Jörg Hechel | Wenn Wörter eine Sprache wären

FREITAG, 30. APRIL 2021

#Dada, #Dr. Marian Wild, #Duchamp, #Im Gespräch mit, #Interview, #Jörg Hechel, #Locked in, #Plastik

Locked in | 059 |
Wante quante wante,
Da sitzt ja meine Tante,
Seit Ephraim die Sparbüchse verschluckete,
Irrt sie - eija, eija -
Umher und zahlt keine Steuern.
Wirth unter Schweiß massiert seinen Steiß
Mit Fleiß!
Safte vita rati rota sqa momofante,
Was weinst du, greise Tante,
Oelisante ist tot! Oelisante ist tot?
Himmelherrgottkruzitürkensakramentschockschwerenot!
Die war mir noch funfzehn funfzig schuldig.

(Wieland Herzfelde – Trauerdiriflog)

Unglaublich, dieser Typ. Denkt man sich als Kunsthistoriker nichts Böses, lädt den Jörg Hechel zu einem Interviewprojekt ein, und dann erdreistet dieser Kleisterpinselschwinger sich, das Ganze umzudrehen und die Interviewantworten zu einem literarischen Kunststatement zu machen. Kann ich auch, dachte ich, revanchiere ich mich halt und schreibe den Anfang jetzt nicht über seine Kunst, sondern über seine Interviewantworten, dann wird er schon sehen was er davon hat: Die helle Kammer von Roland Barthes hab ICH dir empfohlen, so sieht‘s nämlich aus. Nicht einmal erwähnt wurde ich neben der Städeldirektorin als Inspiration, Faupax, Herr Hechel, Faupax, eine Fehde lässt sich zum gegebenen Zeitpunkt nichtmehr ausschließen. Und Dostojewski, pfft, jeder liest doch heutzutage Dostojewski, Dostojewski ist geradezu die BILD-Zeitung des Literaten geworden, damit lockst du mich nicht hinter dem Ofen vor. Und überhaupt, was ist denn bitteschön ein etymologisch geschultertes Reflektiv?
So, das musste gesagt werden, jetzt geht’s mir besser und ich kann tun wofür ich hier bin. Werkbeschreibung: Grafik mit Büste und Speerwerfer, goldener weiblicher Unterleib, Bild mit roter Strichfigur und Polygonen, Doppelbüste in rosa und monochrom, diverse Schlingen, roter Pfeiler mit Vögeln, Frauenkörper mit Laserpistole, graue Stele zwischen Atemerfrischern. Alles großartig, wie das Interview. Weiter so, du machst der Welt Freude. HDGDL, Marian.

Im Interview erzählt Jörg von Dostojewski, einsamem Eisen und warum er Duchamp für sich akzeptiert hat.

