Im Gespräch: Tocotronic

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Hey Freaks! Ganz egal ob Tocotronic-Boy oder -Girl oder nicht: Dem Sog des Vierer-Bobs der Hamburger Schule kann sich seit diesem Jahr kaum einer entziehen. Mit „Die Unendlichkeit“ legen die Musterknaben der deutschen Rock-Musik ihr wohl zündendstes Werk seit Langem vor. Chartplatzierungen im oberen Drittel und hierzulande selbstredend auf Platz 1, die Feuilletons übertrumpfen sich mit Beifallsstürmen und himmelhochjauchzenden Elogen. Tocotronic gelten seit Mitte der 90er als Aushängeschild für Rebellion und Wut, werden aber nicht selten zur Errettung des Deutschrocks herbeigerufen. Altklug, bisweilen unangenehm und kantig stellen sie sich dar, lehnen Preise ab und sind auf so gar nichts stolz, wo „Made in Germany“ draufsteht.

Sloganreife Songtexte und nicht wenig Poesie kennzeichnen das Oeuvre der Männer um Dirk von Lowtzow, das nun fast ein Vierteljahrhundert währt. Da kann man sich durchaus an ein Konzeptalbum wagen, welches Rückschau und einen Blick in die Zukunft vereint. Anlässlich ihrer just gestarteten Tournee und ihrem Gastspiel am 12. April in der TonHalle trafen wir uns mit Jan Müller, dem nie alternden Kerl am Low-End, und sprachen über die Unendlichkeit, eine Karriere voller Erinnerungen und die Angst davor, altersscheiße zu werden.

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Die Unendlichkeit als Neubeginn, so jedenfalls der Pressetext. Doch 25 Jahre Bandgeschichte sind kein Pappenstiel. Warum braucht es Tocotronic noch? Warum seid ihr noch hungrig?
Gute Frage, warum und ob es uns braucht, das müssen andere beantworten. Ich glaube, wenn man eine Band gründet, so wie wir mit Anfang 20, hat sich viel angestaut. Sachen, die man loswerden möchte, Dinge, die man in der Jugend erlebt hat. Aber auch das Bedürfnis, sich zu artikulieren und Erlebnisse wie Außenseitertum. Wenn man jetzt eine ganz gerade Biografie mit Sportverein und Co. gegangen wäre, dann ist es eher selten, dass man eine Band gründet. Oder eben diese Art von Band, wie wir es getan haben. Bei uns war es einfach der glückliche Zufall, dass wir uns gefunden haben. Und dass es für uns immer interessant blieb. Das erfordert bestimmt auch einen gewissen Fleiß, diese Wachheit zu behalten, aber Gott sei Dank sind wir als Band, und das kann ja immer passieren, in die Situation gekommen, dass wir nicht mehr wussten, was wir noch zu sagen haben. Die Zeiten sind ja jetzt auch so, dass man wütend oder, wie du sagst, hungrig bleiben kann. Selbst wenn das Album vordergründig nicht politisch ist, liegt dem Ganzen eine gewisse Haltung zugrunde, die man heute gut gebrauchen kann.

Das Album behandelt ja die Geschichte eines Menschen als Konzept. Wie seid ihr bei der Rückschau und dem Songwriting vorgegangen? War es schwierig, sich bestimmte Momente auszusuchen, die für jedermann zugänglich sind?
Es ist ja erstmal Dirks Biografie. Nicht Arnes, nicht Ricks und nicht meine Biografie, sondern seine. Dirk schreibt die Songs, aber wir stimmen das natürlich ab. Hier war es konkret so, dass Dirk wesentlich mehr Songs geschrieben hat, als er sonst für ein Album schreibt. Es war uns aber klar, dass wir es von der Stückzahl nicht zu lang machen wollten, sodass es auf 11 bis 13 Songs hinauslaufen sollte. Der Anspruch war, dass man mindestens 20 Songs haben sollte, aus denen man auswählen kann. Am Ende hatte Dirk auch tatsächlich 22 oder 23 Songs geschrieben. Und da standen wir erstmal vor diesem Wust an Material. Dann hatte unser Produzent Moses Schneider eine sehr naheliegende Idee, auf die wir interessanterweise selber gar nicht gekommen waren. Nämlich dass man das Material zeitlich ordnet, was ja bei einer Biografie logisch ist. Na ja, manchmal hat man einfach ein Brett vorm Kopf.

