Nürnbergs erste Kultur-"Generalin"

SAMSTAG, 18. NOVEMBER 2017

#Dieter Stoll, #Klassik, #Kultur, #Opernhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Wie die spektakuläre Berufung der jungen Staatstheater-Chefdirigentin die radikale Trennung von bis zu 70 Ensemble-Mitgliedern überstrahlt – weil es natürlich viel bessere Stimmung macht.

EINE FRAU, DIE WEISS, WAS SIE WILL…

Umwälzung ist das Mindeste, was man heutzutage von einem Wechsel in der Theaterleitung erwarten darf. Aktuelle Beispiele dafür wuchern reichlich durch die Belustigungsanstalten der Republik. In Berlin haben die streitbaren Jünger des etwas hektisch aus dem Amt verwiesenen „Volksbühnen“-Heroen Frank Castorf ihren überqualifizierten Volkszorn immer noch nicht in überschaubare Bahnen jenseits der Hysterie gelenkt, in München umkreisen StarkritikerInnen und Abo-Stammgäste in seltener Hand-in-Hand-Eintracht mit ausgefahrenen Krallen den Kammerspiele-Reformer Matthias Lilienthal samt verinnerlichter Konventionsbruchstellen, als hätten sie sein und deren Ende längst beschlossen. Beschwörung, Polemik und Spott schwitzen da triefend aus allen Kommentaren, wenn die „gute alte“ gegen die erschreckend „neue“ Zeit ab- oder hochgerechnet wird. Andererseits: Lauthals verkündete Aufregung übers Theater in den deutschen Kulturmetropolen, das ist ja irgendwie auch ein Stück Zukunftsgarantie für Totgesagte. Aber wen juckt es eigentlich, wenn es in der gelegentlich noch in Aufwallung von Resthäme so genannten „Provinz“ bebt? Klar, jetzt reden wir von Nürnberg. Hier wird nicht gewütet, hier wartet man ab, bis alles festgeklopft ist.

WO EINE KÜNDIGUNG LIEBER „NICHTVERLÄNGERUNG“ GENANNT WIRD

Bekanntlich klettert im nahen Sommer 2018 der Staatsintendant Peter Theiler eine Sprosse auf der Karriereleiter hoch zur Semper-Oper nach Dresden, was schon Monate vorher, also jetzt, gewisse Domino-Effekte am Richard-Wagner-Platz unvermeidbar macht. Der berufene Nachfolger Jens-Daniel Herzog, ein renommierter Reise-Regisseur (siehe seine demnächst wiederkehrende „Tosca“ im Nürnberger Spielplan) und in den letzten Jahren anerkannter Krisenbewältiger am problematischen Dortmunder Opernhaus, möchte die beiden Häuser der Franken-Metropole zur freien Ausgestaltung seiner Visionen besenrein übernehmen. Das hat Folgen. Auch Schauspieldirektor Klaus Kusenberg räumt also nach 18 Spielzeiten den Posten (er geht nach Regensburg), Generalmusikdirektor Marcus Bosch zieht nach acht Jahren indigniert weiter (wird unter anderem Dirigier-Professor an der Münchner Musikhochschule und Leiter der Norddeutschen Philharmonie Rostock sein). Die mühenden Akteure der breiten Ebene, Ensembles von Sängern und Schauspielern samt Dramaturgen und Dirigenten, fieberten – sofern sie nicht wegen redlich ersessener jahrzehntelanger Anwesenheit zur Minderheit der „Unkündbaren“ gehören – den vorgeschriebenen Informationsgesprächen und in der Konsequenz fristgerechten Hinweisen für die eigene Zukunft entgegen. Ihre latent vorhandene Kahlschlag-Erwartung wurde nicht enttäuscht, die Kündigungen, die bei den bühnenüblichen Zeitverträgen allzu freundlich „Nichtverlängerung“ genannt werden, sind inzwischen rundum ausgesprochen. Man kann sie zweifelsohne „offensiv“ nennen.

