Sprungbrett zum Erfolg oder Motor für die "Kulturstadt"

MONTAG, 4. MäRZ 2019

#Dieter Stoll, #Konzert, #Kritik, #Kultur, #Theater

Wie man am Theater auf überregionale Anerkennung, den nächsten Karriereschub und den Durchbruch eigener Stars zum Publikumsliebling hofft. In Salzburg, Oslo und Zürich werden Nürnberger Taten erwartet.

In den nächsten Wochen wird es einsam in der Chefetage des Staatstheaters – die Mehrheit der leitenden Spitzenangestellten, gefragte Größen im internationalen Kunstgewerbe, hat Urlaubsscheine eingereicht und entwickelt nun, jeder für sich mit anderem Ziel in unterschiedlichen Himmelsrichtungen, Leasing-Kunst im Fernverkehr. Blumiger ausgedrückt: Nürnberger Tand geht durch alle Land. Vor allem Oslo (Norwegen), Salzburg (Österreich) und Zürich (Schweiz) dürfen sich auf ausschwärmende fränkische Gastarbeiter der gehobenen Kategorie freuen. Die 32-jährige Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, am Opernpult vor Ort bislang eine gern, aber selten gesehene Erscheinung (nur Prokofjews „Krieg und Frieden“ hat sie seit Amtsantritt im September 2018 hier bisher dirigiert, der Wagner-„Lohengrin“ Ende Mai 2019 wird ihre zweite Saison-Tat neben den diversen Philharmoniker-Konzerten) ist in Oslo mit der Einstudierung von Richard Strauss´monströs gefühligem „Rosenkavalier“ befasst. „Ohne Oper könnte ich nicht sein“, ließ sie erst kürzlich per Interview wissen: „Ich bin im Theater zur Dirigentin geworden“. Möge sie bald viel davon auch in Nürnberg zeigen, ehe die Zündung der nächsten Karrierestufe ihr Talent früher oder später unausweichlich an andere Orte trägt.

DIE NÄCHSTEN „MEISTERSINGER“ KOMMEN ÜBER SALZBURG UND TOKYO
Rund 1.700 Kilometer entfernt vom derzeitigen Standort seiner Orchester-Chefin („Der kurze Moment vor dem Orchester war wirklich ein Bauchgefühl“, schilderte sie soeben der „Deutschen Bühne“ nochmal die Erstbegegnung mit den Philharmonikern, die entscheidend war für ihre eigentlich gar nicht geplante Unterschrift in Nürnberg) probt Staatsintendant Jens-Daniel Herzog (56) in den Kulissen seines auch ans Opernhaus mitgebrachten Stamm-Bühnenbildners Mathis Neidhardt im Großen Festspielhaus von Salzburg: Für Christian Thielemanns Oster-Festspiele und mit ihm als Dirigent die humoristisch wie nationalistisch verklemmten Wagner´schen „Meistersinger von Nürnberg“. 2020 wird die Produktion nach Tokyo exportiert, dann wohl auch, mit zwangsläufig verkleinerten Szenenbauten, zur Quelle aller Bemühungen nach Nürnberg – wo der sehr junge Thielemann, heute der opernweltweit gehypte Wagner-Spezialist Nr. 1, einst mit 28 Jahren zu seiner GMD-Bewerbung eben dieses ausufernde Werk mit dem vertrauten Ortsnamen im Titel und der Originalkulisse in Sichtweite vordirigierte. Demnächst könnte dann Nach-Nach-Nach-Nach-Nachfolgerin Joana Mallwitz (dazwischen gab es im klangvollsten „Generals“-Amt, das Nürnberg zu vergeben hat, bekanntlich so gegensätzliche Maestro-Repräsentanten wie den wilden Eberhard Kloke, den charmanten Philippe Auguin, den routinierten Christof Prick, den ehrgeizigen Marcus Bosch) zur tosenden Festwiese geleiten. Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger (38), der ja  längst vor seinem Spartenchef-Antritt anhaltend zweispartig unterwegs und gar schmerzensreich bei der Wagner-Familie in Bayreuth tätig war, inszeniert jetzt parallel am Opernhaus Zürich die flotte Rossini-Schmonzette „Il turco in Italia“, die so schön ins vergangene, fast schon vergessene Nürnberger Belcanto-Jahrzehnt der Ära-Miniatur Theiler gepasst hätte.

