Andreas Radlmaier im Gespräch mit: Hüseyin und Eray Dalga

MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016

#Andreas Radlmaier, #Im Gespräch mit, #Interview, #Kolumne

Ende des Jahres, wenn die Welt und Nürnberg auf Weihnachtsfrieden hoffen, hat der Unternehmer Hüseyin Dalga – statistisch gesehen – Hochkonjunktur. Die Erwartungshaltungen einer gespaltenen Gesellschaft führen in besonderem Maße zu blutigen und auch tödlichen Kurzschlusshandlungen. Dann müssen Dalga (45) und seine Spezialkräfte ran. Er ist Tatortreiniger und deutschlandweit Pionier auf diesem Sektor.

Die Zentrale sitzt in Nürnberg-Gostenhof und strahlt in ihrer blitzsauberen Unscheinbarkeit das Gegenteil des unappetitlichen Alltags aus. „EASY Dienstleistungen“ heißt die Firma obendrein, was man auch als Ergänzung zur philosophischen Grundhaltung der Chefs sehen könnte. Den willenlosen „Schachfiguren“ zwischen Macht und Gier raten Hüseyin und sein Sohn Eray (23) zu Gelassenheit: „Das ist das Wichtigste. Ein Mensch muss glauben, an die Sache und an sich selbst.“

A.R.: Herr Dalga, die Weihnachtszeit blinkt gerade wieder romantisch, mit Hoffnung auf Familienfeiern und Frieden auf Erden. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in diese Jahreszeit?

HÜSEYIN DALGA: Mit eben solchen. Ich bin da im Wortsinne alteingesessen und habe auch Respekt vor diesem Glauben, vor dieser Religion. Diesen Wunsch nach Ruhe und Frieden muss ich natürlich einschränken: Wenn es unser Beruf erlaubt und wir keine Noteinsätze bekommen.

A.R.: Ihre Firma hat erfahrungsgemäß an Weihnachten Hochkonjunktur. Ist das Fest der Liebe inzwischen ein Fest der Hiebe?

HÜSEYIN DALGA: Nein, die Gewohnheit ist der Schlüssel.

A.R.: Oder die Entwöhnung?

HÜSEYIN DALGA: Nein, man wünscht sich immer noch die Familienzusammenführung, den Zusammenhalt. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, aber er muss mit der Zeit gehen. Diese Änderungen werden von Gier und Erfolg vorangetrieben. Eigenschaften, die zur Entfremdung von Gesellschaft führen.

A.R.: Haben Sie in den 20 Jahren, in denen es Ihre Firma gibt, solche Veränderungen in der Gesellschaft registriert?

HÜSEYIN DALGA: Extrem. Wir haben jedes Jahr Steigerungen. Vor 20 Jahren war die Auftragslage wesentlich geringer als momentan, wo immer auch Sofortmaßnahmen eingeleitet werden müssen.

A.R.: Und Sie führen das zurück auf …

HÜSEYIN DALGA: … eine gespaltene Gesellschaft ...

A.R.: … sich auflösende Familienstrukturen …

HÜSEYIN DALGA: … ja, weniger Zusammenhalt, mit Sicherheit.

A.R.: Erschüttert Sie das?

HÜSEYIN DALGA: Nein.

A.R.: Ist das ein westliches Phänomen, hier gekoppelt an Weihnachten und Sehnsüchte nach einem Idyll?

HÜSEYIN DALGA: Nein, es betrifft alle Kulturen, Religionen und Gesellschaften. Es geht nicht allein um das Fest der Liebe. Diese Entwicklung kann man jederzeit ablesen.

A.R.: Belegt Ihre Firmenstatistik eine zunehmende Brutalität unserer Nachbarschaft?

HÜSEYIN DALGA: Es belegt in der Tat, dass sich die Menschen – nicht nur in Nürnberg und der Region – hin zum Brutalen verändern.

A.R.: Sie sind es also gewohnt, tagtäglich in menschliche Abgründe zu schauen?

HÜSEYIN DALGA: Ja, wir sind abgehärtet, ausgehärtet.

A.R.: Was hat denn der Beruf mit Ihnen gemacht?