Das soll vorkommen.
Diese Idee war wirklich Gold wert und von hier an hat sich dann auch alles ergeben. Welche Songs bleiben drin und welche nicht? Und durch diese Ordnung entstand dann auch das erste Stück „Die Unendlichkeit“ als Art Vorwort, welches das Grundthema auch beschreibt. Und da geht es dann los mit der Kindheit und bis in die Zukunft bei „Mein Morgen“. Was aber natürlich auch ungewöhnlich ist, dass man bei einer Biografie über den zeitlichen Strang hinausgeht. Aber das fand ich eigentlich auch eine ganz tolle Idee von Dirk, weil wir hoffentlich noch nicht am Ende angekommen sind. Dann kann man die Zukunft ja gleich noch beschreiben. Und dann gibt es mit „Alles was ich immer wollte war alles“ auch einen Anhang.

Nichtsdestotrotz habt ihr ja zusammen Geschichte geschrieben. Bewertet ihr die Geschichte unter euch unterschiedlich oder kann sich die Band auf gemeinsame Höhepunkte und Abfahrten einigen? Wie seht ihr den Hype in den 90ern heute?
Ach, da sind wir uns schon einig. Es gibt ja ein Stück, was konkret unsere Gründungszeit beschreibt, nämlich „1993“. Wir sind aber alle sehr froh, dass wir nun schon über die Hälfte unseres Lebens diesen Weg miteinander gegangen sind. Darüber hinaus war es uns aber auch wichtig, dass man auf dem Album, obwohl es Dirks Biografie ist, eine Art Allgemeingültigkeit hat. Ein interessantes Beispiel war, als uns Dirk die erste Version des Stücks „Hey Du!“ vorgespielt hat. Da war bei uns allen, obwohl wir an unterschiedlichen Orten aufgewachsen sind, dieses Gefühl des Angegriffenwerdens auf offener Straße wegen einer gewissen Andersartigkeit so vertraut, dass es natürlich schön wäre, wenn das Album generell so eine Allgemeingültigkeit hätte.

Ist „Hey Du“ aufgrund seiner bis heute erschreckenden Relevanz auch deswegen die erste Single geworden?
Das steht natürlich im Hintergrund, dass der Song eine gewisse Relevanz und über die Biografie hinaus etwas  zu sagen hat. Diese Art von Attacken muss man ja auch nicht bildlich auf das beziehen, was es jetzt ist. Eine Art von homophober Beschimpfung, weil man sich mit einem etwas extravaganten Äußeren auf die Straße begibt. Da sucht man es sich ja in gewisser Weise noch aus, der Gefahr ausgesetzt zu werden, beschimpft zu werden. Aber wenn man beispielsweise in eine fremdenfeindliche Richtung geht, dann wird das schon ganz anders. Das hat heute eine hohe und sehr bedrohliche Relevanz. Wenn diese Querverbindung gesehen wird, dann finden wir das natürlich gut. Da gibt es viel Gewalt in diesem Land.

