Brutal intim: Solostück Prima Facie am Theater Rote Bühne
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Prima Facie im Theater Rote Bühne. Kritik von Helene Mayerhofer, zuerst erschienen auf dem neuen Portal für Theaterkritik für die Freie Szene: www.freieszenenbg.de/kritiken
Dass die juristische Wahrheit das Einzige ist, was zählt ist ein Credo, dass Tess Ensler schon ihre ganze Karriere begleitet. Selbst in einem Moment, in dem für sie alles auf dem Spiel steht, hält die Anwältin daran fest. Seit Ende Oktober zeigt das Theater Rote Bühne mit „Prima Facie“ den aktuellen Must-See-Stoff unter den Solostücken und bringt damit ein wichtiges Thema auf den Tisch, intensiv und diskussionswürdig.
Nach der erfolgreichen Produktion am Londoner Westend, für die Schauspielerin Jodie Comer mit dem Olivier-Award ausgezeichnet wurde und nach dem Broadway-Transfer respektive mit dem Tony-Award ist „Prima Facie“ auch hierzulande ein vielgespielter und vieldiskutierter Stoff. Der Titel, in der Juristik gläufig für „dem ersten Anschein nach“ verrät bereits das Milieu des Stücks.
Im Theater Rote Bühne schlüpft Maria Kempken in die Rolle der Tess Ensler. Als Kind einfacher Verhältnisse ist sie eine der wenigen, die es geschafft haben in der Londoner Justiz-Szene Karriere zu machen und sich dabei erfolgreich gegen ihre Kommilitonen durchzusetzen. Tessa ist Anwältin, jung, erfolgreich, hübsch. Ihr Spezialgebiet: Sexualdelikte. Minutiös findet und sucht sie Lücken in der Verteidigung, weiß wie sie Jury und Zeugen für sich einnehmen kann. Es ist nur ihr Job. Hätte der Staatsanwalt besser gearbeitet. Das ist ihre Rechtfertigung. Bis sie selbst Opfer wird und im Zeugenstand vor Gericht aussagen muss.
Regisseurin Andrea Hintermaier inszeniert das Solo-Stück quer durch den Saal. Erst selbstgefällig, dann gebrochen spricht Tessa das Publikum direkt an, steht dicht vor, hinter, unter ihm. Sie ist Teil der Gesellschaft, kein abstraktes Konstrukt, keine Idee. Die Regie nimmt dadurch jegliche Möglichkeit, emotionale Distanz zu der Figur aufzubauen. Das funktioniert großartig: Zuzusehen, wie diese Frau an der Gewalttat zu zerbrechen droht, von ihren eigenen Prinzipien überrannt wird ist kaum aushaltbar. Mit dem Wegsehen aber kommt die Scham des Sich-nicht-beteiligen-wollens. Eine schier brutale Intimität, die der Thematik des Stoffes nur gerecht wird.
Tess‘ anfängliche Überheblichkeit kommt in der Inszenierung aufgesetzt daher, Figuren, die das Stück nur aus den Augen der Protagonistin zeigt haben durch die scharfe spielerische Abgrenzung eine Note von Karikatur. Aber Maria Kempken füllt die emotionale Bandbreite der Anwältin bravourös aus. So gibt sie sich auch zu Beginn des zweiten Teils, der in der Handlung am ersten Verhandlungstag vor Gericht rund zwei Jahre nach „Tag 1“ spielt, noch gefasst. Nach und nach lässt Kempken die Fassade dann bröckeln, zeigt einfühlsam und nuanciert, wie Tess sich verzweifelt an ihre Überzeugungen klammert und wie selbst sie, als erfahrene Anwältin, den Auslegungen und Manipulationen der Verteidigung ausgeliefert ist. Das „geschieht ihr Recht!“ bleibt schneller im Hals stecken als sich der Gedanke überhaupt geformt hat. Man sieht Kempken die Zermürbung, die knapp zwei Jahre Hinarbeiten auf diesen Prozess, ohne die Gewissheit, die Oberhand zu haben, an, spürt sie im Raum.
Suzie Miller zeigt in dem Stoff mehr als klar, dass die Justiz in Fragen sexualisierter Gewalt nicht der Rettungsanker sein kann. Mit dem Ende löst sie die Trennung zwischen Bühne und Zuschauer, zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf um ihren Punkt noch einmal einzuhämmern. „Ich werde nicht schweigen“, deklariert Tess in einem Meta-Moment. Ein wenig ungelenk ist da leider auch der musikalische Einspieler von Mavi Phoenix‘ „Los Santos“ eine Fuck-You-Tirade, die in ihrer Wut zwar ganz und gar berechtigt ist, aber nicht so ganz zur Person Tessa Ensler passen will und so eher plakativ daherkommt.
Diese Überdeutlichkeit mag angesichts des Stoffes redundant wirken, doch die Inszenierung sitzt. Im Publikum macht sich in der Pause und nach dem letzten Abgang betretenes Schweigen breit. Für das Produktionsteam gibt es mehr als verdiente Standing Ovations. Und irgendwie macht sich das Gefühl breit, dass die auch all jenen Frauen gelten, die den Mut haben, nicht zu schweigen.
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Prima Facie
Regie: Andrea Hintermaier
Mit: Maria Kempken
weitere Termine:
Fr, 12.12.2025 um 20 Uhr
Sa, 13.12.2025 um 20 Uhr
Sa, 10.01.2026 um 20 Uhr
So, 11.01.2026 um 18 Uhr
Sa, 07.03.2026 um 20 Uhr
Fr, 01.05.2026 um 20 Uhr
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