Steve Braun | V-Mann im Hausarrest

FREITAG, 10. APRIL 2020

#Dr. Marian Wild, #Im Gespräch mit, #Interview, #Kunst, #Locked in

Locked in | 003 | – Wenn die eingetüteten Mäuse kein Symbol für die Corona-Krise sind, was dann? Künstler fühlen oft gesellschaftliche Entwicklungen kommen und verarbeiten sie bewusst oder unbewusst in ihren Arbeiten. Das war mit dem Corona-Virus und Steve Brauns „Bags“ von 2015 nun mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so, das Gefühl von Beklemmung und klaustrophobischer Eingeschlossenheit bleibt dem Bild aber erhalten.

Es ist ein spannendes Bild, unterläuft es doch unsere eingeübten Reaktionen. Soll man abgestoßen sein wegen der so monströs schön präsentierten Tierleichen? Genauso könnte man nachdenken, über die Rolle der Maus im Tierversuch, über tiefgefrorene Mäuse, die man für seine Hausschlange im Tierkostladen kaufen kann, über uns selbst im Kapitalismus. Oder jetzt über uns selbst in der Krise. Nachzudenken statt sich zu empören ist ja vermutlich allgemein ein guter Vorsatz, in zunehmend moralisierenden und leicht entflammbaren Zeiten, und ganz sicher hilft es auch bei manchen Werken von Steve. Wenn man seine „Märtyrer“ ansieht, mystische, verschwommene Mehrfachbelichtungen zwischen Bigfoot und Jesus. Oder wenn man ihm in seiner „V-Mann“-Serie in die Punkerszene folgt, wo er mitunter so deutlich über das übliche Klischee hinausreichende Erlebnisse mit seiner Kamera dokumentiert. Für LOCKED IN hat er sich auf Digitalcollagen verlegt, wieder so ein Haken, den er gerne hier und dort in seinem künstlerischen Werk schlägt.
 
Im Interview spricht Steve über alte Bilder, Dokumentationsstrategien und digitale Wolpertinger:
 
Marian Wild: Du scheinst eine Schwäche für "historische" Materialien des 20. Jahrhunderts zu haben, die Bilder erinnern an Videostills aus den 1980ern, Selfies aus den 1990ern oder Fotoschnipsel aus der Weimarer Zeit. Was bedeuten dir diese vergangenen Bildwelten?

