KEINE SANDBURG MEHR HINTER DEM BETTGEFLÜSTER

MONTAG, 1. APRIL 2019



Warum Samuel Becketts Erben dem Nürnberger Schauspielhaus “Glückliche Tage” verbieten und ein anreisender Starregisseur dort trotzdem sein Projekt gegen die schlechte Laune durchzieht.

Oh je, immer diese „jungen Wilden“! Wie sie sich am Theater ihre künstlerischen Frei- und Frechheiten herausnehmen, dabei die schützend ausgestreckte Werktreuhand der diensthabenden Gralshüter ausschlagen und dann verwundert sind, wenn sie von höherer Warte aus in die Schranken gewiesen werden. Könnte man so sagen, wenn man wegen drohender Kopfschmerzen unbedingt schnell mit dem Nachdenken aufhören will. Es wurde ja schon viel darüber geredet, wie unnachsichtig Erben in aller Welt die Texte ihrer genialischen, auch sonst in mancherlei Hinsicht entfernten Verwandten gegen übergriffige Fremdeinflüsse verteidigen und dabei schlimmstenfalls sogar auf Tantiemen-Anteile verzichten. Bei den Bestsellern des Tennessee Williams genügten schon Andeutungen von Vermutungen unterdrückter sexueller Präferenzen zum Entzug der Aufführungsrechte, Edward Albees Anwalt ließ mal eine Aufführung platzen, weil der Regisseur einen Monolog ortsversetzt vom Toilettensitz aus in der diesbezüglich korrekten Hocke rezitieren ließ und bei adaptierten Broadway-Musicals werden wohl sogar die zur Uraufführung verordneten Schrittfolgen bis in die Niederungen der deutschen Provinz penibel nachgezählt. Die Nachkommen des früh getrennten Erfolgsduos Brecht/Weill übertrafen sich, ebenso getrennt operierend von ihren Stammsitzen New York City und Berlin/Ost aus, in rigorosen Interpretationsverboten ihres jeweiligen Ahnen (der nach wenigen Vorstellungen beschlagnahmte Münchner Fünf-Stunden-„Baal“ von Frank Castorf war die bislang letzte und teuerste Blockade-Aktion, früher wurde gar dem Nobelpreisträger Dario Fo eine zu frei fabulierende „Dreigroschenoper“-Produktion verweigert) und nur Rolf Hochhuth ging seinen eigenen Weg. Weil er fürchten musste, dass ein frisch gedichteter Stücktext von ihm unbeachtet bleiben könnte, ließ er den praktizierenden Zertrümmerungs-Poeten Einar Schleef widerwillig ran – und protestierte schon vorsorglich rein theoretisch gegen dessen flächigen Textaustausch mit überlieferten Schiller-Zitaten. Dass auch, und jetzt kommen wir allmählich in Nürnberg an, der bis zum Lauschangriff am „Letzten Band“ spröde bleibende Samuel Beckett, den wir mit nie versiegender Rest-Ratlosigkeit ja sogar als Poet an der Mülltonne schätzen, eine Garde kämpferischer  Wächter am geistigen Erbe abgestellt hat, war weniger bekannt. Es kam zwar irgendwo schon zu folgenreichem Verlagszugriff bei einem Versuch mit Umbesetzungen (Frauen in Männerrollen, wo gibt`s denn sowas), doch den gern theologisch wattierten Klassiker „Warten auf Godot“ als Clowns-Spiel in der Zirkusarena, wie das einst hier am Schauspielhaus tollkühn gewagt & gewonnen wurde, duldete man. Oder, was noch wahrscheinlicher ist, es wurde beim weltweit schweifenden Kontrollblick schlichtweg übersehen.

