200 Jahre Oktoberfest
Ab Samstag ist in München wieder Wiesn-Zeit. Zum 177. Mal seit 1810. Grund, dem 17-tägigen Ausnahmezustand in der Landeshauptstadt mal auf den 200 Jahre alten Zahn zu fühlen.
Mag man nun vom größten Volksfest der Welt halten was man will, immerhin wird es so manchen Franken sicherlich auch diesmal wieder auf die ein oder andere Maß an die Isar verschlagen. Unsere Münchner Kollegen haben deswegen mal für uns in der Oktoberfest-Historie gekramt:
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„Man drängt, man stößt, man läuft, man frißt, man spielt, man säuft, man rauft, man schimpft, man haut, man staunt, man gafft, man schaut, man kommt, man ist da, man geht, man schiebt, man hält, man dreht, man reitet, man fährt und sprengt, man eilt, man springt, man rennt, man singt, man lacht, man scherzt, man jubelt, hüpft und herzt, jedoch die Nacht bricht ein, man lässt‘s für heut gut seyn.“
Mit diesen Worten charakterisierte ein Anonymus das bunte Treiben auf dem Oktoberfest – im Jahr 1835. Ähnlich könnte die subjektive Beschreibung eines heutigen Wiesn-Besuchs lauten, wenngleich das Fest sich – rein objektiv betrachtet – während seines 200-jährigen Bestehens stark gewandelt hat: vom königlich-bayerischen Nationalfest zum größten
Bierfest der Welt mit bayerischer Couleur.
Zu Beginn seiner Geschichte huldigten die Münchner noch nicht dem Bier und dem daraus resultierenden Massenvergnügen, sondern ihrem Königshaus: Ein Pferderennen zu Ehren der Hochzeit von Bayerns Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese von Sachsen Hildburghausen am 17. Oktober 1810 war die Initiation dessen, was die Welt als
Oktoberfest kennt. An diesen seinen Ursprung erinnern heute nur mehr die ovale, auf die ursprüngliche Rennstrecke zurückgehende Form und der Name des Veranstaltungsortes, „Theresienwiese“ bzw. „Theresenswiese“, welcher der Braut und späteren Königin gewidmet worden war.
Ein solches Pferderennen wurde im Oktober des folgenden Jahres kombiniert mit einem zentralen Landwirtschaftsfest abgehalten: Das Oktoberfest als alljährlich stattfindendes, „wahres bayerisches Nationalfest“ war geboren. Als Feier von Agrarstaat und dynastischer Einheit der noch jungen Monarchie sollte es Identität bei den Untertanen stiften und tat es auch; sein stetig zunehmender Erfolg war garantiert.
1816 erweiterten Attraktionen wie das Vogel- und Scheibenschießen und die Glückshafen-Lotterie die festlichen Aktivitäten. Kleine Stände verkauften – im überschaubaren Rahmen und zunächst unter freiem Himmel – Bier und weitere Getränke, Essen und kleine Leckereien. Über 100 Jahre gehörten Rennen, Schießen und Viehprämierungen unter Schirmherrschaft des Königs zum festen Bestandteil des Oktoberfests. Verglichen mit den Millionen Menschen aller Herren Länder, die seit mehreren Jahrzehnten jährlich zur Wiesn nach München pilgern, waren deren Besucherzahlen anfangs eher bescheiden: Dem ersten Pferderennen hatten rund 50.000 Zuschauer beigewohnt.
Noch bis 1839 verliehen die Organisatoren des Oktoberfests einen „Weitpreis“ an denjenigen Besucher, der die weiteste Anreise zurückgelegt hatte, als Anreiz, an den Wettkämpfen teilzunehmen. 1827 erhielt ihn ein Bauer aus Sommersdorf – ein Ort in der Nähe von Deggendorf. Etwa fünfzig Jahre später feierten allein am Hauptsonntag bereits 200.000 Gäste auf der Theresienwiese. Dennoch unterlag die Besucherzahl lange Zeit starken Schwankungen; noch 1859 war die Wiesn finanziell gesehen ein Verlustgeschäft.