Einige dieser Bildwelten habe ich noch bewusst erlebt. Und da bestimmte Ästhetiken, zum Beispiel die von VHS-Kassetten, immer ein kollektives Gefühl von Erinnerung auslösen und ich davon nicht ausgenommen bin, war mein Interesse geweckt. Für mich ist die Vorstellung von der Vergangenheit regelrecht abstrakt, weil ich mir viele typische Sachverhalte oder das Leben von früher nur als Fiktion vorstellen kann. Für mich haben diese alten Darstellungsformen, wie sie jede Generation hatte, eine gewisse Mystik, schon beinahe etwas Fantastisches, denn in dem Material steckt schon von Grund auf eine Narration. Erinnerung ist Vergangenheit und diese wird in den meisten Fällen entweder idealisiert oder dämonisiert, sie entspringt aber immer unserem eigenen Verstand. Das Gehirn füllt Erinnerungslücken auf oder erschafft Erinnerungen an Momente die niemals existierten. Besonders die eigene Interpretation spielt eine große Rolle in Bezug auf Erinnerungsbildung. Gesellschaftlich hat sich die Ästhetik der Erinnerung auch in unscharfen und träumerischen Darstellungen manifestiert. Sobald sich im Film das Bild mit pastelligen Tönen und einer unscharfen Vignette zeigt, ist die Wahrnehmung der Zuschauer darauf konditioniert es als Rückblende wahrzunehmen. Das gleiche Ereignis kann von allen Personen verschieden wahrgenommen werden und so entstehen eigene Deutungen von visuellen Verarbeitungen, die rückblickend noch abstrakter werden. Das gleiche Phänomen zeigt sich bei historischem Material von schwarz-weiß Fotografien oder Film. Wir denken, wenn wir uns an historische Bilder der Geschichte erinnern, immer in schwarz-weiß. Die Vergangenheit wurde so mit einem Graufilter überzogen und hat sich in unser Gedächtnis eingeprägt, dass wir diese Bildwelt selbst für das Erinnern übernehmen. Dabei merken wir gar nicht, dass das alles nichts mit der Realität, wie wir sie unmittelbar wahrnehmen, zu tun hat. Wenn aber unser Erinnern schon reine Fiktion ist, wieso es also nicht als künstlerisches Mittel nutzen? So wie jeder Autor oder Filmemacher mit Elementen der Realität arbeitet, sie aber durch neue Szenarien erweitert, so nutze ich alte Bildwelten und mische sie mit neuen Darstellungen um den Kontext zu verschieben und so eine neue Aussage zu treffen. Die Deutung von Bildern ändert sich auch mit den Jahren, so ist die Einordnung von Bildern zur Zeit der Entstehung eine völlig andere, als die heutiger Zeitgenossen. In meiner „Strange Memory“-Fotoserie beschäftige ich mich mit genau diesen Phänomen: Videomaterial aus Haushaltsauflösungen, Familienaufnahmen oder dem eigenen filmischen Videokassetten-Archiv werden einer gründlichen Überprüfung unterzogen und Millisekunde um Millisekunde durchforstet auf der Suche nach interessanten Bildern. Jede Zeit hatte ihr Medium, deswegen kann man so spielend einfach mit Irritation arbeiten, denn zeitliche Zuschreibungen funktionieren bei meiner Arbeit nicht mehr. Bei einigen Fotografien gehen viele Betrachter von einem lange vergangenen Zeitraum aus, weil nicht nur die Protagonisten aus der Zeit gefallen wirken, sondern eben auch die Aufnahmetechnik. Die Stilistik meiner „V-Mann“-Serie erinnert oftmals an Schnappschüsse aus den 1990ern oder die „Keiner von uns“-Serie wirkt auf den ersten Blick klassisch dokumentarisch. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch den Bildaufbau und die Kleidung der Protagonisten. Ich versuche kein objektives Bild in meiner dokumentarischen Arbeit zu zeichnen, sondern eher meine Empfindung für ein bestimmtes Sujet in Bilder zu projizieren, daher wirkt die „V-Mann“-Serie eher tagebuchhaft und bricht mit Regeln der klassischen Dokumentation.
 
Die neuen Collagen, die du für unser Projekt anfertigst, sind auf den ersten Blick untypisch für dich, weil sie einen radikal anderen Weg gehen als beispielsweise die Fotos der "V-Mann-Serie". Auf den zweiten Blick ist es aber grundsätzlich gar nicht möglich, dein Portfolio als einheitliche Linie zu beschreiben. Woher kommen also deine Ideen und dein Antrieb? Gibt es einen roten Faden in deiner Arbeit?

Meine Arbeit ist recht vielseitig und geht von diversen Formen der Fotografie, über Bildhauerei bis zu digitalen Bildwelten. Sicherlich ist das erstmal für den Betrachter etwas befremdlich, wenn er sich durch mein Portfolio arbeitet, aber eigentlich bauen so gut wie alle Arbeiten aufeinander auf und im Ansatz teilen sie auch ein ähnliches Mindset. Ich arbeite hauptsächlich projektbezogen und versuche für jedes neue Unterfangen eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Da sich bestimmte Ideen nur unter bestimmten Umständen realisieren lassen, also indem ich die Ausgangsparameter verändere, entsteht so auch eine andere Ästhetik. Viele meiner Arbeiten sind auch Langzeitprojekte, z. B. das V-Mann-Projekt, welches ich über 4 Jahre ausarbeitete, in der sich innerhalb dieser Zeit die eigene Ästhetik des Projekts veränderte und facettenreicher wurde. Anfänglich versuchte ich die Lehren, welche ich aus meinem „Keiner von uns“-Projekt ziehen konnte, in das neue Projekt zu integrieren, was anfänglich nur so halbwegs funktionierte, da meine Freunde mit denen ich jetzt arbeitete, liebenswert, aber vollkommene Chaoten waren. Um dem gerecht zu werden, überdachte ich meine Arbeitsweise und passte meine Kamera besser dem Geschehen an. Aus dem V-Mann Projekt resultierte dann die „Strange Memory“-Serie. Aus ersten Versuchen die Nürnberger Szene auf VHS festzuhalten und interessante Clips und Videostils zu generieren, entwickelte sich ein völlig neues Projekt, obwohl meine ursprünglichen Aufnahmen nur das „V-Mann“-Projekt erweitern sollten.
Ein anderes Projekt, „Portals“, welches ich mit Federico Braunschweig in kollaborativer Arbeit fertigte, zeigte eine ganz andere Facette meiner Arbeit. Transzendenz, Okkultismus, SciFi und andere Ideen integrierten wir in diese Ausstellung. Ideen, welche mich lange vorher schon beschäftigten, ich aber keine aktuelle Möglichkeit sah in mein Schaffen einzugliedern. Durch die Kollaboration eröffneten sich mir neue Wege und auch nach der Zusammenarbeit konnte ich davon profitieren. Aus der Beschäftigung mit Überbleibseln der Portals-Ausstellung, den David-Büsten, fertigte ich nach einem Jahr die „Archetyp“-Serie. Die Idee der Verschiebung der Bedeutung formulierte sich in aufwendig komponierten Stillleben heraus. So haben viele meiner Arbeiten Verknüpfungen untereinander und ermöglichen mir so neue Themengebiete zu erkunden, auch wenn der größte Knotenpunkt noch immer meine Person und meine Interessen sind.
 