AKTUELLES AUFTRITTSVERBOT FÜR DIE DAME OHNE UNTERLEIB
Jetzt aber trifft der Verbotsblitz zum Urheberrechtsdonner erstmals das Theater am Richard-Wagner-Platz. Ein im Mai hier debütierender Regisseur, der zwei zeitlich wie räumlich einigermaßen weit voneinander entfernte, geistig durchaus harmonierende Autoren zu beiderseitigem Mehrwert an einem Abend zusammenfassend inszenieren wollte, muss nach Einspruch der strengen Nachfahren von Samuel Beckett auf die geplante anteilige Neuproduktion von dessen wohlbekanntem Sandhäufchen-Solo „Glückliche Tage“ (zuletzt mit Jutta Richter-Haaser anno 1992 hier zu sehen) als Projektteil verzichten. Besagter Regisseur von 2019 wollte diesen Einakter der klassischen Moderne, in der eine im Sandkasten launig dahinplappernde Dame ohne Unterleib mit Sonnenschirmchen über dem strahlenden Gemütszustand immer weiter im Bodenlosen versinkt und dabei darauf besteht, dass ihr unaufhaltsamer Untergang „ein glücklicher Tag gewesen sein wird“, mit George Feydeaus ein halbes Jahrhundert älterem und weithin  unbekannten Miniatur-Drama „Herzliches Beileid“ kombinieren, wo das aggressive Bettgeflüster zum nächtlichen Schreikrampf mit hereinbrechender Todesanzeige eskaliert. Ein originelles Unternehmen von gewisser künstlerischer Logik, denn der mit Ritualen eines bürgerlichen Lebens spielende Beckett von 1960 war ein Verehrer des stets grotesk zuspitzenden Verhaltensforschers Feydeau von der Jahrtausendwende und holte sich aus dessen durchgeknallten Komödien-Texten unter anderem sogar die Inspiration für den ewig undurchschaubaren „Godot“. Es hätte also zusammenwachsen können, was womöglich sowieso zusammengehört.
Solche komplexen Gedanken blieben den Erben fremd, wenige Wochen vor Probenbeginn wurde von ihnen – künstlerisch unsinnig und juristisch unanfechtbar – das reizvolle Experiment der theatralischen Brüderschaft offiziell untersagt. Der betroffene, somit literarischer Wilderei verdächtigte Gastspielleiter (er hat sowohl mit Feydeau wie auch mit dessen Verehrer Beckett, nennen wir mal aus der Erinnerung „Floh im Ohr“ in München und „Endspiel“ bei den Salzburger Festspielen, nachweisbar gewaltfreie Erfahrung) reagierte gelassen – er wird sich bei seiner Nürnberger Debüt-Produktion im Mai nun mit aller Fantasie ganz auf den zähnebleckenden Spaßmacher Georges Feydeau und sein manchmal als Hörspiel, selten auf der Bühne umgesetztes, eigentlich grade mal 40 Minuten dauerndes Basis-Werk konzentrieren. Der misstrauisch beäugte „junge Wilde“ auf dem Regie-Stuhl heißt übrigens Dieter Dorn und ist 83 Jahre alt.

JUNGBRUNNEN FÜR DIE RIEGE DER Ü-80-REGISSEURE
Neben der zwangsläufigen Nürnberger Projekt-Reduzierung erregen mindestens zwei Dinge intern Aufsehen: Dass sich Welttheatermacher Dorn überhaupt auf diese allenfalls „mittlere Bühne“ der deutschsprachigen Szene einlässt und wie er als Teil einer derzeit besonders aktiven, offenbar das Theater als Kneippkur und Jungbrunnen zugleich nutzenden Riege von lebenden Ü-80-Theaterlegenden seine unschätzbare Erfahrung unbeirrt einbringt. Wie der 90jährige Schweizer Kollege Werner Düggelin (einst in Nürnberg Regisseur der Oper „Pique Dame“) kürzlich mit Büchners „Lenz“ in Zürich, der 85jährige Roberto Ciulli (über viele Jahre mit Produktionen seines „Theater an der Ruhr“ in Fürth und Erlangen gastierend) mit Shakespeares „Othello“ in  Mülheim, der 84jährige Harry Kupfer (dazumal für „Fidelio“ in Nürnberg) mit Händels „Poros“ an der Komischen Oper Berlin, der 82jährige Claus Peymann (in jüngsten Jahren beim Internationalen Studententheater-Festival in Erlangen) nach dem weit hinter der Pensionsgrenze realisierten Ausstieg am Berliner Ensemble grade mit Shakespeares „König Lear“ in Stuttgart und Ionescos „Die Stühle“ am Wiener  Akademietheater. Dazu der 93jährige Überflieger Peter Brook mit neuer Inszenierung für die Ruhrfestspiele 2019 im Mai und der gleichaltrige Hansjörg Utzerath (langjähriger Nürnberger Schauspieldirektor), der für Frühjahr in Berlin das Erscheinen seines ersten Romans ankündigt, welcher laut eigener Aussage „gewiss nicht politisch korrekt“ sein wird.

