Dem Egers sei Welt #57: Fahrrad

SAMSTAG, 1. JULI 2017

#Comedy, #Egersdörfer, #Kabarett, #Kolumne

Mein erstes Fahrrad war blau. Ich fuhr damit auf den Steinplatten um das Haus. Ich klingelte mit der Fahrradklingel ohne besonderen Anlass. Die Steinplatten gingen nicht ganz um das Haus herum. Durch die Treppen zur Eingangstür wurde der Weg unterbrochen. Ich fuhr auf den Steinplatten bis zu der einen Seite der Treppe. Dann änderte ich die Fahrtrichtung und fuhr einmal um das Haus, bis ich an der anderen Seite ankam.

Dort angekommen, fuhr ich wieder in die Gegenrichtung. Wenn ich über eine Fuge zwischen zwei Platten fuhr, klingelte die Fahrradklingel ganz leise. Auf der Garagenwand begleitete mich, wenn die Sonne schien, mein Schatten und der Schatten meines Fahrrades ein kleines Stück. Ein Zweig von einem grünen Busch streichelte im Vorbeifahren sanft über meine Wange. Am hinteren Rad waren zwei kleine Stützräder befestigt. Wenn ich rechts um das Haus fuhr, rollte in den Kurven um die vier Hausecken das rechte Stützrad auf den Steinplatten. Wenn ich links um das Haus fuhr, setzte das linke Stützrad auf dem Steinplattenweg in den Kurven auf. Die Stützräder schepperten wie Erinnerungen. Manchmal, auf gerader Strecke, standen beide Stützräder in der Luft. Dann fuhr ich fast lautlos über den Steinplattenweg und ich glaubte, ich würde schweben. Der Traum wurde nur kurz unterbrochen, wenn ich über eine Fuge fuhr und die Klingel kurz und sachte anklang. Beinahe erschrak ich, wenn ich ein längeres Stück ganz ohne die Hilfe der Stützräder gefahren war. Dann neigte ich mich zu einer Seite und das Scheppern des Hilfsrades vertrieb schnell meinen Schauder.

Der Sommer war ein Ozean. Weit hinten am Horizont der Zeit konnte man sehen, dass sich die Erde leicht krümmte. Das Gras war hochgewachsen. Bienen flogen zwischen den Blumenkelchen. In der Buchenhecke hatten Vögel ein Nest gebaut. Die Sonne war ein grünes Ei. Die Großmutter legte sich ein ausgeblichenes Kissen auf die Steinplatten, kniete sich darauf und zupfte lautlos und sanft das Unkraut aus dem Steingarten in einen Eimer. Am Morgen eines warmen Sonnentages schraubte der Vater die Stützräder von meinem Fahrrad ab. „Heute lernst du Fahrrad fahren“, sagte der Vater und lachte dabei. Ich bekam ein wenig Angst. „Du musst dich nicht fürchten“, sagte der Vater. „Ich halte dich ja. Es kann nichts passieren.“ Ich fuhr im hohen Gras und mein Vater lief hinter mir her, wobei er das Fahrrad festhielt, damit ich nicht umfiel. Immer wieder drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, dass der Vater mich hinten auch fest hielt. Dann fuhr ich ein längeres Stück. Plötzlich lachte der Vater laut. Ich blieb stehen und drehte mich um. Der Vater stand am hinteren Ende der Wiese. „Jetzt kannst du Fahrrad fahren.“, rief er. Ich glaubte es nicht. „Du bist jetzt ein ganzes Stück allein gefahren. Ohne Stützräder und ohne, dass ich dich gehalten habe.“ Ich konnte es nicht glauben. Vielleicht stimmte es, was er sagte. Aber vielleicht ist es auch ein unabsichtliches Versehen gewesen. „Du kannst Fahrrad fahren. Glaube mir, du kannst Fahrrad fahren.“, sagte er und lachte und schwenkte seine Arme in der Luft. Ich drehte mein Fahrrad um und fuhr los. Ich fiel nicht zur Seite und fuhr in der Wiese in die Richtung, wo mein Vater stand.

Ich radelte zum Tor aus unserem Garten hinaus. Die Mutter hatte mir befohlen, nur auf dem Gehsteig zu fahren. Und wenn ich über die Straße führe, solle ich schauen, ob rechts oder links kein Auto käme. „Schau lieber einmal zu viel, ob was kommt!“, ermahnte mich die Mutter. Wenn ich links unsere Straße hinunterfuhr, kam gleich rechts eine Straße, die hundert Meter weiter als Sackgasse endete. Dort durfte ich fahren. Ich legte mich mächtig in die Kurven und genoss es wie einen Eisbecher mit Sahne, dass keine Stützräder mehr auf dem Asphalt aufsetzen konnten. Manchmal vor dem Abendessen fragte ich, ob ich noch ein bisschen Fahrrad fahren dürfe. „Zehn Minuten darfst du fahren. Aber dann kommst du wieder.“, sagte die Mutter. Manchmal rollten die Räder so schön und der Wind pfiff ganz leicht und so angenehm an den Schläfen, dass ich die Zeit vollkommen vergaß. Dann öffnete die Mutter mit einem Rumpeln das Wohnzimmerfenster im ersten Stock und brüllte aus Leibeskräften: „Matthias, Matthias. Komm jetzt. Das Abendessen ist fertig.“