HÜSEYIN DALGA: Er hat mir aufgezeigt, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. Dass man sich und seine Familie in dieser Zeit – nicht unbedingt schützen, aber – pflegen müsste. Den Härtegrad kann man an der Distanz ablesen: Wenn ich in jeden Fall emotional reingehen würde, hätte ich irgendwann einen Burnout. Wir, alle Mitarbeiter, sind ja auch alle sechs Monate in seelischer Betreuung bei einem Psychiater der Berufsgenossenschaft. Er prüft, wie sich die Situation darstellt.

A.R.: Wenn man von außen auf dieses Berufsbild schaut, denkt man an beißenden Leichengeruch, zerfetzte Körper, blutige Gewalt. Es gibt lebensbejahendere Jobs, oder?

HÜSEYIN DALGA: Es gibt einfach Berufe, die mit dem Ende zu tun haben: Ärzte in Intensivstationen, Leichenbestatter, Polizisten, Militärs.

A.R.: Und Sie nehmen niemals Ihre Erlebnisse mit ins Privatleben?

HÜSEYIN DALGA: Überhaupt nicht.

A.R.: Wie schafft man das?

ERAY DALGA: Man schaltet den Kopf nach der Arbeit diesbezüglich ab und in der Arbeit wieder an.

A.R.: Das geht?

ERAY DALGA: Das muss gehen. Sonst wäre es für die Familie nicht erträglich.

A.R.: Sie haben sich also eine Schutzhaut zugelegt?

HÜSEYIN DALGA: Vor Jahren hatte ich ein Burnout-Syndrom. Und diese Erfahrung hat mir klar gemacht, da muss etwas geschehen. Das führte letztendlich zur Idee: Wie schütze ich mich selber, meine Kollegen und meine Familie? Man muss aus- und einschalten können. Man braucht sein Hobby. Ich etwa habe meine Hunde. Andere gehen joggen.

A.R.: Sie haben den Tatortreiniger ja zum Ausbildungsberuf gemacht und damit auch regelmäßig Azubis am Start. Wie verkraften 16- oder 18-Jährige das?

HÜSEYIN DALGA: Fragen Sie doch meinen Sohn.

ERAY DALGA: Ganz unterschiedlich. Der eine findet es spannend, den anderen ekelt es. Wir beginnen auch nicht mit den härteren Fällen, sondern man versucht sich allmählich zu steigern. Wenn es zu viel wird, bremsen wir ab.

A.R.: Dann spricht man das Erlebte an, und alles ist gut?

HÜSEYIN DALGA: Nein, bei diesem Beruf braucht man immer den Ausgleich, Urlaub, viel Freizeit, Flexibilität beim Einsatz in verschiedenen Härtegraden. Wir machen ja nicht nur Tatortreinigiung, sondern alle Berufszweige, in denen man „normal“ arbeitet. Etwa Gebäudedienste und Sanierungen.

ERAY DALGA: Grundsätzlich könnte man ja auch sagen, dass es zunächst egal ist, ob man verschmutzte Toiletten reinigt oder die Wohnung eines Messi.

A.R.: Hat dieser Beruf Ihre Beziehung zu den Menschen verändert?

HÜSEYIN DALGA: Im Gegenteil. Der Beruf hat mich noch lebensfroher gemacht: Ich bin froh, dass ich lebe.

A.R.: Und was hat diese Firma mit Ihrer Familie gemacht?

HÜSEYIN DALGA: Stärker. Emotionaler.

A.R.: Stumpft man auch ab?

ERAY DALGA: Inwiefern?

A.R.: Dass einen nach einer gewissen Zeit nichts mehr berührt?

ERAY DALGA: Mein Vater hat einen Stufenplan für die Azubis angelegt. Man beginnt nicht sofort im Amoklauf-Bereich.

HÜSEYIN DALGA: Ich kann einen Grünschnabel nicht zu einem Zugunglück schicken oder in einen Leichenfund-Haus, wo es nach Verwesung stinkt. Das schreckt sonst von Anfang an ab. Vielleicht eine lebende Person, die sich aufgeschnitten und etwas Blut verloren hat. Damit man begreift, was eine Körperflüssigkeit ist, was Struktur ist, was Hirnmasse ist. Ich kann aber mit einem Azubi im zweiten Jahr nicht zu einem Amoklauf nach Baden-Württemberg.