NEUAUFSTELLUNG: BAROCK & BERLIN STATT BELCANTO & BROADWAY

Etwa 70 Mitglieder auf allen Ebenen des derzeitigen Staatstheaters Nürnberg, so die inoffizielle Berechnung von Insidern, werden nächste Saison hier nicht mehr auf ihrem Posten sein – und das ist durchaus auch im überregionalen Vergleich überdimensional. Der großflächig vergiftete Abschiedsgruß trifft fast alle, die nicht juristisch „niet- und nagelfest“ unantastbar waren. Eine selten so radikal durchgezogene, wenn auch tendenziell übliche Prozedur. Nur zur Erinnerung: Als Theiler vor zehn Jahren die Nachfolge von Wulf Konold antrat, mussten in der Oper selbst allseits anerkannte Größen wie Frances Pappas, Song-Hu Liu und Anne Lünenbürger für die neue Profilformel Belcanto & Broadway weichen. Mit dem Wechsel verbindet die entscheidungsbefugte Kulturpolitik immer das unterschwellige Tauschgeschäftsangebot einer Forderung neuer Akzente gegen annähernd rechtsfreien Zugriff beim subtilen Personal-Bashing. Schließlich gilt die ungeschriebene Regel, dass ein gestandener Theaterleiter am liebsten nur das Talent anerkennt, das er selbst entdeckte. Der kombinierte Gesamtchef und „Oper für alle“-Propagandist Jens-Daniel Herzog (54) und sein junger, als Kontrollfreak der eigenen Konzepte geltender Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger (36) reizen also ihre verbriefte Gestaltungsfreiheit aus. Dass die neuen Bosse mit ihren Schwerpunkten (Herzog mit angekündigten Akzentverschiebungen zugunsten von Barockoper und Revue-Operette der 1920er-Jahre wohl nach Modell Barrie Kosky in Berlin, Gloger mehr mit Avantgarde-Drang in Projekten und Autoren-Partnerschaften) das Haus zu ihrer Baustelle machen, versteht sich von selbst.

DAS WUNDERKIND BRAUCHT WEDER FRACK NOCH QUOTE

Um die inzwischen beschlossenen Verabschiedungen hat es in Nürnberg bislang sowieso nur verhaltene Erregung gegeben, allenfalls internes Grummeln. Die andere Nachricht, die lediglich eine einzige Person betraf, schöpft die Faszinationsbereitschaft der Beobachter offenbar voll aus. Die freilich reizvolle Berufung der aufstrebenden Dirigentin Joana Mallwitz, die schon mit fünf Jahren in Hildesheim systematisch Geige und Klavier lernte, als 14-jährige Frühstudentin in Hannover ein musikalisches Wunderkind war und mit 20 Jahren in Heidelberg einspringend die Premiere von Puccinis „Madama Butterfly“ dirigierte, in Erfurt/Thüringen 2014 als „jüngste Generalmusikdirektorin Europas“ antrat und nun mit 32 in Nürnberg die allererste Frau in der Chefposition am Pult sein wird, hat vorrangig die Träger von Männerphantasien-Stolz angespornt. Zu verdächtig reflexhaften Grundsatzerklärungen über den akuten, damit  aber auch erfüllten Nachholbedarf von Gleichberechtigung in der Kultur samt der unterschwelligen Beruhigungsbilanz, dass die diesbezügliche Kühnheit in Nürnberg nun ihren Sprungplatz knapp neben Eppelein von Gailingen gefunden habe. Nachdem kurz zuvor bundesweit die zeitweilig ermattete Quotenfrage fürs Kunstgewerbe mit Appell-Attacken auferweckt und in die Führungsebene hochgestemmt wurde, gilt der eher zufällig entstandene Mallwitz-Coup mit der Etablierung einer ersten lokalen Kultur-Generalin (auf ursprünglich favorisierte Herren nach Maestro-DIN konnte man sich zuvor in mehreren Sichtungsrunden bloß nicht einigen) etwas übertrieben als flammendes Nürnberger Signal. Muss man selbstverständlich nicht allzu ernst nehmen, denn wie ihr großes Vorbild Simone Young braucht die Erfurter Orchester-Chefin mit ihrer Kompetenzspannweite von Verdi über Wagner, Mozart und Debussy bis Lehár und Alban Berg, die nach eigener Angabe und mit naturbelassenem Selbstbewusstsein „noch nie einen Frack getragen hat“, keine Emanzipationsräuberleiter für den Aufstieg. Ihre dokumentierten Pulterfolge in Frankfurt, Zürich, Hamburg und Kopenhagen mit Folgeengagements in London und Birmingham entstanden jenseits gönnerhafter Überhangmandate, da ging und geht es einfach um den Nachweis von Qualität. Was natürlich bedeutet, dass sie ab Herbst 2018 auch vom Standort Nürnberg aus viel unterwegs sein und nach wenigen Jahren zur nächstgrößeren Station weiterziehen wird. Was man sich wünschen darf, sind tiefe Spuren, die sie bis dahin hoffentlich setzen wird.