An manchen Samstagen machte ich mit meinem Vater eine Radtour. „Wir brauchen ein Flickzeug, eine Luftpumpe und ein Werkzeug. Es ist kein Flickzeug da. Und wo ist denn das Werkzeug? Hast du das Werkzeug wieder genommen und irgendwohin getan? Jedes Ding, sei’s noch so gering, immer hat’s eignen Platz. Da ist ja nichts vorbereitet. Wir können nicht losfahren.“, schimpfte der Vater. Aber dann sind wir doch immer losgefahren. Große, silberne Federn hatte der Vater unter seinem Ledersitz. Wenn er sich mit Schwung draufsetzte, quietschten die laut. „Du musst deinen Hut aufsetzen bei der Sonne.“, mahnte die Mutter und stülpte mir die Stoffhaube auf die braunen Haare. Dann fuhren wir aus der Stadt in den Wald. Die kleinen Steinchen knirschten unter den Reifen. Die großen Bäume zogen an uns vorbei wie in einem Film. Bei meinem nächsten Fahrrad war auf dem Lenker ein Tacho angebracht. Einmal sind wir einen langen Berg hinunter gefahren. Unsere Haare haben geflattert im Wind. Eine Fliege knallte mir auf die Stirn. Fast schloss ich meine Augen. Der Tacho zeigte 70 Stundenkilometer an. Am Montag in der Schule erzählte ich meinen Freunden, dass ich am Wochenende 70 Stundenkilometer auf dem Fahrrad gefahren sei. Ich glaube, sie waren beeindruckt, konnten es aber nicht zugeben.

Im Sommer hat der Vater öfter gesagt: „Ich möchte jetzt noch einmal kurz durchschwimmen.“ Dann hat er sich auf sein Fahrrad gesetzt und ist ins Freibad geradelt. Etwas später ist dann meine Mutter mit mir im Auto auch ins Bad gefahren. Die Frau, die in dem kleinen Häuschen am Eingang die Eintrittskarten verkaufte, saß da wie eine Königin. Das Wasser war frisch und alle hatten gute Laune. Der Bademeister kannte uns und sagte irgendetwas Lustiges, was nur ein Bademeister so sagen kann. Er war von der Sonne so braun wie Vollmilchschokolade und das kam in seiner strahlend weißen Hose und dem weißen Hemd besonders gut zur Geltung. Der Bademeister sprach durch den Lautsprecher, dass in 15 Minuten das Freibad schließen würde. Vater spritzte vor dem Hinausgehen seine Füße unter einer kleinen, auf Kniehöhe angebrachten Dusche ab, aus der eine weiße Flüssigkeit gegen Fußpilz herauskam. Durch eine große Drehtür verließen wir das Schwimmbad. Wenn man nicht Acht gab und seine Tasche nicht nah am Bauch hielt, konnte man sich zwischen den metallenen Eisenarmen leicht verhaken. Der Vater setzte sich quietschend auf sein Rad und fuhr den Berg hinter dem Schwimmbad hinunter. Die Mutter und ich fuhren ihm im Auto hinterher. Dann ging es den Berg hinauf und mein Vater rief: „Zieh mich!“ Ich öffnete das Fenster und mein Vater hielt sich mit der linken Hand fest. Die Mutter schimpfte, dass das nicht erlaubt sei. Der Vater rief, dass sie schneller fahren solle. Ich berührte den Vater ganz sanft an seiner haarigen Hand. Er ließ nicht los, bis wir daheim angekommen sind. Wir sind sehr glücklich gewesen, ohne es zu wissen.





UND WAS MACHT EGERS SONST NOCH IM SOMMER?
Pause! Beruhigen, runterkommen, Luft holen. Kein Bühnenprogramm, kein „Egersdörfer und Artverwandte“. In sich ruhend erarbeitet der Humorist dann sein neues Bühnenprogramm:
„Ein Ding der Unmöglichkeit!“ Egers schafft‘s trotzdem bis Oktober zur Preview und Premiere. Genaueres unter www.egers.de.




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Was für ein nicht enden wollender Sommer das heuer gewesen ist. Bis in den Oktober hinein wurde ich immer dringlicher gemahnt: Genieße unbedingt den sonnigen Tag heute! Morgen kommt der Herbst, dann ist alles vorbei. Immer wieder habe ich mich in die Sonne gesetzt und habe die Sonne mit aller Kraft genossen bis zur Langeweile, bis zum vollständigen Überdruss. Das kommt daher, dass ich Befehle stets gewissenhaft und verlässlich ausführe. Da kann man sich einhundertprozentig auf mich verlassen. Meine Zuflüsterer taten immer so, als ob das Himmelgestirn im nächsten Moment unwiderbringlich explodieren würde und man sein Leben fürderhin in lammfellgefütterten Rollkragenpullovern, Thermohosen und grob gestrickten Fäustlingen verbringen müsste – in Zimmern, in denen die Heizung unentwegt auf drei gestellt ist. Aber es hat ja nicht aufgehört zu scheinen. Wenn ich an einem Tag genossen und genossen habe, hat der Leuchtkörper sein blödsinniges Leuchten am nächsten Tag keineswegs eingestellt. Die Dummköpfe aber haben es nicht unterlassen, weiterhin ihre Sonnengenussbefehle auf mich auszuschütten. Die Aufforderungen blieben keineswegs aus, sondern steigerten sich zur Unerträglichkeit. Wenn einer endlich einmal sein dummes Maul gehalten hat, dass ich mich unbedingt bestrahlen lassen muss, hat ein anderer damit angefangen, mich aufdringlich aufzufordern, mein Glück unter dem drögen Kauern unter dem aufdringlichen Glanz des leuchtenden Planeten zu finden. Noch Anfang November saß ich voller Wut auf der Straße und habe Kaffee getrunken und gehofft, dass mir die Sonne ein Loch in die Stirn schmort, dass den Schwachköpfen ihr blödsinniges Gerede leidtut und sie mich um Verzeihung bitten müssen. Die Sonne hat immer weitergeschienen wie ein Maschinengewehr, dem die Patronen nicht ausgehen.  >>
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