Der kulturelle Handshake: Interview mit Kahchun Wong

FREITAG, 2. AUGUST 2019



Noch zwei Tage bis zum Auftritt der Symphoniker beim Klassik Open Air. Draußen haben sie Bierbänke aufgestellt, Gelächter dringt ins Dirigentenzimmer. Chef Kahchun Wong wirkt emsig aber entspannt, noch keine Zeit für Party, vielleicht später. Auf dem Sofa liegt aufgeschlagen die Partitur der Meistersinger. Nervös? In diesem Jahr nicht mehr. Der Dirigent aus Singapur ist mehr als angekommen in Nürnberg und blickt wach und neugierig auf seine zweite Spielzeit.

Vor einem Jahr hast du mit meinem Kollegen Andreas Radlmeier gesprochen und ihm gesagt, dass du sehr nervös bist wegen des Klassik Open Air. Wie ist es gelaufen, wie ging es dir dabei?

Ich war wirklich sehr nervös, weil das Open Air hier traditionellerweise mehr verlangt, als bloß das Dirigieren. Es ist ein langes Konzert, drei Stunden, worüber ich mir aber am meisten Sorgen gemacht habe, war der nichtmusikalische Part: auf Deutsch mit dem Publikum zu sprechen. Ich war also die ganze Woche über gestresst, ich konnte nicht essen, nicht schlafen. Früh um 3 bin ich wach geworden… Am Tag des Konzerts herrschte so eine tolle Atmosphäre, der Ort ist wunderschön, so grün und das Publikum war so nett, das Orchester hat es genossen, das Wetter war gut… Am Ende war es wirklich einfach. Auch weil ich so tolle Partner hatte: Der BR, der für einen großartigen Sound gesorgt hat und Thomas Herr, der mit mir moderiert und mir beigebracht hat, wie ich mich vorbereiten und was ich sagen kann.

Wie entsteht ein Programm für ein solches Event, warum entscheidest du dich für genau diese Stücke?

Das Programm für das Klassik Open Air festzulegen ist eine meiner schwierigsten Aufgaben. Es muss sehr lang sein. Normalerweise spielt das Orchester etwa 2 Stunden, 20 Minuten Pause, also unterm Strich etwa 70 oder 80 Minuten. In dem Fall spielen die Musiker 130 Minuten. Wir brauchen also Ausdauer. Und es muss Musik sein, die nicht zu konzentriert und intensiv ist, weil das Publikum Wein trinkt und picknickt, die Musik muss zum Sommer und zur Open-Air-Situation passen. Wenn es zu ruhig ist und es beginnt beispielsweise zu regnen, hört man die Musik nicht mehr. Vergangenes Jahr hatten wir Tanz und Liebe, West Side Story, Romeo und Julia. In diesem Jahr ist es etwas anders: Nürnberg bewirbt sich um die Kulturhauptstadt 2025 und steht natürlich im Zentrum meines Programms. Wir haben also die Meistersinger von Nürnberg von Wagner und den Kanon von Pachelbel, der hier gearbeitet hat. Abseits davon bedeutet Kulturhauptstadt aber auch kulturellen Dialog, Handshakes. Die Idee war also, ein Programm zu kreieren, das Europa in seinen verschiedenen Kulturen zeigt. Zum Beispiel mit Mussorgskis Bilder einer Ausstellung, ein Stück eines russischen Komponisten – wir spielen aber die Bearbeitung von Maurice Ravel, einem Franzosen. Dann haben Berlioz, ein Franzose, der einen ungarischen Marsch geschrieben hat. Tschaikowsky, ein Russe, mit seinen Rokoko-Variationen, die sehr italienisch sind, eigentlich ein Solo-Cello-Konzert, am Samstag hören wir aber Sergei Nakariakov am Flügelhorn. Auf eine Art wird da also viel interkultureller Dialog stattfinden.

Das ist auch das Ende deiner ersten Spielzeit in Nürnberg. Was lief gut?

