegnungen mit der legendären Schauspielerin Maria Becker. Sie zählte einerseits zu den „Grande Dame“-Größen der etablierten Staatsbühnen in Deutschland und der Schweiz (in München war sie der erste weibliche Mephisto, spielte dort widerwillig auch Thomas Bernhard) und betrieb gleichzeitig mit ihrem Familien-Clan die „Schauspieltruppe Zürich“. Ein fleißiges Unternehmen zwischen „Lysistrata“-Klassik und „Feuerwerk“-Singspiel, das zeitweilig den harten Kern des Erlanger Spielplans auszumachen schien. Sie verfiel sofort in den Kampfmodus, wenn man im Gespräch leise Zweifel am künstlerischen Mehrwert der Tourneetheater äußerte. Warum sie diese dauernde Rundreise-Alternative zu sich selbst für nötig hielt? Da verwies sie mit bühnenreifer Empörung aus dem ganz schweren Fach aufs „Unbehagen an den Zuständen“, die ihr rundherum auffielen: „Junge Schauspieler, die wie hypnotisierte Karnickel darauf warten, irgendwo hingesetzt zu werden“. Sagte sie mir 1976 in Erlangen.
ÜBERIRDISCHER ERFOLG MIT GOTTES HILFE
Um Karnickel-Hypnose ging es dann in den „Siebzigern“ in Erlangen aber nicht, eher um die Futterkrippe für ein Trojanisches Pferd. An der Berufung von Manfred Neu als „Leiter“ des noch längst nicht vorhandenen Kinder- und Jugendtheaters ließ sich verfolgen, wie Gedankenfreiheit ihre besondere Dynamik entwickelt. Denn während kulturpolitische Sprachregelungen den vereinsmäßigen Spielplanern die Besitzstandswahrung im Markgrafentheater geradezu feierlich versprachen (Freiraum im Markgrafentheater nur für die Inszenierung eines einzigen autonomen „Weihnachtsmärchens“ pro Jahr, hieß es da), baute der in jeder Hinsicht unkonventionelle Pioniertäter Manfred Neu in der stillgelegten Feuerwehrgarage nebenan seine Improvisationsstudiobühne mit Kommunikationshaltestelle am Tresen ohne Angst vor dem Schmuddelimage. Dort konnte er Kleinkunstgastspiele wie Modellminiaturen präsentieren, ein Ensemble für erste Eigenbautestversuche formen und dieses Anhängsel am Traumschiff „MGT“ tauglich machen für den unheimlichen Positionswechsel – vom Schlauchboot zum Schlepper. Eine nah an TV-Experimenten siedelnde Theaterserie mit dem Titel „The Family“, 1975 aus den Niederlanden adaptiert, forderte Zuschauer ein wenig heraus. Der andere Tonfall erreichte 1981 bei Woody Allens respektbereinigten Himmelsszenen „Gott“ eine geradezu überirdische Erfolgsstufe, die dann auch in 60 ausverkauften Vorstellungen Comedy-Erlösungsstimmung verbreitete. Aber bis zur wirklich wahrnehmbaren Bewegungsmeldung im großen Traditionshaus hat es noch gedauert.