FRAUEN-POWER IN NÜRNBERGS KULTUR? KOMM‘N SE REIN, HAM WER SCHON

Im Kulturbetrieb des Großraums Nürnberg muss GMD Mallwitz  immerhin den Schreckensstatus des Paradiesvogels nicht ernsthaft fürchten, hier sind seit langer Zeit energische Frauen an der Spitze vieler Institutionen zu finden und werden sie gewiss „integrieren“: Vom Neuen Museum und der Kunsthalle über das Gostner Hoftheater, das Burgtheater und das Erlanger Theater bis zur Sammlung von aktuell 25 Regisseurinnen für Premieren in allen Sparten der eben laufenden Saison, und vorne dran eine Kulturreferentin, die das Wort „Quote“ mühelos nieder lächelt. Frauenpower? Komm‘n se rein, ham wir schon! Und etwaige Vorbehalte gegen das frühreife Alter einer „Generalin“ schlagen sowieso ins Leere, denn Christian Thielemann war bei Dienstantritt für sein zwischen Höhen und Tiefen changierendes Karriereintermezzo als Nürnberger Philharmoniker-Chef noch drei Jahre jünger und im Alter seiner Nachfolgerin bereits wieder auf dem Absprung. Die anderen Generalmusikdirektoren der Stadt, deren Namen bis heute nachklingen, lagen jahrgangsmäßig bei Amtsantritt mehrheitlich gar nicht so weit weg: Hans Gierster kam mit 40 (und blieb sesshaft bis zur Rente mit 63), Philippe Auguin war erst 37 (und zog auf eigenen Wunsch mit 45 weiter), Eberhard Kloke war 40 (und musste mit 45 gehen), Marcus Bosch 41 (und bringt es auf acht Spielzeiten) und nur der ausdrücklich als sichere Größe in Krisenzeiten engagierte Christof Prick hatte schon drei GMD-Posten hinter sich, ehe er mit 60 für fünf Jahre nach Nürnberg kam.

DIE NEUGIER AUF VERHEISSUNGEN

Als „eine Frau, die weiß, was sie will“ (Operetten-Lyrik, nicht nach Ufa-Koketterie von Zarah Leander, eher schon in der resolut auftrumpfenden Haltung der singenden Franken-„Tatort“-Kommissarin Dagmar Manzel) kann Joana Mallwitz die seit 2008 mit dem niederschmetternden 5:0-Anteil so exklusiv gebliebene Herrenrunde an der Nürnberger Staatstheaterspitze (Intendant, Geschäftsführer, GMD, Schauspieldirektor, Ballettdirektor – Mannomann) gerne mit den klaren Zeichen, die sowieso zum Markenkern ihres Jobs vor dem hundertköpfig individuellen Musikerkollektiv gehören, entmystifizieren. Denn der aktuelle Gleichberechtigungsfortschritt der Kulturfabrik besteht letztlich ja vorerst nur darin, dass der bis zum Verdrängen der Ballett-Spartenleiterin Daniela Kurz durch Choreograph Goyo Montero schon mal bestehende 4:1-Zustand von vier Herren und einer Dame unter etwas geänderter Positionsverteilung wieder hergestellt ist. 20 Prozent Frauenquote – in revolutionärer Bewegung befinden wir uns am Staatstheater Nürnberg also eindeutig nicht.
Mit dem öffentlich wahrnehmbaren, also auf der Bühne Lücken hinterlassenden Teil derer, die den neuen „Machthabern“ nicht ins Konzept passen, werden sich die vorerst erstaunlich verständnisinnig reagierenden Fachjournalisten und die entsprechend ahnungslosen Abonnenten vermutlich im Juni 2018 befassen, sobald ihnen die Betroffenen bei den diversen Abschiedsshows von der Bühne aus letztmals zuwinken. Oder gar nicht. Dann überwiegt bereits die Neugier auf die Verheißungen des veröffentlichten Nachfolger-Spielplans. Und seien wir ehrlich: Es gibt, wie schon nach diversen erschöpfenden Laufzeiten früherer Intendanzen, viele Nürnberger, die ihr Theater nun mal wieder „anders“ haben wollen. Unbedingt! Ein bisschen! Vielleicht sogar so ähnlich, wie es das neue Team plant. Mal seh‘n. Dass früher alles besser war, kann man ja dann immer noch behaupten.

 




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