Zwischen Freude und Spekulation
#Ausstellung, #Kolumne, #Kritik, #Kunst, #Kunsthalle, #Natalie de Ligt
Die Ausstellung „A New Kind of Joy“ mit Zeichnungen von Jorinde Voigt in einer Besprechung von Natalie de Ligt.
Ein Rundgang durch Jorinde Voigts Ausstellung kann unter Umständen Erinnerungen an Musik- oder Physikstunden wecken, bei denen man nichts verstanden hat, obwohl der Lehrer wieder und wieder an der Tafel mit bunter Kreide Partituren und Formeln aufgemalt und das Ganze noch instrumental oder mit dampfenden Explosionen flankiert hat. Mit derlei Demonstrationen warf der Lehrer die Angel der Erkenntnis über den Ozean der intellektuellen Überforderung in der Hoffnung, der Haken möge wenigstens auf der Hallig unserer emotionalen Auffassungsgabe landen. Für die einen stellten solche Lerninhalte einen Kosmos dar, den zu durchdringen sie sich gerne aufmachten, für die anderen aber blieben sie unzugänglich. Auch das fraglos solitärgleich herausstehende Werk der Berliner Künstlerin Jorinde Voigt (*1977), die fast ausschließlich auf Papier arbeitet, vermag derart die Geister zu scheiden. Unter ihren Händen verwandeln sich die oft großformatigen Papierflächen in vielschichtige Aufzeichnungen, die man als seismografische Selbstbeschreibungen charakterisieren könnte. Die Künstlerin hat ein wissenschaftlich anmutendes und partiturenhaftes Vokabular aus Linien, Zeichen Diagrammen und handschriftlichen Legenden entwickelt, das eine ganz eigene Welt mit eigenen Regeln repräsentiert. Ausgangspunkt sind individuelle Alltagswahrnehmungen und Erlebnisse, die in der Eigenwahrnehmung als elementar erfahren werden: Die Beobachtung von Zweien, die sich küssen, der Flügelschlag eines Adlers, klassische Musik, philosophische Lektüre, ein Schreckmoment. Den komplexen Moment des Erlebens visualisiert sie in einem ebenso komplexen Zeichensystem, wobei sie an die inwendigen, unsagbaren Vorgänge zusätzliche Wahrnehmungsparameter wie Raum-, Zeit-, Richtungs- und Geschwindigkeitskategorien anlegt (Rotation, heute bis übermorgen oder 2 Umdrehungen/Tag). Das Ganze stellt sich als hochgradig subjektivistisch dar, ist aber alles andere als willkürlich. Vor allem die früheren, reinen Stiftzeichnungen von Jorinde Voigt lassen sie als eine geradezu hochbegabte und mit einem unfassbaren logischen wie zeichnerischen Denken ausgestattete Künstlerin aufscheinen. Linien, Pfeile, Legenden usw. formieren sich zu einem atemberaubenden System, in dem das Auge hilflos und immer süchtiger werdend über die Weiten des Blattes irrlichtert. Man nimmt wahr, ohne zu wissen was, und genießt es, weil die Künstlerin ihre auf Papier transferierten Denkprozesse zu etwas Bildhaftem fügt. Bemerkenswerterweise scheint mir diese zum Betrachter geschlagene Brücke in den neueren Arbeiten, wie sie nun in der Kunsthalle versammelt sind, weitgehend gekappt. Bemerkenswert ist das deshalb, weil die Arbeiten der letzten Jahre auf den ersten Blick zugänglicher, also auch dem Betrachter zugewandter erscheinen. Allein weil die Künstlerin ihr Repertoire um malerische und objekthafte Elemente erweitert hat. Auf den Zeichnungen formieren sich nun zum Teil ins bonbonfarbene gesteigerte Flächen oder solche aus schwarzen Vogelfedern, die geheimnisvoll schimmern. Andere Blätter strahlen dem Betrachter von weithin entgegen: Sie beherbergen großzügig mit Blattgold belegte Flächen. Sie fungieren wie ein Äquivalent zum Liniensystem, wollen aber nicht recht zusammenfinden. Sie erscheinen mitunter wie illustratives Beiwerk und verharren auf dem Blatt wie ungesellige Solitäre. Die Dinge fügen sich nicht wirklich zu einem Bild, so dass die Zeichnung Gefahr läuft, ihr Potenzial als ästhetisches Artefakt einzubüßen. Der Verlust des Bildhaften verstärkt das ohnehin hermetische Moment von Jorinde Voigts denkerischem und zeichnerischem Kosmos und schafft eine zusätzliche Distanz bei der Rezeption. Andere mögen dieser Einschätzung widersprechen und außerdem anmerken, dass allein das Freilegen des Unsagbaren und Ungreifbaren mittels eines unbestreitbar ästhetischen Systems, dass also die Visualisierung an sich die eigentliche Kunst von Jorinde Voigt sei. Ob die Rezeption eines Kunstwerks zu einer elementaren Erfahrung werden kann, ist und bleibt individuell und spekulativ.
Bis 7. Mai
KUNSTHALLE NÜRNBERG, Lorenzer Str. 32, Nbg.
Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr. kunsthalle.nuernberg.de
KUNSTHALLE
Lorenzer Straße 32
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