ROTKÄPPCHEN ROCKT DIE ABONNENTEN
Dabei knallte die Initialzündung bereits in der zweiten Saison, Ende 1976. Eröffnet wurde sie nach alter Sitte standesgemäß mit „Der Brandner Kaspar und das ewig Leben“ vom staatlichen Residenz-
theater – ja, sehr nett und sehr gestrig, immer wieder – und danach machte der Boandlkramer dem Rotkäppchen Platz fürs Training in Wolfs Revier. „Floh de Cologne“, das „linke“ Rock-Kabarett aus Köln, hatte Grimms Märchen mit der blutspritzenden Moral als Erlanger Auftragswerk angenommen und daraus im fürstlichen Rahmen ein proletarisches Tapferkeitsmusical gezaubert: „Wenn ein Freund nach Hilfe schreit, ist zum Fürchten keine Zeit“, wird da zu „Hoch die Löffel“ im Hasenmarsch mit E-Gitarre skandiert. Ob groß oder klein, alle staunten über die schöne Bescherung. Ich sowieso. Und selten sah man danach so viele Erwachsene als Begleitpersonal im Kindertheater. Zu erleben war – in Humor, Ästhetik und Publikumsnähe – nicht weniger als ein Phantom von Systemwechsel durch die Hintertür. Bis das als Normalfall im Spielplan ankam, brauchte es 15 Jahre. Der Theatermacher Manfred Neu sollte in Erinnerung beiben, als erstes Trojanisches Pferd, das mit den Hufen scharren und zum Sprung ansetzen konnte. Er wollte die Erlanger Theaterszene aufschrecken, also druckte er in seiner Theaterzeitung eine kritische Bestandsaufnahme, in der Möglichkeiten gemeinsamer Reformen im Städte-
großraum mit dem herrschenden Dämmerzustand vor Ort verglichen wurden. Große Empörung, klammheimliche Freude.
ABWEHRREFLEX GEGEN KULTURPOLITISCHE WACHTRÄUME
Es war ein kulturpolitischer Wachtraum mit vorhersehbarem Abwehrreflex: Die Halbmillionenstadt Nürnberg und ihre jeweils über die 100.000-Einwohner-Hürde gesprungenen Nachbarkommunen Fürth und Erlangen verbinden die nebeneinander organisierten Theater zu abgestimmter Vielfalt. Der emanzipierte Zuschauer wurde lange vor der „Metropolregion“ schon optimistisch mitgedacht. Wie auch die verbesserte Verkehrsverbindung, die jedem Nürnberger den Weg nach Erlangen und jeden Erlanger einen Ausflug ins Nürnberger Kulturleben zur entspannten Alltagsübung mache. Wie wir wissen, ist das bis heute nicht so. Das Ideenspiel erreichte grade mal mittlere Podiumsdiskussionsreife. „Meinen Sie wirklich, die Bürger wollen das teure Theater der Nachbarstadt mitbezahlen?“, brachte es ein Ratsherr der Siemens-Stadt absch(l)ießend auf den Punkt. Etwa 20 Jahre später, Wulf Konold leitete in Nürnberg und Sabina Dhein in Erlangen die Kommunalbühne, produzierte man gemeinsam im Markgrafentheater für drei Spielzeiten diverse Kammeropern aller Art. Weil Nürnberg sein Opernhaus renovierte und das Erlanger Theater sowieso allzu oft leer stand. Das Wort „Konzept“ drängt sich da nicht auf. Die Amtsnachfolger fanden die sparten- und städteübergeifende Idee und den damit verbundenen partiellen Verzicht auf Eigenprofil sowieso weniger prickelnd, damit war der Fall erledigt.
ALS ADELE NEUHAUSER NOCH NICHT BEIM „TATORT“ WAR
Tatsächlich zeigte der Erlanger Trend, schon zuvor bei Andreas Hänsels Theaterleitungsübernahme im Jahr 1989, nicht auf Großraumlösungen, sondern auf gepflegten Eigenbau mit erblühender Gartenzaunabgrenzung. Ein Erfolg wie Helmut Haberkamms lokalsatirische Hausmeisterserie „Schellhammer“ mit dem wunderbar grantelnden Winni Wittkopp eröffnete dafür unverwechselbare Perspektiven. Hänsel durfte jedoch als Erster und erfreulich unvorsichtig auch für den konservativ eingeschätzten Abonnentenstamm produzieren. Heiner Müllers „Quartett“ und Werner Schwabs „Präsidentinnen“ sind mir in Erinnerung, selbstbewusste „Fremdkörper“ im Markgrafentheater-Standard, ganz besonders sehenswert wegen der Entdeckung der Schauspielerin Adele Neuhauser, die inzwischen im österreichischen „Tatort“ populär wurde. Die Intendantin Sabina Dhein, selber nicht mit Regie-Ehrgeiz belastet, definierte ab 2002 die Ermöglichung als persönliches Berufsbild. Hausautor Marc Becker und der Nürnberger Puppenspieler Tristan Vogt entwickelten denkwürdig komische „Macbeth“-Szenen, bei „Wir im Finale“ waren Fußball und Nationalstolz erheiternd umschlungen und dank Regisseur Christian von Treskow blickte man plötzlich sogar mit anderen Augen auf „Hamlet“, wo im dänischen Königshaus alle auf viel zu großen Stufen ausschreitend um Haltung rangen.