MIT „GENDER“-TANZ IM DREISPRUNG
Nur Ballettchef Goyo Montero, sonst ebenfalls ein gern gebuchter Spielleiter, bleibt für diesmal während der Reisezeit der Direktionskollegen zu Hause und holt das Ballett-Universum für eine weitere Choreographen-Trilogie an seine Seite: Jiri Kylián (Legende des Nederlands Dans Theaters) und Marco Goecke (bis 2018 feste Größe im Tanz-Mekka Stuttgart) sind die Ideenpartner für seine Premiere im April, die thematisch zum „Gender“-Dreisprung ansetzt. Kyliáns „Falling Angels“ arbeitet ausschließlich mit Tänzerinnen, Monteros Uraufführung hält mit exklusiv männlicher Besetzung dagegen, Goeckes „The Skin“ wird mit „vieldeutig oszillierend“, also schwankend zwischen den Gegenpolen, beschrieben. Man dürfte im April im Nürnberger Theaterleben also vorrangig über den Tanz und seine immer wieder überraschenden Möglichkeiten reden – passend platziert zwischen den Fürther Weltklasse-Gastspielen mit zehn Abenden der brasilianischen Grupo Corpo (27. bis 31. März) und der britischen National Dance Company Wales (21. bis 25. Mai).

WER ZU UNS KOMMT, DER KANN NICHT GANZ GROSSARTIG SEIN
Fürs Prestige daheim bringen die kompakten internationalen Engagements der drei Staatstheater-Führungskräfte den nie zu verachtenden Imagegewinn. Sofern sie nicht nur vom Finanzamt, sondern auch vom Publikum registriert werden. Denn die Skepsis gegenüber neu angekommenen Lichtgestalten (grimmige Grundhaltung: Wer zu uns kommt, der kann nicht ganz großartig sein, sonst wäre er woanders) gehört immer noch zum zelebrierten Erbgut fränkischer Selbstkasteiung. Diese ewig schwärende Wunde, eher eine landsmannschaftliche Prellung, lindern Pflaster-Etikette der Salzburger und Bayreuther Festspiele ebenso, wie Einladungen nach Zürich und München zumindest teilweise.
Bayerns Staatsoper hat inzwischen den Blick fester auf Joana Mallwitz gerichtet und sie nach einem Test mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ für Vorstellungen von Donizettis „Liebestrank“ bei den prestigeträchtigen Münchner Opernfestspielen 2019 im Juli engagiert. Mit welchen Folgen? Nürnberg sei halt „doch bloß ein Sprungbrett“, sagte mir neulich ein seit Jahrzehnten abonnierter Herr durchaus wohlwollend in der Premieren-Pause, „oder auch ein Trainingslager“ ergänzte die sachkundig am Sekt nippende Dame an seiner Seite – was nach heimischer Philosophie letztlich heißt, man solle sich wegen der stets drohenden Enttäuschung nicht zu früh freuen über weitere Entwicklungen, die sowieso nur kurze Strecken versprechen. Man kann die Skepsis rückwirkend überprüfen: Mallwitz beschränkte ihre erste GMD-Position in Erfurt auf vier Spielzeiten und wollte danach „ohne festes Haus arbeiten“, Herzog war nach sieben Jahren an den Münchner Kammerspielen sechs Jahre Schauspieldirektor in Mannheim und sieben Jahre Operndirektor in Dortmund. Gloger hatte vor Nürnberg noch keine Chefposition, inszenierte aber seit seinem Debüt 2007 knapp 50 Produktionen an rund 20 stattlichen Bühnen und kann bei Bedarf mühelos zurück auf den freien Regie-Markt, falls seine Nürnberger Profilierung nach fünf Jahren nicht automatisch zum Ruf ans nächstgrößere Haus führen sollte. Der von mehreren Generationen von Vorgängern übernommene Sehnsuchtsblick zur ersten Berufung des Schauspielhauses am Richard-Wagner-Platz fürs jährliche Berliner Theatertreffen, auch 2019 von der zuständigen Jury wieder unerwidert, bleibt ohnehin systemimmanent über jeden Führungswechsel hinweg. Der Ruf zum Nachspielpreis, der jetzt für die Zweitinszenierung von Alexander Eisenachs „Der Zorn der Wälder“ nach der Uraufführung zuvor in Bonn eintraf, ist ein kleiner Trost. In der Direktion Klaus Kusenberg hielt man sich auch schon mal an dieser Auszeichnung fest.