A.R.: Sie meinen Winnenden?

HÜSEYIN DALGA: Zum Beispiel.

A.R.: Sie sind bei einer Fortbildung in den USA auf Ihr heutiges Spezialgebiet gestoßen. Würden Sie heute lieber wieder nur Fußböden und Fenster reinigen?

HÜSEYIN DALGA: Das machen wir ja auch, zum Wohle der Kunden. Ich habe dieses Berufsbild einfach aktualisiert. Seitdem es den Tod gibt, gibt es auch den Tatortreiniger. Ich habe den Beruf nur verfeinert, nicht neu erfunden.

A.R.: Wer hat denn sauber gemacht, bevor es den offiziellen Tatortreiniger gab?

HÜSEYIN DALGA: Verwandte. Oder auch Personen, die den Verstorbenen emotional nicht nahe standen. Bei meinem ersten Einsatz vor 20 Jahren war ich auch mit Handschuhen, Maske und Nasensalbe unterwegs und habe mich gefragt: Gehe ich da überhaupt richtig vor?

A.R.: Sie sprechen Nasensalbe an. Die Nase wird schon arg in Mitleidenschaft gezogen bei Ihren Einsätzen, oder?

HÜSEYIN DALGA: Ja. Jeder Mensch reagiert anders auf Gerüche. Einer mehr auf den Erdbeerbereich, der andere mehr auf Verwesung. Ich habe immer Eukalyptus als Gegenmittel verwendet.

A.R.: Und das hilft?

HÜSEYIN DALGA: Ja. Andererseits: Die Geruchserkennung läuft im Gehirn ab. Es registriert, ob eine Erdbeere eigentlich ein Apfel ist. Oder Abgase nach Abgasen riechen.

A.R.: Das kann man also trainieren, also das Gehirn beim Ekel überlisten?

HÜSEYIN DALGA: Man kann sich den Geruch abtrainieren. Wie den Geschmack auch.

A.R.: Sie kommen in der Regel dann, wenn Polizei und Spurensicherung weg sind, oder?

ERAY DALGA: Jein. Manchmal ist es auch mitten in den Ermittlungen, wenn der Verwesungsgeruch zu stark ist.

A.R.: Sie haben mit der Polizei also schon auch zu tun?

ERAY DALGA: Wir arbeiten Hand in Hand.

HÜSEYIN DALGA: Die Polizeifahrzeuge zum Beispiel werden auch von uns gereinigt. Wenn Menschen der Polizei am Wochenende ins Auto gekotzt oder sich verletzt haben.

A.R.: Was ist für Sie der typische Tatort?

HÜSEYIN DALGA: Jeder Tatort erzählt seine eigene Geschichte. Jeder Tatort ist sehr interessant.

A.R.: Sie sind bundesweit im Einsatz?

ERAY DALGA: Ja.

HÜSEYIN DALGA: Wenn mein Auto nicht mindestens 100.000 km mehr im Jahr auf dem Zähler hat, ist das nicht normal.

A.R.: Wie oft waren Sie 2016 in Nürnberg im Einsatz?

ERAY DALGA: 70 bis 100 mal. Die Tendenz von 2013 auf 2016 ist steigend. Da sind wir wieder bei den Auswirkungen des Kapitalismus auf die Einstellung der Menschen.

A.R.: Welche prominenten Opfer haben Sie denn versorgt?

ERAY DALGA: Das darf ich nicht sagen. Datenschutz.

HÜSEYIN DALGA: Ich mache auch keinen Unterschied zwischen einem Prominenten und einer „normalen“ Person. Für mich
sind Mensch und Tatort immer gleich. Die Hintergründe sind verschieden.

A.R.: Was war denn Ihr bislang härtester Einsatz?

HÜSEYIN DALGA: Der Suizid einer bekannten Persönlichkeit aus dem Sport, die fünf Kilometer von der Bahn mitgeschleift worden war. Ein Einsatz, spätabends im Norden der Republik, in der Kälte. Das war eine harte Sache.