Es war ein Jahr, aber auch mehr als ein Jahr, weil ich 2017 bereits mit dem Orchester auf Tour war. Ich mag die Stadt sehr gerne, sie ist nicht riesig, nicht zu überfüllt wie Berlin oder München. Aber sie ist charmant und alt, rund um Nürnberg kann man radfahren und wandern. Ich mag besonders die Gegend um den Wöhrder See. Ich fühle mich hier wirklich zu Hause. Und Hildes Backwut mag ich sehr… Ich weiß nicht, wie es im zweiten Jahr sein wird, weil ich mich schon so wohl hier fühle.

Also auch nicht mehr neu?

Nein, gar nicht. Die Menschen hier in Nürnberg sind sehr besonders, sehr einladend, sehr freundlich, sehr charmant. Sie haben es mir sehr leicht gemacht.

Was kannst du uns über das Projekt Pachelbel 4.0 erzählen?

Der Titel kam von einem Projektpartner, das bezieht sich auf das Digitale. Ich kenne mich selbst so wenig mit Technologie aus, ich wusste das gar nicht. Die Idee dahinter ist aber ganz einfach: Dieses Stück, der Kanon von Pachelbel – ich weiß nicht wie das in Deutschland ist, aber in Singapur, China, Japan, hört man das überall. Heute nicht mehr so sehr, aber vor 20 Jahren etwa, war das sehr angesagt. Man hörte das in Warteschleifen, im Aufzug, auf der Toilette, im Flughafen… Für Musiker ist es eine Hassliebe, man hört es eben sehr häufig und nicht immer gut. Man bekommt zu viel davon. Aber: Der Grund, warum wir es so oft hören ist, dass es sehr gute Musik ist. Als ich etwa 9 oder 10 Jahre alt war, spielte ich Blockflöte im Musikunterricht. Jedes Schulkind in Singapur muss Blockflöte spielen, ich weiß nicht warum, es ist eigentlich sehr schwer. Jedenfalls sagte unsere Lehrerin wir sollten uns zum Kanon Melodien überlegen. Vor etwa einem Jahr ist er mir dann wiederbegegnet, in einem Einkaufszentrum oder so und ich dachte: Das ist doch ein Komponist aus Nürnberg. Ich lebe in Nürnberg, was für eine wunderbare Verbindung. Ich als Ausländer weiß nicht, wie es sich anfühlt, als Nürnberger in dieser Stadt zu leben. Aber ich kann mich fragen: Was hat Nürnberg alles zu bieten? Die wunderschöne Altstadt, die Geschichte, die Kultur, Hans Sachs und natürlich das Essen, die Bratwurst das Bier. Dann aber die Musik: Ja, die Meistersinger, die aber von Wagner sind, und der Kanon von Pachelbel. Ich war der Meinung, das ist ein großartiges Stück, um es mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen. Jeder kennt das Stück, aber die wenigsten wissen, dass es aus Nürnberg stammt. Und es ist ein Stück, das jeder spielen kann. Zum Beispiel könnte sich ein Erhu-Spieler in Shenzen filmen, das Video einreichen und dann virtuell in unserem Orchester mitspielen. Oder Balalaika, Harmonika, Gitarre… Jeder kann mitspielen, man braucht noch nicht einmal ein Instrument (trommelt auf seinem Bauch), body percussion.

Nachdem ihr das Stück jetzt geprobt habt: Kannst du den Kanon denn noch hören?

Es ist wirklich schöne Musik. Aber er wird halt häufig gespielt. In einem Jahr kann man ihn hören, dann muss man etwas anderes hören. Zehn Jahre später hört man es wieder und wird feststellen: Das ist wirklich gut. Es ist nicht ohne Grund ein Meisterwerk.

Wenn du auf die kommende Spielzeit schaust. Gibt es ein Highlight, auf das du dich besonders freust?