Marian Wild: Du studierst in der Akademie in Nürnberg in der Schmuckklasse von Suska Mackert. Auf deinem Portraitfoto hast du einen sehr eigenwilligen Halsanhänger um. Was fasziniert dich an Schmuck und wo siehst du die Kunstebenen in diesem Bereich?
Jörg Hechel: Das weiß ich so nicht. Aber in den anderen Künsten: Bildhauerei, Malerei, Video, Installation und so weiter wüsste ich auch nicht um die wesensnotwendige Unmittelbarkeit zwischen dem Machen und dem Widerspruch zur Realität – man muss tun. Dieser gefühlten Wesenheit folgend, auch ohne kairos. Es geht auch um den magischen Moment, um Erkenntnis. Jede*r Friseur*in, Koch/Köchin, jede*r, der ein Ornament in den Milchschaum des Café Crème drapiert, totes oder lebendiges pierct und so weiter, kommt als Künstler*in der Gegenwart daher, kaum noch als Mensch oder Handwerker*in oder Mensch mit ausübender Tätigkeit. Und wenn nichts funktionieren will wird Konzept, Geste, Performance aus Vielem. Das mag individuell dann Reichtum sein, öfter aber, glaube ich, vervielfältigte Einfalt – die als Vielfalt Kunst ihren Platz in einer Blase, die weder ex- noch implodieren will, gefunden hat; die wie ein Magen alles verdaut und extrem dehnbar ist – gesunde austauschbare Banalität einer virtuell vernetzten pluralisierenden 3D-Druck-Gesellschaft, die sich nach vorn, hin zur Superintelligenz organisiert und richtig kontrollgegendert wenig in Frage stellt. Hier aber gibt es auch keine wirklichen Krisen, Kriege, sphärischen Gegebenheiten im Kern oder an der Oberfläche, welche Menschen zwingt, genau werden zu müssen wie in Ungarn, Russland, dem Iran, Jerusalem und so fort. Schmuck jedenfalls kann des Menschen Individualität unterstreichen und Facetten unglaublich schön – dezent oder brachial – hervorheben. Und durch das erlernte Gold- und Silberschmiedhandwerk ist eine Grundorientierung, vom Handwerk ausgehend, natürlich spannend, kommt man sich auch an der Akademie damit vor wie ein perforierter Neandertaler, der jedweden theoretischen Geistesfurz ungelebt nachplappernd als eigene Facette im Alltag zu spüren erfährt.

Deine Objekte sind auf sehr vielfältige Art irritierend, teils durch die Kombination ihrer Elemente, teils durch Farbigkeit und Material. Lyrik ergänzt die Rundumschau. Mir scheint ein Hauch von Dada durch dein Werk zu wehen, oder? Was beschäftigt dich beim künstlerischen Schaffen?
Die Menschheit beschäftigt mich. Meine Sachen sind alle monothematisch und wie die Menschheit bunt, absurd, vielleicht ein wenig skurril und tragisch, und darwinistisch betrachtet: Meine Sachen streben nach Licht, dem Erkanntwerdenwollen, natürlich. Ich habe eine Ausnahme, und jene ließ sich in den Duktus einbinden. Und wenn du Dada entdeckst, danke! Das Babygebrabbel ist mir oft näher als das von älteren Vertretern gleicher Spezies. Und natürlich wird man das Vergangene überarbeitet mit einbinden – immer. Schon dass ich dies schreiben darf und meine Umwelt nicht mehr durch gezielte Steinwürfe malträtiere, ist etymologisch geschultertes Reflektiv.