A.R.: Wer ruft Sie überhaupt auf den Plan? Die Staatsanwaltschaft?

HÜSEYIN DALGA: Auch. Die Kommune. Die Polizei. Bestatter, Hausverwalter, Familienmitglieder.

A.R.: Ihr Beruf ist seit 2011 auch Gegenstand einer Comedy-Serie. „Der Tatortreiniger“ geht im Dezember in die sechste Staffel. Ist das Gezeigte aus der Luft gegriffen?

HÜSEYIN DALGA: Großteils ja. Ich habe den Hauptdarsteller Bjärne Madel beraten, sprich: wir haben von unseren Einsätzen erzählt. Aber im „Tatortreiniger“ wird unterdrückt, dass Lebensdruck in der Gesellschaft vorhanden ist. Ich sehe auch nicht ein, dass man Wahrheiten verschweigt.

A.R.: Vielleicht ist sie nicht spannend genug?

HÜSEYIN DALGA: Im Gegenteil, sie ist erschreckend. Aber man muss der Gesellschaft ja Storys verkaufen, also wird entsprechend umformatiert.

A.R.: Darf man mit dem Tod seine Späße treiben?

HÜSEYIN DALGA: Bei uns wird kein Spaß getrieben. Es ist ernstes Leben.

A.R.: Schauen Sie sich den „Tatortreiniger“ an?

HÜSEYIN DALGA: Lange nicht mehr. Nach den ersten drei Folgen merkte ich, das ist nicht die Realität.

A.R.: Und wie schaut’s mit dem ARD-„Tatort“ aus. Saß die Familie bei der 1000. Folge vor dem Bildschirm?

HÜSEYIN DALGA: Auch nein. Eher sehe ich mir da schon amerikanische Krimiserien wie „Navy CIS“ an.

A.R.: Welchen Wunsch haben Sie denn fürs kommende Jahr?

HÜSEYIN DALGA: Frieden.

ERAY DALGA: Urlaub.

HÜSEYIN DALGA: Die Menschen sollen glücklich sein, Frieden im Leben haben.

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FOTOS: CRISTOPHER CIVITILLO. WWW.CRIS-C.DE

FÜR NÜRNBERG: HÜSEYIN UND ERAY DALGA

Hüseyin Dalga (45) ist Elektriker, Gebäudereinigungsmeister und Unternehmer. Vor 20 Jahren gründete er seine Firma „Easy Dienstleistungen“ in Nürnberg. Er gilt als Pionier im Berufsfeld Tatortreinigung und hat diesen inzwischen zum Ausbildungsberuf gemacht.
Sein ältester Sohn Eray (23) ist mittlerweile in die Firma eingestiegen, die nach einer Expansionsphase mit elf Niederlassungen und weit über 100 Mitarbeitern bundesweit von den Inhabern gesundgeschrumpft wurde: 18 Mitarbeiter sind von Nürnberg aus in Deutschland, Österreich und der Schweiz bei Amokläufen, Selbstmorden, Gewaltverbrechen, aber auch im Gebäudemanagement im Einsatz.
Rund um Weihnachten sind die Spezialisten in besonderem Maße gefordert. Hüseyin Dalga ist verheiratet und hat fünf Kinder.

FÜR CURT: ANDREAS RADLMAIER
Andreas verantwortet u.a. das Bardentreffen, Klassik Open Air, Stars im Luitpoldhain ...
Andreas Radlmaier und curt stehen seit Jahren beruflich im Kontakt, denn als Leiter des Projektbüros im Nürnberger Kulturreferat ist er verantwortlich für oben genannte Festivals, sowie für die Entwicklung neuer Formate wie Silvestival, Nürnberg spielt Wagner und Criminale. Einen Großteil dieser Formate begleitet curt journalistisch. Andreas ist seit über 30 Jahren in und für die Kulturszene tätig. Studium der Altphilologie, Englisch und Geschichte. Bis 2010 in verantwortlicher Position in der Kulturredaktion der Abendzeitung Nürnberg.
2003: Kulturpreis der Stadt Nürnberg für seine kulturjournalistische Arbeit und Mitarbeit an zahlreichen Publikationen.




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