Gina Rodriguez (left) stars as "Melanie" and Evan Rachel Wood (right) stars as "Old Dolio Dyne" in director Miranda July's KAJILLIONAIRE, a Focus Features release. Credit : Matt Kennedy / Focus Features

Kino: Kajillionaire

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Einen Job haben Robert (Richard Jenkins) und Theresa Dyne (Debra Winger) nicht. Brauchen sie aber auch nicht, sie und ihre erwachsene Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) mogeln sich auch anderweitig dank diverser kleiner Betrügereien durchs Leben. Doch trotz ihres großen Einfallsreichtums und geringer Skrupel klappt das zuletzt aber nicht so gut. Vor allem die großen Rückstände bei der Miete werden zunehmend zu einem Problem. Als sie bei einem erneuten Coup eine Fluglinie abzocken wollen, machen sie die die Bekanntschaft von Melanie (Gina Rodriguez), die ganz begeistert ist von ihrer Lebensweise. Mehr noch, sie will die drei bei ihren Plänen unterstützen – zum Missfallen von Old Dolio …

Auch wenn Diebe und Räuber in Filmen eher die Funktion von Antagonisten annehmen, so gibt es Fälle, in denen sie zu Protagonisten gemacht wird. Mehr noch, das Publikum wird sogar dazu aufgerufen, ihnen die Daumen zu drücken. Wichtig ist dabei jedoch, dass die Einsätze gegen irgendwelche Großen geht. Gegen anonyme, übermächtige Konzerne oder andere Verbrecher, damit man das moralisch noch irgendwie vertreten kann. Allein deshalb schon ist „Kajillionaire“ ein ungewöhnlicher Film. Hier geht es eben nicht darum, denen da oben etwas wegzunehmen. Die meisten, die von Familie Dyne bestohlen werden, gehören selbst zu den kleinen Leuten, die sich irgendwie durchs Leben schlagen. Zudem ist das Trio nicht so wahnsinnig erfolgreich oder ambitioniert. Die drei träumen nicht von Reichtum. Im Gegenteil. Ihr Leben auf Kosten anderer ist zumindest teilweise mit einem Statement verbunden, eine Welt des Kapitalismus und der Konventionen abzulehnen.

Tatsächlich flirtet Regisseurin und Drehbuchautorin Miranda July hier zwar mit dem Genrekino, indem immer wieder kleinere Gaunereien und Betrügereien im Mittelpunkt stehen. Doch das geschieht eher oberflächlich. Stattdessen bleibt July ihren Slice-of-Life-Geschichten durchaus treu, wenn es ihr mehr um die Figuren und ihre Beziehungen untereinander geht. Anfangs handelt „Kajillionaire“ noch stärker davon, wie ein paar Außenseiter sich langsam und widerwillig mit den Realitäten des Lebens auseinandersetzen müssen. So schön es natürlich ist, von sich selbst behaupten zu können, man sei anders als der Rest, gewitzter, auf seine Weise ehrlicher: Irgendwann kommt dann doch der Punkt, wenn die nicht bezahlte Miete zu einem Problem wird und eine mögliche Obdachlosigkeit nach sich zieht. Ganz ohne Geld geht es eben auch bei Anti-Kapitalisten nicht.

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Dabei ist „Kajillionaire“ aber kein Gesellschaftsdrama, auch wenn es das Thema hergeben würde. Stattdessen verschiebt sich der Fokus zunehmen: Nicht die Gaunereien stehen im Fokus, der Kampf gegen Normen, sondern Old Dolio, der durch das Auftauchen von Melanie klar wird, dass sie sich zumindest teilweise nach eben diesen Normen sehnt. Nach einem Leben, wie es andere haben, mit Kosewörtern, Pfannkuchen und kleinen Geschenken. Das ist eigentlich tragisch, so wie es auch an anderen Stellen zu traurigen Momenten kommt. Eine Schlüsselszene, welche die Widersprüchlichkeiten von Normalität, Schein, Betrug und Sehnsucht nach Nähe zusammenführt, ist sogar herzzerreißend, eine der emotionalsten, die man dieses Jahr im Kino sehen darf.

Und doch ist die Tragikomödie ein typischer Sundance-Film mit viel skurrilem Humor. Lustig wird es etwa, wenn die drei auf ungewöhnliche Weise andere Leute um ihr Hab und Gut bringen. Und auch die (Nicht-)Begegnungen mit ihrem Vermieter sind immer wieder Anlass, um mindestens zu schmunzeln. Fans schräger Filme, die gleichzeitig aber irgendwie lebensnah sind, sollten sich diesen Geheimtipp daher nicht entgehen lassen. Gerade die Darstellung von Evan Rachel Wood geht zu Herzen, die wie ein Fremdkörper in ihrem eigenen Leben wirkt. Ihre Figur ist voller Sehnsucht nach Wärme, aber außer Stande diese anzunehmen. Ein schlaksiger Tölpel, dem von klein auf beigebracht wurde, nicht aufzufallen – sonst kann man nicht unbemerkt stehlen – und der jetzt nach einem Weg sucht, mehr zu sein als eine Komplizin. Diese Form der Selbstbehauptung ist natürlich ein fester Bestandteil des Coming-of-Age-Films. Selten aber geschah dies auf eine derart eigenwillige und doch wundersam rührende Weise.

Fazit: „Kajillionaire“ erzählt aus dem Leben einer Trickbetrüger-Familie, das durch die Ankunft einer vierten Person ziemlich durcheinander gebracht wird. Die Tragikomödie mit leichten Genre-Anleihen kombiniert dabei skurrilen Humor mit einer zu Herzen gehenden, ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte, verbunden mit der Sehnsucht, einen eigenen Platz in dieser Welt zu finden.

Wertung: 8 von 10

Regie: Miranda July; Besetzung: Evan Rachel Wood, Debra Winger, Richard Jenkins, Gina Rodriguez; Kinostart: 22. Oktober 2020