Nochmal zur Lyrik: Du schreibst mitunter sehr spitze Beobachtungen über Kunst in deine Bilder mit ein. Wie viel liest du so neben dem künstlerischen Arbeiten, und welches Buch hat dich in letzter Zeit am Stärksten geprägt?
Das eine ist meine Ausnahme, die Arbeit „Dear Gustave…“ Ich stand dienstbeflissen gerade bei einer Sonderveranstaltung im Neuen Museum in der Rosemarie-Trockel-Installation vor dem Bild „Replace me“, und fertigte Zeichnungen. Eine Frau trat an mich heran. Sie fand meine Zeichnungen wie eine sehr gute Weiterführung von Marcel Duchamp. Sie meine bestimmt Gustave Courbet „Der Ursprung der Welt“ erwiderte ich, und nach einem kurzen hin und her, als sie sagte, sie ist die Direktorin des Städel Museums Frankfurt, akzeptierte ich, las diesbezüglich über Duchamp und entwickelte den Siebdruck. Alle anderen Arbeiten sind Grundhaltung. Der Siebdruck „the Exact measure“ beschreibt das menschliche Dilemma. Zwischen dem Rosa der vermeintlich Naiven und den Grautönen jedweder Gleichmacherei, ob weltverändernd wie Nazis oder die kommunistischen Systeme, unter diesen sich duzenden, sich ständig bejahenden Oberflächen wird jedwede Individualität Abszess, und als solcher behandelt. Wir unterliegen seit der Antike dem „Griechischen Ebenmaß“, der Säulenordnung, dem Goldenen Schnitt, der Fibonacci-Folge, dem Freud‘schen „Über-Ich“. In den Kopf des griechischen Jünglings habe ich drei Archetypen gestellt. Den Speerwerfer, den Keilhauer und den Sucher, die über den Duktus, den roten Faden miteinander verbunden sind und im Tunnel – dem Kopf des griechischen Jünglings – aus griechischem Ebenmaß dem Licht aus Zukunft durch diesen Eckpfeiler geleitet entgegentreten müssen. Über alles fällt der Schnee des Vergessens. Aus diesem hervor treten die wunderbaren Sätze von Herta Müller, aus dem Buch „Atemschaukel“. So funktionieren alle meine Arbeiten, auch der Schmuck. Alle Ketten, Arm- und Oberarmbänder sind ursächlich aus der Agrar- und Viehwirtschaft. Altes umgeschmiedetes magnetisches Reineisen, das Fragen stellt: nach Wert, Haltung, Verloren sein, Schmerz, Wunden, Einsamkeit, Schönheit. Zur Zeit lese ich nebenher drei Büchlein. Roland Barthes „Die helle Kammer“, Lajos Egri „Dramatisches Schreiben“, das Standartwerk aller Theaterleute weltweit von 1927 bis heute beim Betrachten von Film, Theater und Romanen und Sebastian Haffner „Anmerkungen zu Hitler“. Gerade hier, in dieser auratischen Stadt, in der Designer*innen Künstler*innen sein wollten und die Welt retten; eine Stadt, die gerade für 86 Millionen Euro den Großspielplatz der Designparaden gegen Verwitterung zu pflegen beginnt.

Eines deiner Objekte ist ein nackter, weiblicher Unterleib in Bronze, gewisse Parallelen zum „Fountain (Buddha)“ von Sherrie Levine werden sichtbar. Wie stark hat dich die Einsamkeit des Shutdowns belastet und was hat dir in dieser Zeit besonders gefehlt?
Vielen Dank für die Interpretation von dir. Die Künstlerin Sherrie Levine kannte ich nicht, jetzt schon; es wurde Zeit!
Der Unterleib von mir ist sächlich angelegt, zweifelsohne eher hin zu einer Eindeutigkeit. Die Arbeit trägt den Titel „placeholder“. Sie ist sehr ästhetisch, sehr, sehr schön und wird durch einen Steg auf der Rückseite gegen die Stuhllehne befestigt. Der Unterleib schwebt über der Sitzfläche des Stuhls in dessen Mitte. Hier geht es auch wieder um das „Griechische Ebenmaß“, um die Begrifflichkeit und die Frage nach „dem Schönen“. Man ist immer zu groß/klein, dumm/klug, alt/jung, dick/dünn, potent/impotent, abseitig/angepasst und so weiter. Diese „zu kurz gekommenen“, die vielmals in ihren Selbsterfahrungsjogakursen sich auf der anderen Halbkugel kennengelernt haben beim Flechten von Traumfängern und dem aufsaugenden Inhalieren anderer Religionen, jenen besonders habe ich diese schwebende Arbeit ans Herz gelegt (elementare Verbalwurzel Ki). Die Einsamkeit des Shutdowns hat mich atmen lassen. Außerdem gefällt und entspricht mir schon immer Dostojewskis Deutung von Einsamkeit. Kein Feinstaub, kein Flugverkehr in der Luft, der klarste Himmel seit 1945. Man konnte bis zum Anfang der Menschheit, und noch weiter in die Ferne blicken und Mondzyklus und Sternen folgen. Gefehlt haben mir in dieser Zeit die imaginären und marginalen Feindbilder, die mich natürlich zum Arbeiten zwingen. Wäre die Welt ein bisschen vollkommener bräuchte es keine Kunst. In dieser Zeit konnte ich relaxen.

Weitere Informationen zum Künstler: (KLICK!)




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