Das Album nimmt auch diverse musikalische Referenzen auf, wie beispielsweise den 100. Geburtstag der Gitarre. Selbst sind Tocotronic für viele Menschen ein steter Wegbegleiter gewesen, für andere waren das Bands wie Oasis. Ist euch das bewusst?
Das hast du sehr gut recherchiert. Und ja Oasis sind natürlich schon ein bisschen bekannter als wir. Leider. (lacht)

Klar, dennoch wird man gerne gefragt, ob man früher ein „Tocotronic-Boy“ war. Ich selbst war dann eher der „Oasis-Boy“, aber lassen wir das. Dein Kaffee steht hier gerade sehr gefährlich …
Ha ha, nein, schon in Ordnung. Uns ist bewusst, dass wir nicht in der ganz breiten Öffentlichkeit im Fokus stehen wie jetzt Stadien füllende Bands, aber wir nehmen wahr, dass es Menschen gibt, denen das sehr viel bedeutet und die sich mit uns auseinandergesetzt haben. Das ist sehr beglückend, aber auch eine hohe Verantwortung. Der wollen wir gerecht werden und das ist sehr schön. Wenn man auf Konzerten mit Leuten im Anschluss spricht, und die einem erzählen, wie lange sie einen schon hören, dann ist das ganz toll. Überhaupt, dass es Leute gibt, die uns schon so lange begleiten und die das immer noch interessiert. Ich könnte es sehr gut verstehen, wenn jemand zu einer gewissen Zeit sagt, ne, nun aber nicht mehr.

Ihr seid ja auch dafür bekannt, nicht immer nur die perfekten Schwiegersöhne zu sein.
Kar und genau, dass viele diese Abzweigung mitgehen, das freut mich sehr. Weil man den Leuten manchmal auch durchaus was abfordert.

Ein großes Lob ist es aber sicher auch , wenn Leute, die diese Hürden nicht mitgenommen haben, später wieder hinzustoßen.
So was gibt es natürlich auch. Noch besser!

Verletzlich und frei zeigt sich das neue Album. War es schwierig, sich zu öffnen und eventuell auch den Mantel einer legendären Band abzulegen und nahbar zu werden?
Gar nicht eigentlich. Ich sag es mal so, vielleicht hat es ein bisschen gedauert. Es ist eine Entwicklung. Nehmen wir mal den sprachlichen Aspekt hinzu. Wir haben ja eigentlich Anfang der 90er mit einer sehr einfachen Sprache angefangen. Da haben Bands in unserem direkten Umfeld ganz anders getextet. Songs wie „Drüben auf dem Hügel“ zeugen ja von einer sehr einfachen Sprache. Und dann wurde es abstrakter, einfach aus dem Grund, damit es für uns selber interessant bleibt. Das beantwortet auch deine Eingangsfrage nochmal, wieso man noch hungrig sei. Beim roten Album fing es dann auch wieder an, dass wir konkreter werden wollten. Und jetzt hat das Thema dies einfach zwingend vorgegeben, weil ein autobiografisches Album eine verständliche Sprache erfordert. Ich kann jetzt zwar nicht für Dirk sprechen, aber ich glaube, die Entscheidung, das jetzt so zu machen, ist schon ein großer Schritt gewesen. Aber er hatte auch einfach Interesse daran, weil er in seinem Leben einfach in der Lage ist, das machen zu können. Schön auch, weil es sich so abgleichen lässt, ob das wirklich glaubwürdig ist, was man da singt.

Als ihr so zurückgeblickt hab, was war da der größte Aha-Moment? Gibt es da ein einschneidendes Erlebnis oder eine Erinnerung, die euch besonders gerüttelt hat?
Für mich war das der Moment, als Dirk mit dem Stück „Unwiederbringlich“ kam. Nicht dass ich das vergessen hätte. Es handelt ja vom Tod eines Freundes von Dirk, den Arne und ich auch kannten, weil er zu Anfang auch unserer erster Tourmanager, Fahrer und Merchandiser in Personalunion war. Und der ist halt im Alter von 26 Jahren an Krebs gestorben. Das war alles wirklich entsetzlich und darüber hinaus habe ich einen Krebsfall in der eigenen Familie. Da ist also wirklich etwas sehr in mein Bewusstsein gerückt, was man sonst nicht so jeden Tag im Fokus hat.

Ist so ein Konzeptalbum und eine kleine Neuausrichtung wichtig, um nicht altersscheiße zu werden? Die Gefahr droht ja schließlich immer.
Ein großartiges Wort, aber ja, die Angst sollte man immer haben als Band.

