Popcorn am Zuckerberg - UA "Life Is Loading"

13. APRIL 2017 - 23. MAI 2017, BLUE BOX (SCHAUSPIELHAUS)

#Dieter Stoll, #Julia Prechsl, #Kolumne, #Kritik, #Schauspielhaus, #Theater

Die Schöpfung braucht keine Worte: Vier Personen taumeln live als Slowmotion-Rohmaterial herein, mutieren zu Affenahnen und richten sich auf zur Evolution der Kurzbotschaften. Gleich in der zweiten Szene die ultimative Apokalypse: Die 17-jährige Matylda, frisch gedemütigt von der diensthabenden Cybermobbing-Bande und auch selber nicht verlegen um Segensgrüße in Netzwerk-Dynamik („Mögen eure Partner nie zum Orgasmus kommen“), hat einen revolutionären Schub – sie will ihren Facebook-Account löschen.

Echt wahr! Man hatte sie, schlafend mit offenem Mund und aufgemaltem „Fuck me“ fotografiert, in den digitalen Pranger-Kreislauf geschossen und so die User massenhaft zum kreativen Pöbel-Posting gelockt. „Das ist der Anfang von eurem Ende“, schlägt sie zurück und holt mit dem Zeigefinger zum Todesstoß, dem finalen Klick aus. Aber so einfach ist die virtuelle Welt nicht, da läuft statt leisem Servus ein Erinnerungsvideo vom „voll krass“ gespeicherten Leben, die fleischgewordene „Freundesliste“ rebelliert gegen Untreue am Schirm und im abgedunkelten Bild erscheint in Fleecejacke der Mark („Ich bin nur ein ganz normaler Junge“) Zuckerberg. Dieser unauslöschliche Wunderknabe im Dienst der Firma Klick & Glück gibt schwer zu denken. Er plobbt ins Krisengebiet und jammert scheinheilig an die Beinahe-Deserteurin hin: „Hilf mir, eine bessere Welt zu schaffen“. Die beiden Autoren und wir anderen „The Circle“-Leser wissen Bescheid.

Die Sieger des seit 2015 in Nürnberg stationierten, nach Osteuropa blickenden und im Vorjahr ganz auf Polen fokussierten Dramatiker-Wettbewerbs „Talking about Borders“ haben tatsächlich über Grenzen nachgedacht. Weniger über nationale oder die des guten Geschmacks, dafür mächtig ergrimmt über die durchlässigen im World Wide Web. Sie finden sie grenzwertig. Mariusz Wiecek und Jerzy Wójcicki, seit Jugendjahren in Danzig als Autorenpaar aktiv, in den Solokarrieren eher auf die Spannung zwischen Lyrik und Kabarett fixiert, bauten ihre Szenen-Collage gegen den virtuellen Super-GAU wie ein Mahnmal aus Geschenkpapier.

Die „verstörende Odyssee durch die Untiefen des Internet“ (Ankündigungstext) ist eher Empörungs-Shopping auf der Sozialmedienmeile, dokumentarsatirische Schnäppchen mit kleinen Poesie-Häubchen geschmückt. Flashmobber marschieren wie die Prinzengarde guter Nachbarschaft auf, aber hinter solchem Glanz schleichen anders komische Nachtgestalten, militante „Like-Bettler“ und „Likeoholics“ mit Trend zur Rundschlagaggression. Man erfährt alles von allen, die Suchmaschine öffnet ihr Archiv. Auf Verklemmungen der Chat-Erotik folgt die giftspritzende Flutwelle aus der Kommentarspalte. Und dann der Auftritt von Übervater „Big Daddy“, feist und froh mit seinem von Philosophie plus Kalorien gefütterten Lebenskünstlerübergewicht, der Spender der heiligen Schokokommunion: „Unseren täglichen Brownie gib uns heute“, skandiert der Chor so antik und katholisch wie möglich. Und während sich alle Akteure, zu Ballonmännchen aufgeblasen, gegenseitig durchs Konsumtrauma drängeln, verweigert uns die Regie das an dieser Stelle vorgesehene Märchen vom hungrigen Mädchen, mit dem am Ende die Moral hochfahren sollte. Hat es doch nach Ratschluss der Autoren beim Mampfen im klopsigen Burger-Berg das Geheimnis des Glücks entdeckt, den Hohlraum. Gestrichen, das war zu viel der abstrakten Satire für so konkret gewordene Späßchen.

Die junge Julia Prechsl, eine Begabung zweifellos, machte sich offenbar keine Illusionen über die Originalität des Textes und speist ihn in die Umwälzanlage von Möglichkeiten. Ihre kontrolliert  flippige Inszenierung greift hinein in die Sketch-Wundertüte. Sie setzt das Publikum vor eine Projektionswand, wo sich virtuelle und reale Welten raffiniert überlagern, lässt die entschlossen amüsierten Zuschauer Fähnchen schwingen und die Schauspieler (alle bestens auf Comedy-Muskelspiele trainiert: Josephine Köhler, Bettina Langehein, Janco Lamprecht, Daniel Scholz)  auch mal unmotiviert in Bärenkostümen oder mit Insektenflügeln durch die Rollenwechsel rasen, ehe sie sich als Ballon-Ungetüme verabschieden. Statt der anbetungswürdigen Schokolade für alle Gläubigen, die da im Gespräch war,  gibt es zuvor übrigens bloß einen Eimer voll Popcorn. Auch da hat die Regisseurin das Stück ganz richtig eingeschätzt.


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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Kritiken-Portal nachtkritik.de (Berlin)
www.nachtkritik.de
 
“Life is Loading”
Uraufführung
von Mariusz Wiecek und Jerzy Wójcicki in der Übersetzung von Andreas Voltz
Regie: Julia Prechsl
Bühne: Julia Véronique Wiesen
Kostüme: Birgit Leitzinger
Dramaturgie: Jascha Fendel
Darsteller: Josephine Köhler, Bettina Langehein, Janco Lamprecht, Daniel Scholz.


Weitere Vorstellungen:
19. April 2017 – 20.15 Uhr
22. April 2017 – 20.15 Uhr
30. April 2017 – 20.00 Uhr
04. Mai 2017 – 20.15 Uhr
23. Mai 2017 – 20.15 Uhr
Weitere Termine in Planung

STAATSTHEATER
Richard-Wagner-Platz 2
90443 Nürnberg

Mehr Infos zur Location »




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