Dem Egers sei Welt #51: Zwölf Zentimeter

MITTWOCH, 28. SEPTEMBER 2016

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

Ich konnte mir das nicht erklären. Die Gedanken sprangen gleichzeitig wie flache Steine in hundert Richtungen über den See meines Bewusstseins. Von wo war ich gekommen? Von links?

Der U-Bahn-Schacht begann sich zu drehen. Vorne und hinten waren nichts weiter als hysterische Behauptungen. Es war mir ein unlösbares Rätsel, wie ich zu der U-Bahn-Haltestelle gekommen war. Ich sah die Treppe doppelt. Eine graue Gerölllawine stürzte sanft neben mir herab. Auf meiner Schlafanzughose klebte eingetrocknetes Müsli. Über Lautsprecher sagte eine strenge Stimme: „Wir kennen die Ängste des Kleinbürgertums, qua Abstieg in die Überflüssigkeit, den Status als Mensch zu verlieren“. Eine Frau in verhatschten Schuhen und einem verzipfelten Rock trug ihr gesamtes Hab und Gut in zwei Norma-Tüten an mir vorbei. Sie roch nach Salbei. Wusste nicht, ob ich in Richtung Langwasser oder doch zur Hardhöhe einsteigen sollte. Sah dann die rotierenden Anzeigetafeln dreifach. Und hatte – Ehrenwort! – keinen einzigen Schluck Alkohol getrunken. Leise rannten fünf Ratten neben den Gleisen. Mein Gesicht – war das ich? – das sich in der Scheibe vor dem verschwommenen Fahrplan spiegelte, war mir gänzlich fremd. Ein Drachen brüllte aus der schwarzen U-Bahn-Röhre. Eine Taube packte mich an meinem Schlafanzugoberteil und flog mit mir fort.

Das Haus war in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut worden. Die Wände waren stramm wie ein dicker Bauch. Die kleinen Fenster glotzten satt und böswillig. Schmale Kieswege drehten sich im Kreis herum. Ein trotziges Kind hatte mit grau und wässrigem Blau den Himmel hingeschmiert. Frau Sonne arbeitete nur noch Teilzeit. Unter der Erde schoben Zwerge kleine Wägelchen mit zerknautschtem Essen und lauwarmen Bettzeug. Der Mann, mit dem ich das Zimmer teilte, hatte mir anvertraut, das zu seinem Gedenken auf dem Erdmond ein System von Mondrillen und eine Kraterkette nach ihm benannt seien. Direkt vor Prag warte eine Armee mit mehr als tausend Mann auf seine nächsten Befehle. Die Fingerkuppen seines Daumens, Zeige- und Mittelfingers waren gelb wie Bernstein vom Tabak seiner filterlosen Zigaretten, die er rauchte, bis nur noch ein winziger kleiner Rest übriggeblieben war. Bevor er zu Bett ging, und nachdem er aufgestanden war, flüsterte er einem schwarzen Stoff-Panther Geheimnisse ins rechte Ohr. Er hörte oft Radio, besonders gern das Rauschen kurz vor der eigentlichen Frequenz.

Mit festem Händedruck hatte mich der Hausgott begrüßt. Einmal hatte er mir ein Glas Honig von seinen eigenen Bienen mitgebracht. Er studierte mich wie ein antiquarisches Buch und klebte mir meinen zerschlissenen Buchrücken neu zusammen. Am Nachmittag spielte er Tischtennis mit mir. Am Abend musste ich plötzlich doppelt so viele Tabletten einnehmen. Als ich ihn am nächsten Morgen darauf ansprach, gab er zur Antwort, dass meine Reaktionen zu schnell und die Wucht meiner Aufschläge zu groß gewesen wären.

Monate später lag ich woanders auf der karierten Tagesdecke auf dem Bett und versank ganz langsam und immer tiefer in die leise murmelnde Matratze. Der kleine Wecker auf dem Nachttisch glotzte mich blöde an. Seine Zeiger waren müde und drehten sich trotzig langsam. Ich sah den Vorhängen zu wie sie vergilbten. Der Nagel, an dem das Bild über dem Bett hing, löste sich ganz allmählich aus der Wand. Jeden Moment konnte die Zimmerdecke brechen und auf mich hinunterstürzen.

Die Zimmertüre stand offen. Ich hörte wie sie telefonierte und war überrascht, wie viele Worte sie in sehr kurzer Zeit hintereinander sprechen konnte. Am Ende der Leitung sprach ein junger, hübscher Mann mit modischer Frisur und frisch rasiertem Kinn. Sein Anzug war aus bester englischer Wolle gewebt und betonte seine sportliche Figur. Er schrieb gerade an seinem nächsten Buch, das er auch selbst illustrierte und zeitgleich ins Französische und Russische übersetzte. Ein großer deutscher Buchverlag drängte ihn zur Veröffentlichung seiner wertvollen Gedanken und grandiosen Bildwelten. Während des Gesprächs lief er mit dem schnurlosen Telefon über den hellen Dielenboden seiner 8-Zimmer Wohnung in Charlottenburg. Sie lachte wie ein Delfin über alles, was er sagte. Er brauchte nur auszuatmen und ihr Puls verdoppelte sich. Er zupfte gerade gedankenverloren an einer weißen Orchidee auf dem Fensterbrett, während er das dritte Kapitel exzerpierte. Sie zupfte sich ganz sachte an ihrem erröteten Ohrläppchen und stöhnte sanft ihre demutsvolle Bewunderung in den Hörer. Ich hoffte, dass die Atome, aus denen mein Körper, die Gedanken und Ohren bestanden, langsam beginnen würden, sich von einander zu trennen. Und wenns nur zwölf Zentimeter wären.

UND WAS MACHT EGERS SONST NOCH IM SEPTEMBER?
Am Mittwoch, 5. Oktober, geht er mit seinen Musikanten-Spezeln von Fast zu Fürth tagsüber erst in Klausur, um abends dann die „Öffentliche Probe III“ im Kulturhaus Katana abzuliefern.
Am Dienstag, 11. Oktober, heißt es dann endlich wieder EGERSDÖRFER & ARTVERWANDTE im Festsaal des Künstlerhauses (KunstKulturQuartier). Zurück aus der Sommerpause begrüßt der Peter Frankenfeld der guten Laune dann unter anderem als Gäste den österreichischen Kabarettist und Radiomederator Hosea Ratschiller, Musikkabarettist C. Heiland, die Chaotic Strings, Flaumfreund Bird Berlin und das Heimchen Carmen. Präsentiert von curt, natürlich!

Wichtigeres, Genaueres und Weiteres unter www.egers.de.

 




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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