Gerade mit eurem Hintergrund. Das Anprangern, Revolutionieren etc.
Ich glaube, wir haben nie wirklich für die Jugend gesungen. Teen Spirit war nie so unser Ding. Als jugendliche Band waren wir ja doch immer sehr altklug. Als Band arbeitet die Zeit ja auch nicht für einen. Irgendwann kommen die Jüngeren nach. Und das ist was anderes, als wenn man bildender Künstler oder Schriftsteller wäre. Da steigt ja die Weisheit mit dem Alter und verschafft einem Rückenwind. Das ist als Band anders, man kriegt eher Gegenwind und deshalb muss man sich, glaube ich, sehr hart hinterfragen. Das ist was, was man spürt. Es wird viel anstrengender, so ein Album zu machen, aber für mich persönlich macht es auch wieder viel mehr Spaß.

Wo wir wieder beim Hunger sind.
Ganz genau!

Als „deep“ wird das neue Album bezeichnet. Kommt euch die deutschsprachige Musik derzeit als besonders „undeep“ vor? Braucht es wieder „deepe“ Musik? Wie sehr nervt es euch eigentlich, immer als Leitbild intellektueller Musik ins Feld geführt zu werden?
Ha ha, ne, dieser Pressetext ist ja nicht von uns. Aber ich fand es ein schönes Kompliment. Ich will natürlich niemanden dissen, aber vieles ist sehr flach. Es ist schon unser Anspruch, facettenreich und mit ’ner langen Halbwertzeit übersetzt zu werden. Es wäre schön, wenn es wirklich auch die Hörer so empfinden.

Das war jetzt auch nicht böse gemeint. Ich hatte mich lediglich über das Wort „deep“ im Kontext mit Tocotronic gewundert.
Ne, ne, ne, so habe ich das auch gar nicht aufgefasst. Aber stimmt! Ich fand es dadurch ganz witzig, weil es nicht so bei Indie-Rock verwendet wird.

Hat auf jeden Fall eine Reaktionen hervorgerufen, anders als beispielsweise „brunnentief“. Es gibt bei allem Lob aber natürlich auch Nicht-Fans von Tocotronic und den Vorwurf der altklugen Intellektuellen. Nervt euch das sowohl als Herabwürdigung und auf der anderen Seite auch, weil genau diese Beschreibung oftmals lobend für euch ins Gefecht geführt wird? Für was stündet ihr gerne?
Ach Gott, lieber intellektuell und altklug als besonders doof und dumm. Nein, meinetwegen. Vor dem Hintergrund der Vorwurfsache ist das was anderes. Man kann nicht jedermanns Freund sein und ich finde es schön, immer ein wenig zu polarisieren. Das kommt ja auch aus verschiedenen Richtungen. Entweder sind das wirklich Trottel, zum anderen kommt das aus der Punk-Szene, aus der wir ja selber so ein bisschen herkommen. Aber es hat ja auch Gründe, warum wir uns da entfernt haben. Vielleicht ist es einfach künstlerisch nicht mehr so ein interessantes Gebiet. Tut mir dann doch immer ein bisschen weh, wenn das aus dieser Richtung kommt, weil das meine ehemalige Heimat ist. Aber schade, dass die Leute nicht über den Tellerrand blicken. Gut, so ist das dann halt. Für uns finde ich es auf jeden Fall schöner, dass wir da eine weitere Wahrnehmung genießen können.

Auf jeden Fall! Genau das sieht man allein schon daran, dass aus euren Songs Slogans werden. Und genauso wie pure Vernunft niemals siegen darf, wünsche ich euch alles Gute für die Unendlichkeit.
Danke Dir! Das war sehr angenehm!


Live: Tocotronic > Facebook // Support: Ilgen-Nur > Facebook // 12. April // TonHalle // Beginn 20 Uhr // VVK 33 Euro zzgl. Gebühren

Interview: Tim Brügmann > Homepage