Kino: New York – Die Welt vor deinen Füßen

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Wenn du nur lange genug an einem Ort lebst, dann kennst du ihn irgendwann. Das klingt einleuchtend, die meisten würden diese Aussage wohl unterschreiben. Doch ganz so selbstverständlich, wie man meinen könnte, ist das dann doch nicht. Denn je mehr Zeit du an einem bestimmten Ort verbringst, umso stärker wird auch die Routine. Wir haben Lieblingscafés, die wir aufsuchen, vielleicht einen Park, den wir besonders mögen. Und auch beim Weg an die Zielorte überlassen wir nach einer Weile nichts mehr dem Zufall, entscheiden uns für eine Route, die besonders bequem ist, vielleicht schnell geht oder die wir einfach mögen. Wir wissen schließlich, was für uns am besten passt.

Matt Green ist kein Mann, der solche Routinen schätzt. Er verachtet sie sogar ein bisschen, weshalb er irgendwann seinen Bürojob als Ingenieur aufgab, um mehr zu erleben, mehr zu sehen. So ergeht es natürlich vielen. Manche suchen sich einen neuen Job, ein neues Hobby, ziehen vielleicht um. Matt Green läuft. Keinen Marathon oder andere Laufprojekte, mit denen man sportliche Ambitionen und Überlegenheit demonstriert. Der sportliche Aspekt ist ihm nicht allzu wichtig. Stattdessen will er in der Gegend herumlaufen, sich alles ganz genau anschauen, all die Details, an denen wir hundert Mal am Tag vorbeikommen, ohne sie je wirklich wahrzunehmen.

Wahrnehmung spielt in „New York – Die Welt vor deinen Füßen“ dann auch eine große Rolle. Nachdem Green zuvor einmal von der Ostküste der USA an die Westküste gelaufen war, ist das hier abgelaufene Gebiet auf den ersten Blick überschaubar. Der Dokumentarfilm erzählt, wie er New York City abläuft. Das hört sich nicht nach viel an, wird es aber, wenn man es derart konsequent angeht wie er: Sein Ziel ist es, jede einzelne Straße der Stadt einmal abgelaufen zu sein. Hinzu kommen noch diverse Parks, Uferpromenaden oder Orte, an denen sich nichts befindet. Denn für Green befindet sich sehr wohl etwas dort. So wie sich überall etwas findet. Man muss nur genauer hinschauen.

Das erinnert teilweise an die ganzen Reisedokus, die in den letzten Jahren in unseren Kinos Stammgast waren. Green läuft durch die Gegend, sieht sich Sachen an, begegnet Menschen und macht lustige Erfahrungen. Anders als dort beschränkt sich die Reise auf eine einzelne Stadt, was das Projekt etwas erklärungsbedürftiger macht. Während der Reiz einer Weltreise sich schnell erschließt, die vielen unterschiedlichen Gegenden und Landschaften Belohnung genug sind, da erntet der Stadtläufer aus naheliegenden Gründen lauter ungläubige Blick. Warum macht man sowas? Wozu soll das gut sein?

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Eine wirkliche Antwort gibt „New York – Die Welt vor deinen Füßen“ nicht, auch weil Green diese selbst nicht hat. Das klingt zunächst vielleicht nicht übermäßig einladend. Wie sinnvoll kann schon ein Film sein, wenn der Inhalt selbst keinen hat. Und doch hat er ihn. Es geht hier eben nicht darum, etwas Bestimmtes zu tun oder zu zeigen, sondern das Leben anzunehmen, wo auch immer es gerade ist. Darum, die kleinen Dinge wertzuschätzen: kuriose Schilder, Pflanzen am Straßenrand, Pfützen, die nicht kleiner werden. Und natürlich Menschen: Immer wieder begegnet Green Leuten, erzählt seine Geschichte, hört ihre Geschichten. Vergleichbar zu „Cleo“ (>>Filmkritik) ist der Dokumentarfilm eine Aufforderung, den Moment bewusst zu erleben, sich ein bisschen treiben zu lassen.

Diese Aufforderung wird im Laufe der anderthalb Stunden des Öfteren wiederholt, mehrfach, was einem weniger dafür empfänglichen Publikum auf die Nerven gehen könnte. Gleichzeitig gibt es einige Punkte, die nicht wirklich mit diesem Anspruch zu vereinen sind, darunter die Einteilung des Films in Themengebiete, aber auch der Green hinterherlaufende Kameramann. Wenn der Läufer keine konkrete Absicht verfolgt, warum wird er dann dabei gefilmt? Man muss sich also damit abfinden können, dass einige Fragen keine Antworten erhalten werden. Dafür hat „New York – Die Welt vor deinen Füßen“ unglaublich viel Charme. Wenn sich Green über die banalsten Dinge freut, ist es schwer, diesem Enthusiasmus etwas entgegenzuhalten. Mehr noch, die vielen kleinen Geschichten, die er unterwegs aufsammelt oder abends recherchiert, sind so herzerwärmend und mitreißend, dass man versucht ist, sich ihm anzuschließen, für einen Block, vielleicht zwei, und die Welt noch einmal ganz neu kennenzulernen.

Fazit: „New York – Die Welt vor deinen Füßen“ erzählt von einem Mann, der über Jahre hinweg die komplette New York City abläuft. Das klingt erst mal etwas bescheuert, lässt auch viele Fragen offen. Gleichzeitig ist der Dokumentarfilm unglaublich charmant und lehrt einen, wieder bewusster durchs Leben zu gehen und mehr auf die kleinen Dinge zu achten, die uns umgeben.

Regie: Jeremy Workman; Kinostart: 12. März 2020