Bausteine im Mosaik des Erinnerns

MONTAG, 25. JULI 2022, STADTMUSEUM ERLANGEN

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Die Ausstellung „Aber ich lebe“ im Stadtmuseum Erlangen widmet sich der Entstehung einer einzigartigen Graphic Novel.

In den letzten Tagen wurden insgesamt sieben Erinnerungsbäume nahe dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald, das heute ein Mahnmal gegen die Grauen des Holocaust ist, von Unbekannten abgesägt. Das Internationale Auschwitz Komitee bezeichnet die Aktion als „hasserfüllte und kalkulierte Machtdemonstration von Neonazis“, die nachts auf dem Gedenkort bei Weimar vollzogen wurde. Die Meldung ist aktuell augenscheinlich „nur“ eine von vielen in der Kakophonie der internationalen Nachrichten, und das sollte uns beunruhigen.

77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es nur noch wenige direkte Augenzeugen der NS-Menschenrechtsverbrechen. Aber es ist ja nicht so, dass in dieser Zeit keine „kalkulierten Machtdemonstrationen“ gegen die historischen Fakten erfolgt wären. Die zynische, sogenannte „Auschwitz-Lüge“, nach der der Holocaust nur eine Erfindung sei, was man daran sehe, dass es keine Fotografien oder Augenzeugenberichte aus den Gaskammern selbst gäbe, beschäftigte in den 1980er Jahren neben den Gerichten zum Beispiel die französischen Philosoph*innen. Es war am Ende Jean François Lyotard, der in seinem Buch „Le différend“ (1984) den offensichtlichen, logischen Widerspruch der Theorie herausarbeitete: In den Gaskammern selbst gab es keine Überlebenden, wer hätte also überhaupt irgendwelche Dokumente zu ihrem Inneren produzieren sollen, und wie?

Es spricht nicht für den Humanismus und die Intelligenz unserer Gesellschaft als Ganzes, dass solche Debatten ernsthaft geführt werden mussten, und mit Blick auf die postfaktischen Zeiten, in denen wir uns befinden, kann man wohl nicht automatisch von einer Besserung der Lage ausgehen. Wie lassen sich die historischen Fakten, das unbestreitbar Geschehene, das Erinnerungserbe der letzten Generationen in diesen Zeiten also bewahren? Das ist die große Frage, die vermutlich bedeutend für unsere zukünftige Gesellschaft ist.

Die Ausstellung „Aber ich lebe“, genauer gesagt, das Buch, auf dem sie basiert, fügt dieser dokumentarischen, bewahrenden Erinnerungsarbeit nun ein weiteres Mosaiksteinchen hinzu: Drei gezeichnete Geschichten sind versammelt, von den renommierten Zeichner*innen Miriam Libicki, Barbara Yelin und Gilad Seliktar, die sich jeweils über einen längeren Zeitraum mit vier Überlebenden des Holocaust trafen und abstimmten, und deren Lebensgeschichte in Form von Zeichnungen festhielten: Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, unter anderem, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp, von ihren Eltern getrennt, wurden vom niederländischen Widerstand an 13 verschiedenen Orten vor ihren Mördern versteckt.

So bricht das Buch Sehgewohnheiten auf, konserviert die Erlebnisse der Zeitzeug*innen und wirkt – wenngleich von der Herausgeberin Dr. Charlotte Schallié ausdrücklich nicht als wissenschaftliche Forschungsarbeit konzipiert – als so präzise wie möglich recherchiertes und gegengeprüftes Sitten- und Weltbild einer unmenschlichen Zeit.

Warum ein „Mosaikstein“? Weil die Überlebenden selbst sagen, dass man bei all dem Grauen das Gute und Schöne nicht aus den Augen verlieren darf, dass ein Gegenmittel gegen solche Verbrechen das Akzeptieren und Umarmen des „Anderen“ und „Fremden“ ist. Eindrucksvoll hat das in anderem Kontext der – hier nicht vertretene – französische Comicautor Joann Sfar mit seinem ganz eigenen „Mosaikstein“ demonstriert, der mit der mehrteiligen „Klezmer“-Comicserie, oder mit dem Märchen „Die Katze des Rabbiners“ Denkmäler für die Skurrilität des jüdischen Humors schuf, ohne jedoch die zu allen Zeiten herrschende Ablehnung auszusparen. So wird Erinnerungsarbeit in Zukunft wohl zunehmend aus mal bunten, mal düsteren Mosaiksteinchen bestehen, die zusammen ein komplexes Bild einer immer widersprüchlichen Vergangenheit zeichnen. Hoffen wir, dass unsere Gesellschaft diese Komplexität in Zukunft aushalten und weitertragen kann, denn eine gute Alternative zeigt sich bisher nicht.

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Dr. Charlotte Schallié (Hg.), Miriam Libicki, Barbara Yelin, Gilad Seliktar:
ABER ICH LEBE.
VIER KINDER ÜBERLEBEN DEN HOLOCAUST

C. H. Beck Verlag, 176 Seiten
Hardcover, 25,- EUR
ISBN: 978-3-406-79045-4
 
Bis 28. August 2022
ABER ICH LEBE – DEN HOLOCAUST ERINNERN
STADTMUSEUM ERLANGEN
Martin-Luther-Platz 9, Erlangen
stadtmuseum-erlangen.de
 




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