Die Intendanz Katja Ott ist seit 2009 ein laufendes Verfahren. Das damals endlich ganz offiziell zur städtischen Bühne ernannte Institut litt zuvor darunter, dass bei der Politik die Bereitschaft zur angemessenen Finanzierung mit der Erwartung an großformatige Ereignisse nie Schritt halten konnte. Ott setzte das Größtmögliche, Goethes „Faust“, an den Beginn und balanciert seither auf dem hohen Bogen zwischen Klassik und Gegenwart, Stadt- und Weltgeschichte, Tiefsinn und Entertainment. Immer der Spreizung gewiss, die zwischen fordernder Bildungsbürgerschaft und zu förderndem Jungpublikum besteht. Ich muss einräumen, dass mich die Videobotschaften zur Frage „Wer ist Erlangen?“ eher weniger interessiert haben. Aber die Frechheit, „Dantons Tod“ in die Niederungen der Popkultur zu reißen, hat über alle gesträubten Haare der Theaterwissenschaftler hinweg meinen vollen Respekt.
Das Markgrafen-Haus macht also „Stadttheater“, und das gibt es inzwischen überall ernsthaft nur noch als gedankliche Wanderbaustelle. In den letzten 50 der insgesamt 300 Jahre herrschten Himmelssturm und Nabelschau, in den nächsten wird es mindestens genau so „anders“ sein. Hoffentlich! Nur eins wollen wir festhalten: Rotkäppchen wartet im Rettungsboot, auf das Wiehern der Trojanischen Pferde kann man sich verlassen. Und vielleicht kommt ja doch noch jemand auf die Idee, die Nürnberger Metropolregion-Bewerbung für den „Kulturstadt Europas“-Titel 2025 mit einem verbindenden Modell von abgestimmter, also erweiterter Theater-Programmatik zum Wohle der gesamtfränkischen Szene zu verbinden.
EINLADUNG ZUM BETREUTEN TRÄUMEN
Das ungewöhnlichste Angebot im Erlanger Jubiläumsprogramm 2019 hat sich den Titel vom kleinen „HOTELchen“ schräg gegenüber dem MGT geborgt. „Bed & Breakfast“ ist eine nächtliche Performance im Bühnenhaus (11., 12. und 13. April, jeweils ab 22.30 Uhr) überschrieben, bei der das Publikum zum betreuten Träumen einer Schlafgemeinschaft inkl. Frühstück mit zwei Künstlern eingeladen wird. Heike Schmidt und Thilo Thomas Krigar machen – wie schon in Berlin, Dublin und Ljubljana – die leibhaftigen Betthupferl, indem sie von Liege zu Liege ziehend mit Liedern und Gutenachtgeschichten die Schwerkraft der Augendeckel beschwören. Nicht zu vergleichen mit den zuletzt so oft zufälligen Erlanger Parallelen zum Spielplan am Nürnberger Schauspielhaus. Dort werden zwar jetzt bereits die Proben für „Der Sandmann“ vorbereitet, aber dabei gibt es kein Frühstück, und es handelt es sich um E.T.A. Hoffmann, nicht ums DDR-Fernsehen.
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FÜR CURT:
DIETER STOLL, Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ. Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theater-Kritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
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