Die neuen Figurencollagen sind sehr kompakt, gleichzeitig durch den weißen Hintergrund fast steril und alleine. Deine früheren Fotografien basieren dagegen oft darauf, dass du mit den verschiedensten Leuten in der Stadt unterwegs bist, dich förmlich in eine Subkultur eingräbst und sie von innen dokumentierst. Wie schwer treffen dich die aktuellen Ausgangsbeschränkungen und wie geht es dir momentan damit?

Man passt sich halt an. Es ist sicherlich eine extreme Einschränkung, aber auch eine Zeit der Möglichkeiten. Da man gerade nicht in andere Projekte eingebunden ist und so den Kopf für neue Ideen offen hat, kann man seine Arbeitsweise erweitern. Durch den dokumentarischen Ansatz bin ich nun einmal immer auf ein Sujet oder Protagonisten angewiesen, was manchmal auch echt ärgerlich sein kann. Durch das neue Projekt besinne ich mich ein wenig auf die Anfänge meiner Arbeit. Früher habe ich, noch bevor ich zur Akademie kam, digitale handwerklich aufwendige Composings (digitale Bildcollagen, Anm. d. Interviewers) gefertigt und diese in einer kleinen Kunstgruppe besprochen. Durch mein Arbeiten am „V-Mann“-Projekt designte ich auch eigene Zines (Subkulturmagazine, Anm. d. Interviewers), und deren Cover waren auch collagiert, so führte ich beide Arbeitsweisen zusammen. Durch den weißen Hintergrund und die schwarz weiß Abbildung, reduziere ich die Figuren auf die Form. Durch das Zusammenspiel des recycelten Bildmaterials entwerfe ich neue Charaktere, welche aus ihrer alten Bedeutung herausgelöst werden. So werden aus Gentlemen, Priestern und Footballspielern des 20 Jahrhunderts neue Wesen. Das, was sie einmal waren, löst sich im Zusammenspiel der verschiedenen Bildelemente auf und gibt die Möglichkeit einer neuen Interpretation. So sozialisiere ich die analoge Welt, mit dem Wissen über die Popkultur des 21. Jahrhunderts, in der Videospiele, Filme und andere fantastische Welten aufeinandertreffen.
 
Weitere Informationen zum Künstler und ausführliche Darstellung der genannten Werkserien: Homepage (KLICK) und Instagram-Account (KLICK)
 




Twitter Facebook Google

#Dr. Marian Wild, #Im Gespräch mit, #Interview, #Kunst, #Locked in

Vielleicht auch interessant...

20240201_Mummpitz_160
20240201_Staatstheater
20240317_Tafelhalle
20240201_NMN_Weaver
20240324_AfF
20230703_lighttone
20240201_VAG_D-Ticket
20240201_Referat_Umwelt_Konferenz
20240201_Kaweco
20240201_Retterspitz
20240201_Theater_Erlangen