Ab den 1870er-Jahren nahm die Zahl der Schausteller und Buden stetig zu, unter anderem bedingt durch die wachsende Mobilität, die im Zuge der Industrialisierung einsetzte. Das Angebot reichte bald von Abnormalitätenschauen, Varieté- und Zaubertheatern bis hin zu Zirkuszelten und Museen. Exotisches war besonders beliebt und deshalb in einer Zeit, in der weder Political Correctness bzw. allgemeine Menschenwürde noch Tierschutz großgeschrieben wurden, häufig vertreten. Attraktionen wie die „Lippennegerinnen“ faszinierten genauso wie ein tätowierter Stier. Bis etwa 1930 prägten Völkerschauen das Schaustellerbild des Oktoberfests. Gerne durfte es auch mal etwas leicht Verruchtes sein – wie „Arabella – die Dame ohne Unterleib – lebend!“
Auch im „Velodrom“ ging es körperlich zu: Hier frönte der geneigte Gast dem noch neuen Radsport. Mehr oder minder ambitionierte Sportler fuhren Radrennen der besonderen Art, die nicht nur Schnelligkeit, sondern vor allem viel Geschicklichkeit von ihnen abverlangten. Schicklich wiederum sollten sich die Zuschauer verhalten und
„Fahrräder und Damen“ bittschön nicht anfassen, wie eine Plakette anwies.
Bier spielte bei dem ganzen Amüsement eine zunehmende Rolle. Bereits 1862 wurde die Bierlust der Münchner in fliegenden Blättern karikiert, das Biertrinken als des Münchners „fernere Pflichten“, denen er fleißig nachzukommen suchte, persifliert. Der zunehmende Alkoholkonsum – 1887 wurden 270.000 Liter Bier getrunken – und die Tatsache, dass
überhaupt „dieses Fest nur als Zechgelegenheit der arbeitenden Bevölkerung genutzt“ werde, wie böse Zungen behaupteten, machten die Einrichtung einer Polizeidienststelle direkt am Festplatz 1880 notwendig.
Um 1900 erlebte das Schaustellergeschäft einen Höhepunkt. Eine leistungsstarke Karussell-Industrie brachte zahlreiche neue Fahrgeräte auf den Markt, die es teilweise auch heute noch in ähnlicher Form gibt. So dreht sich seit 1927 der Kettenflieger – heute bekannt als Kettenkarussell – um die eigene Achse, am ersten Autoscooter trafen sich ab den Goldenen Zwanzigern die Halbstarken und statt auf der „Wilden Maus“ jagte man auf der „Wilden Katze“, in Achterbahnen dem Vergnügen hinterher. Gleichzeitig wandelte sich die Wiesn zu einem Bierfest. Die auf- und abbaubaren Festhallen der großen, nun weltweit exportierenden Münchner Brauereien kamen auf und ersetzten die alten, deutlich kleineren Bierbuden. Eine Entwicklung, die durch die steigende Besucherzahl notwendig geworden war. Die heutige Platzstruktur entstand. Mit den Festhallen kamen die Festkapellen, die im großen Stil für eine trinkfreudige Atmosphäre sorgen sollten; ein ganzes Repertoire an Trinkliedern entstand. Das zeitloseste und wohl am bayerischsten anmutende Trinklied stammt aus dieser Zeit: „Das Prosit der Gemütlichkeit“.
In krisenhaften Jahren gab es kein Oktoberfest. Aufgrund seiner großen Beliebtheit wurde seine Tradition jedoch auch über längere Pausen hinweg stets aufrechterhalten, wenngleich die Wiesn in Zwischen- und Nachkriegsjahren nur eine arg abgespeckte Version der sonstigen Festivitäten darstellte: Dünnbier und karge Essensmarken waren zu haben, anstelle der sonstigen bayerischen Schmankerl. Doch das Oktoberfest war schon tief in der bayerischen Kultur verankert. So tief, dass sich bayerische Soldaten des 14. Alpenkorps im Stellungskrieg in den Vogesen 1915 in Gedenken an Zuhause ein kleines, sehr dürftiges Wiesn-Abbild mit Schottenhammel-Zelt und Kettenkarussell
nachbauten.
Das Attentat vom 26. September 1984 ist der tragischste Moment in der Geschichte des Oktoberfests. Durch eine Bombenexplosion am Haupteingang waren 13 Menschen gestorben, 211 schwer verletzt worden. Seitdem gelten verschärfte Sicherheitsbedingungen.
Viele Elemente, die das Bild des Oktoberfests heute prägen, etablierten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einzug der Wiesnwirte, „O’zapft is!“, Schützen- und Trachtenumzug … Der beliebte Himmel der Bayern stammt aus den 50er-Jahren, den 60er-Jahren sind die typische Optik der Bierzelte, Glasbierkrug und Besucherzahlen in Millionenhöhe zuzuschreiben, dem folgenden Jahrzehnt die ach so praktische Bierbank. Modernste Ausschankanlagen versorgen heute die unzähligen Gäste mit höchster Bierbraukunst, diese wiederum vergnügen sich mit dem Neuesten, was es an
Fahrgeschäften gibt – wenn sie keinen Platz in den Zelten ergattert haben, die in den letzten Jahrzehnten nicht selten „wegen Überfüllung“ geschlossen werden mussten.
[Text: Konni Fassbinder; Fotos: Münchner Stadtmuseum]