NÜRNBERGER DIREKTOREN WAREN SEINE MUSTERSCHÜLER
Und eben Dieter Dorn, der den späten Ruhestand ab dem 76. Lebensjahr mit erwähntem Salzburger „Endspiel“-Beckett, aber auch mit Wagners kolossalem „Ring des Nibelungen“ in Genf und Verdis „La traviata“ in Berlin schmückte. Dass er nach seinen Intendanz-Jahren in München an den Kammerspielen (1983 bis 2001) und am Staatsschauspiel (2001 bis 2011) sowie einer rund um den Globus leuchtenden Gastregie-Spur durch Gala-Festivals und Luxusopern-Spielpläne für den Abstecher in die weiter unten angesiedelte fränkische Bühnen-Liga zusagte, ist einem Doppelkontakt mit fein geschnörkelter Nostalgie-Rahmung zu danken. Nürnbergs neuer Intendant Jens-Daniel Herzog gehörte zu den glanzvollsten Zeiten der Münchner Kammerspiele, als das dortige Promi-Ensemble mit Dorns Klassik-Modellvarianten zu Shakespeare, Goethe sowie Uraufführungen von Botho Strauß, Tankred Dorst und Thomas Bernhard als ständiger Gegenpol von Peter Steins Berliner Schaubühne erschien (manchmal wegen aparter Design-Lastigkeit auch mit dem honigsüß vergifteten Kritiker-Kompliment vom „Boutiquentheater“, doch das hob Dorn am 80. Geburtstag mit dem  Bekenntnis „Theater ist auch immer Mode“ lässig aus der Verankerung), war Herzog sowas wie ein Vorzugs-Azubi. Jan Philipp Gloger, der Nürnberger Schauspieldirektor aus der Folge-Generation, wurde sodann beim nächsten Dorn-Haus, dem Residenztheater, der jüngste ständige Gastregisseur, der da schon als 25-Jähriger Philipp Löhle, seinen heutigen Nürnberger „Hausautor“, ins Spiel brachte, aber u.a. auch Shakespeare und Camus inszenierte.  Man darf Dieter Dorns Nürnberger Premiere als fälligen Gegenbesuch einstufen.

DER STOFF, AUS DEM ALBTRÄUME SIND
Pointen-Routinier Georges Feydeau nimmt nun also im Alleingang an der Hand des versierten Regisseurs die Wirren des bürgerlichen Beziehungslebens unter die Lupe – oder umgekehrt. Die Banalität des Alltags durchrüttelt in all seinen Texten die Behauptung von „Wohlanständigkeit“, die Absturzgefahr lauert da hinter jeder Klapptür. Im Einakter „Herzliches Beileid“ geht es zu nächtlicher Stunde knapp vor dem vieldeutig so genannten Morgengrauen um Kunst, Geld, erloschene Liebe, die strittige Ideal-Form eines angeheirateten Busens  und den Tod, der sogar als Botschafter der Schwiegermutter ungelegen kommt. Ein Buchhalter und Hobbymaler als Protagonist lebt den Dauer-Eklat seines Ehekriegs zu jeder Tageszeit aus. Lustvoll zerfetzt man sich in immer absurder werdenden Vorwürfen bis jede Vernunft zerbröselt, jede Logik aufgebraucht ist und das Bleigewicht absoluter Leere als ultimative Alltags-Bedrohung alles unter sich begräbt. Umso heftiger, da ja nun Winnies versenkbares Beckett-Glücksspiel, traditionell metaphorisch wie real auf Sand gebaut, zur rieselnden Stabilisierung nicht beitragen kann.

Eigentlich hätten die zwei gegeneinander reibenden Komödien, die beide weit jenseits des Repertoire-Mainstream ihrer Bedeutung im Kammerspiel sicher sind, die Illusion vom gnadenlosen Lächeln  pulverisieren oder aus Trümmern der Heiterkeit wieder errichten können. Feydeaus Zimmerschlachtfest am aufgewühlten Federbett und Becketts Sand fürs Knirschen im Glücks-Getriebe wären Stoff, aus dem man zeitlos Albträume macht. Dass Dieter Dorn, der über Jahrzehnte der „moderne Konservative“ auf dem nicht allzu dicht besetzten Gipfel des deutschen Theaters war, nach dem Veto der Beckett-Erben keineswegs schmollend aufgab, sondern milde trotzend mit vertrauensvoll fokussiertem Blick auf den Abgrundbuchmacher Feydeau seinen Weg für ihn auf großer Schauspielhaus-Bühne sucht, ist ein Zeichen dafür, dass er ein besonderes Ziel hat. Er scheint sich dessen sicher zu sein. „Herzliches Beileid“ gibt es ab 10. Mai im Schauspielhaus, bis dahin gilt erst mal der Gruß zum Mut: Herzlicher Glückwunsch!

 




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