Einige. Eine Sache ist, dass ein Teil der Nürnberger Symphoniker nach Singapur reisen wird, um dort an einem pädagogischen Projekt von mir teilzunehmen. Ich komme aus einer Familie ohne musikalischen Hintergrund. Ich habe mit Musik angefangen, weil mein Mathelehrer mich überredet hat, in der Band mitzumachen. Nicht der übliche Weg. Deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass Kinder aus schwierigen Verhältnissen, also aus alleinerziehenden oder einkommensschwachen Haushalten, Zugang zu Musik bekommen. Vergangenes Jahr haben wir bereits fünf Musiker nach Singapur geschickt, um dort mit der Universität zusammenzuarbeiten. Klassische Musik ist in Singapur noch sehr neu. Die Nürnberger Symphoniker haben bereits einen großen Beitrag geleistet, indem sie dort mit Kindern und Studenten zusammenspielen. In diesem Jahr werden wir 15 sein. Und wieder ist es ein kultureller Handshake. Solche Projekte sind mir sehr wichtig.
Eine andere Sache ist das Projekt Mittendrin. Das machen wir zwei Mal. Zuerst im Neuen Gymnasium im Oktober. Die Idee ist, dass wir eine Probe in die Aula verlegen. Das haben wir vergangenes Jahr schon einmal gemacht. Ich stehe dabei in der Mitte und die Musiker bilden einen geschlossenen Ring um mich. Zwischen den Musikern sind Stühle für die SchülerInnen. Sie können sich also überlegen, möchte ich neben den Geigen sitzen oder bei den Trompeten… Dort spielen wir die vierte Symphonie von Bruckner. Das ist nichtöffentlich. Aber im kommenden Frühjahr spielen wir Beethovens Neunte in der Meistersingerhalle. Dort werden wir dasselbe machen. Und der Chor sitzt im Publikum verteilt. Wenn er dann in der Ode an die Freude einsetzt – Freude! Freude! – kommt das von überall. Ich weiß nicht, wie das wird, weil wir das noch nicht in der Meistersingerhalle gemacht haben, aber ich stelle es mir sehr kraftvoll vor.

Ist das für dich auch eine besondere Herausforderung, auf die Art zu dirigieren?

Es ist schwierig, eine Partitur zu haben, weil ich mich dann von den Noten wegdrehe. Deshalb versuche ich, das auswendig zu machen. Das ist nicht schwierig, nur harte Arbeit und Zeit, die man investieren muss. Die Herausforderung ist, dass die Musiker das Gefühl bekommen, zu weit voneinander entfernt zu sein. Normalerweise sitzen sie alle nebeneinander. Nun haben wir das mit den Symphonikern schon im Gymnasium und einmal in Singapur gemacht und ich muss sagen: Beim Mittendrin spielen die Musiker so gut, vielleicht sogar besser als bei einem normalen Konzert. Diese Musiker lieben Kinder, sie sind so offen und liebevoll. Beim Mittendrin haben wir eine akustische Herausforderung, aber die Musiker geben dann auch viel mehr und haben Spaß. Ich überlege jetzt, wie man das aufnehmen kann. Das wäre großartig. Sie spielen das so gut und sie bekommen die Energie vom Publikum, das direkt daneben sitzt. Das ist ein Traum von mir.

Hast du eine Vision oder ein großes Projekt, das du in deiner Arbeit noch verwirklichen möchtest?    
   
Es gibt eine Sache, die mich immer interessiert hat: Musikmachen über Generationen hinweg. In Asien gibt es diese Idee von drei Generationen unter einem Dach, das ist sehr üblich. Ich möchte eines Tages, irgendwann, ein Projekt verwirklichen, in dem professionelle Musiker mit werdenden Profis zusammenspielen, also Studenten zum Beispiel. Und dann haben wir eine dritte Generation, junger, sehr talentierter Musiker von etwa 9 oder 10 bis 18. Die Lehrmeister unterrichten die Studenten und die Studenten die ganz jungen. Und dann gibt es natürlich ein gemeinsames Konzert, zum Beispiel eine Mahler-Symphonie, denn in einer Mahler-Symphonie steckt immer das ganze Universum. Ich glaube, das könnte sehr gut funktionieren. Die älteren Musiker werden dabei auch von den jungen inspiriert, insofern funktioniert das in beide Richtungen.

Deine Projekte verbindet, dass es immer auf eine Art darum geht, eine Hand auszustrecken und das Orchester zu öffnen.