WENN MAN NACH „STARS“ VERLANGT, MEINT MAN „VERTRAUTE“
Bei den Zuschauern vor Ort, die das erste Spielplan-Angebot der Neuen grade mit statistisch erkennbar wachsendem Interesse annehmen, zählen andere Münzen. Statt der Spartenchefs und Regisseure, die für Kulturpolitik und Kritiker geradezu eigendynamisch in den Vordergrund rücken, bedeuten jenseits der Premierensonderfälle mit ihren freundlichen Claqueuren strapazierfähige Erfolge die bekannten Gesichter, die man euphemistisch auch gern mal „Stars“ nennt. Obwohl es eher „Vertraute“ sind, also Charakterköpfe, die jedermann so gut zu kennen glaubt, dass man sich von ihnen überraschen lassen möchte. Das sind hart erarbeitete Respektsbezeugungen, die es nicht für Höchstleistung in ein oder zwei Rollen, ein oder zwei Spielzeiten, sondern nur für lang- oder mindestens mittelfristige Entwicklungen, manchmal erst als nachträglich bedauernden Gruß gibt. Man muss also fern aller Logik erst Wurzeln geschlagen haben, um als schwebende Größe anerkannt zu sein. Momentan ist das schon deshalb schwierig, weil die radikale Ensemble-Erneuerung beim Intendantenwechsel nicht allzu viele vertraute Gesichter übrig gelassen hat. Im Schauspiel (wo mit Sascha Tuxhorn und Annette Büschelberger erkennbar neue Favoriten heranwachsen) schwingt mit Julia Bartolome, Michael Hochstrasser, Pius Maria Cüppers, Frank Damerius, Thomas Nunner und Adeline Schebesch noch relativ viel Kontinuität durch die Szene. Am Opernhaus (wo grade jede neue Besetzungsliste für interessierte Stammgäste zum Suchspiel wird) bleibt der frisch mit dem städtischen Kulturpreis geschmückte Bariton Jochen Kupfer nach Statur und Stimme die Nummer 1 beim Wiedererkennungseffekt. Er wird im Juni die Titelpartie in Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ übernehmen, was kurz nach der Uraufführung 1979 dieses bis heute immer noch bemerkenswert „neu“ wirkenden Stückes hier Barry Hanner (in Regie des jungen „Pocket Opera“-Gründers Peter Beat Wyrsch) spielte – ein über viele Jahrzehnte im Ensemble gebliebener Sänger und Gesangspädagoge übrigens, den Nürnberger Opernfreunde als „Barbier von Sevilla“ ebenso wie in den modernen Werken von Isang Yun und als Tony in der „Westside Story“ sahen.

WIRD DAS THEATER ZUM MOTOR DER „KULTURSTADT“?
Sobald Ende April der ferne Klang des Premierenjubels für „Rosenkavalier“ (Mallwitz, Oslo), „Meistersinger“ (Herzog, Salzburg) und „Türke in Italien“ (Gloger, Zürich) erloschen ist, treten die drei betroffenen Leitfiguren wieder gemeinsam in Nürnberg an. Dann wird der vorbereitete Spielplan für ihre zweite Saison festgeklopft und offiziell der staunenden Öffentlichkeit verkündet. Er ist, wenn er sich hoffentlich mutig aufs freie Feld der Inspiration wagt, noch wichtiger als es der erste mit seinen letztlich denn doch etwas zu vielen Rückversicherungen bei früheren Taten der handelnden Akteure in Oper und Schauspiel sein konnte. Und er wird gewiss darüber entscheiden, ob es in allen Häusern der Theaterfabrik wieder eine zuverlässig größere Anzahl von auftretenden Personen gibt, bei denen im Kopf des Zuschauers zum gedruckten Namen sofort ein Gesicht oder zum Gesicht die freudige Erinnerung an eine andere Rolle aufblitzt.
Mehr kann man von seinem Theater dann immer noch verlangen – weniger darf`s aber bitte nicht sein. Die bislang nur hinter vorgehaltener Hand erörterte Frage, ob Nürnberg im Erfolgsfall seiner Bewerbung für 2025 um den schon mehrfach verpassten Titel einer „Kulturhauptstadt Europas“ mit Jens-Daniel Herzog und seinem Team als Motor im Zentrum rechnen, ihn quasi als solchen installieren kann, steht auch bald auf der Tagesordnung. Und das mit dem Berliner Theatertreffen, das wird schon noch …

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FÜR CURT: ​DIETER STOLL,Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ. Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theater-Kritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
 




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