Absolut. In Singapur ist es eine meine Aufgaben, ein Botschafter der klassischen Musik zu sein. Ich bin einer der wenigen asiatischen Musiker, die hier in Europa arbeiten. Deshalb ist das meine Verantwortung. Ich möchte diese Liebe für klassische Musik mit den Menschen in Asien teilen. Mein Land hat nicht, wie etwa Japan, eine lange Tradition klassischer Musik. Bei uns ist das sehr jung, deshalb kann man aber auch in Jeans zum Konzert kommen. Das ist völlig okay. Die Menschen hören klassische Musik bei Spotify oder gehen in der Mittagspause zum Konzert. Viel Musik passiert dort auf unkonventionelle Art. Ich mag das gern, weil es so kreativ und innovativ ist und man damit verschiedene Schichten erreicht. Wenn man in Singapur ins Konzert geht, sieht man deshalb auch mehr schwarzes als weißes Haar, überall sonst altert das Publikum. Ich glaube, die nächsten 15 Jahre werden sehr aufregend für Südostasien.

Ich möchte noch über Musikkonsum sprechen. Hört ein Dirigent jemals Musik nebenbei? Drehst du das Radio an und steigst in die Dusche?

Diese Frage höre ich zum ersten Mal. Manchmal, wenn ich mir schnell etwas einprägen möchte, höre ich Musik beim Schlafen. Zum Beispiel, wenn eine Symphonie ansteht, die ich kommende Woche dirigieren muss. Vielleicht hilft mir das, mehr darüber zu erfahren. Radio höre ich sehr selten. Vielleicht weil ich kein Auto habe und im Büro keines steht. Es ist nicht Teil meiner Arbeit. Wir spielen viele Konzerte und die sind auch laut. Manchmal, wenn ich danach auf dem Heimweg bin, setze ich meine schalldichten Kopfhörer auf – ohne Musik, nur für die Stille. Im Flugzeug zum Beispiel genauso, damit ich die Motorengeräusche nicht höre.

Was ist deine letzte musikalische Entdeckung?

(steht auf, kramt Partitur raus) Es ist eine Symphonie von Wassili Kalinnikow. Die Partitur ist sehr selten, die können wir nur leihen, nicht kaufen. Die Symphonie wird sehr selten gespielt. Der Komponist starb noch vor seinem 35. Geburtstag. Er hat nur zwei Symphonien geschrieben, bevor er krank wurde. Wir werden die zweite, seine letzte, in dieser Spielzeit spielen, das haben noch nicht viele Orchester auf der Welt gemacht. Es ist so schöne Musik. Wenn wir uns die bekannten Komponisten anschauen: Bei den wenigsten ist bereits die erste oder zweite Symphonie ein Meisterwerk. Dvorak zum Beispiel schrieb neun Symphonien und mit jeder wurde er besser. Die beste ist neunte, das sagt jeder. Bei Kalinnikow sind bereits die ersten beiden auf diesem Top-Niveau. Kannst du dir vorstellen, was er komponiert hätte, wenn er noch zwanzig Jahre gelebt hätte? Für mich steckt da viel Melancholie drin. Die Musik ist so gut und es steckt diese Geschichte dahinter, das berührt mich.

Wie oft hörst du Pop-Rock-Musik?

Letztes Jahr war der Film über Freddie Mercury im Kino und ich habe angefangen, so viel Queen zu hören. Ich wollte Bohemian Rhapsody eigentlich dieses Jahr beim Klassik-Open-Air spielen, aber wir konnten die Noten nicht finden. Vielleicht nächstes Jahr… Ich mag auch die Rockband Dream Theater. Und ich habe einmal eine deutsche Band gehört, Tokio…?

Tokio Hotel?

Ja! Sehr schöne Musik, sehr besonders! Ich glaube, ich habe zwei CDs… Ich bin neugierig und an sehr vielen unterschiedlichen Genres interessiert. Das ist das Schöne an Musik.     

Erinnerst du dich, an das erste Musikstück, das dich berührt hat?

Das ist schwierig, aber ich würde sagen, die fünfte Symphonie von Tschaikowsky. Das war das erste Orchesterstück, das ich gespielt habe. Es ist wunderschön, große Steigerung… Von da an, mit 17, war ich ein Klassik-Fan.
 




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