Polly's Disaster curt München

Im Gespräch: Polly’s Disaster

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Schon zweimal war Polly’s Disaster in den vergangenen Monaten zu Gast in München. Hinter der Figur steckt die Berliner Singer/Songwriterin Anne Löhr, die Ende letzten Jahres ihre erste CD mit dem Namen I Do. fertiggestellt hat. Und wie es der Zufall so will, fiel der Release Day von I Do. genau auf den Tag eines ihrer Konzerte in Münchens kleiner und feiner Theaterbühne, dem Mathilde Westend. Nachdem an jenem Abend mehrfach mit selbstgemachtem Zitronenlikör auf dieses Ereignis angestoßen wurde, verabredete curt in der Folge ein Gespräch über die Entstehungsgeschichte von Polly’s Disaster.

„Wie soll Kunst die Menschen bewegen, wenn sie selber nicht von den Schicksalen der Menschen bewegt wird?“ (Bertold Brecht)

Auf I Do. widmet sich die Sängerin den Momenten der Niedergeschlagenheit und des Schwermuts. Denn auch wenn die Traurigkeit immer eine traurige Sache bleibt, die dunkel, gedankenverloren und ausdauernd ist, die quält und lähmt und zu viele Fragen stellt. Polly hat dieses Gefühl liebgewonnen und besingt es mit Liebe, Ärger, Wärme und Wahnsinn. Ihre Kompositionen umarmen die Melancholie.


I Do. ist Polly’s Disaster erstes Album. Fasse doch bitte kurz zusammen, wie du zum Musikmachen gekommen bist und wie der Weg bis zur Veröffentlichung deines Debüts verlaufen ist.
Mit dem Musikmachen habe ich relativ früh angefangen und meine ersten Gehversuche während der Schulzeit gemacht. Als dann das Studium losging, war ich viel mit anderen Dingen beschäftigt und habe eine ganze Weile gar nichts mehr gemacht. Und obwohl das Spielen ein wichtiger Anteil von mir ist, wurde diese Beziehung mit der Zeit immer dünner. Und jedes Jahr zu Silvester habe ich mir vorgenommen, endlich wieder Musik zu machen. Irgendwann konnte ich den Vorsatz selber nicht mehr ernst nehmen und hab auch aufgehört, den Leuten von meinem Dauerwunsch zu erzählen.
Vor ungefähr zwei Jahren hat es dann klick gemacht. Auslöser war eine schwierige Phase, nach der ich für mich beschlossen habe, dass ich jetzt das mache, was mir wirklich wichtig ist. Das war der finale Impuls. Seitdem gilt, was Polly betrifft, einfach machen. I do. sozusagen. Die Monate, über die ich hier spreche, waren eine sehr melancholische Zeit in meinem Leben. Entsprechend ist die Musik so ausgefallen, wie ich mich damals gefühlt habe. Nach Rock’n’Roll war mir irgendwie nicht zumute.

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Wie sind Polly und das Unglück zusammengekommen? Was steckt hintern deinem Künstlernamen?
Der Name Polly’s Disaster war plötzlich da. Ich habe kurz nach dem Abitur in einem Musiktheaterprojekt die Polly Peachum aus Brechts Dreigroschen Oper gesungen. Dabei habe ich mich gar nicht so sehr in die Figur an sich verliebt, sondern in die Musik und das, was das Stück insgesamt transportiert. Beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Thema, was gesellschaftlich konform ist, was nicht. Was ist menschlich normal und was nicht? Die Figur der Polly birgt für mich eine gewisse Klugheit in ihrer Naivität, sich von den eigenen Bedürfnissen leiten zu lassen. Polly’s Disaster ist mein Alter Ego, dem ich erlaube, genau das zu sein: naiver, mutiger, risikofreudiger, intuitiver. Über diesen Abstand zwischen Polly und mir als Person kann ich künstlerisch freier agieren. Ich tricks‘ mich da quasi selber aus. Auch für die Konzerte ist es wichtig – als Singer/Songwriterin steht man alleine auf der Bühne. Da schafft diese Figur einen gewissen Abstand und Resonanzraum. Das Wort Disaster finde ich einfach hervorragend dramatisch. Da hat das Gehirn gut kombiniert.

Die Texte auf I do. drehen sich um die melancholischen Momente im Leben. Den Gedanken nachhängen, tagträumen, den feinen Schleier auf der Seele spüren. Was fasziniert dich an den Augenblicken der Melancholie?
Ich gehöre wohl zu den Melancholikerinnen. Dieser Gemütszustand begleitet mich schon lange. Und es ist ein Teil von mir, den ich nicht missen möchte. Auch wenn er in Krisenphasen etwas lähmend sein kann. Es steckt viel kreatives Potenzial darin, denn man wird anders von der Gegenwart berührt. Melancholie lässt dich innehalten. Und man kann in dieser Gemütsphase eine gewisse Schönheit erkennen, wenn man sie nicht bekämpft. Es ist ein Zustand, der einen auf sich selber zurückwirft und dir die Chance gibt, die Dinge genauer anzuschauen und zu durchdenken. Und der dir sehr intensiv vor Augen hält, wie gut du fühlen und denken kannst.

Die Melancholie besitzt für jede Person eine ganz eigene Anatomie. In deiner Musik übertrittst du nie die Schwelle zum Schwermut. Was hilft dir, diese Balance zu halten?
Ich empfinde die Melancholie oft als einen sehr ambivalenten Zustand. Zum Beispiel zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnungsschimmern, Loslassen und Dranbleiben. Je länger so was andauert, desto anstrengender oder auch schwermütiger wird es. Früher wollte ich solche Zustände immer loswerden. Dann wurde mir mal angeraten, ich solle meine Melancholie „umarmen“. Das macht Polly jetzt. Sie schreibt Lieder darüber. Und sie holt einen weder raus aus dem Gefühl, noch beklagt sie es. Sie zelebriert es.

Ruhig werden, innehalten, das fällt nicht jedem Konzertbesucher leicht. Wie ist es für dich, wenn der Rahmen nicht so intim ist wie zum Beispiel im Mathilde Westend und du dich um die Aufmerksamkeit des Publikums bemühen musst?
Den Entertainment-Gedanken möchte ich mit Polly’s Disaster nicht bedienen. Wer sich einlassen will, tut es, wer nicht, der lässt es halt. Jedes Publikum ist anders, jeder Spielort ist sehr speziell und ich habe sehr schnell gelernt, diese Tatsache nicht anstrengend, sondern interessant zu finden. Und in dem Moment etwas daraus entstehen zu lassen. Musikalisch und vor allem zwischen den Liedern.
Das Konzert in München war beispielsweise sehr intensiv und extrem stimmungsvoll, weil der Raum so klein und alles so extrem nah ist. Man hört meine Stimme gleichzeitig verstärkt und unverstärkt, sieht jeden Blick und bemerkt jede Reaktion und kann auch als Zuhörer nicht anonym bleiben. Ich fand, es waren zwei sehr schöne, sehr persönliche Konzerte im Mathilde Westend, ich habe sie sehr genossen.

Lass uns ein wenig über Musik im Allgemeinen sprechen. Welche Künstlerinnen oder Künstler würdest du als Einflüsse oder Inspiration für dich bezeichnen?
Ich habe immer viel Musik mit Frauenstimmen gehört, angefangen mit Fiona Apple, Alanis Morisette, Tori Amos, Jill Scott dann Björk, Robyn, Beyonce und in letzter Zeit Feist, Florence and the Machine, Courtney Barnett usw. Also querbeet. Sie alle sind sozusagen meine Gesangslehrerinnen und auch dafür verantwortlich, dass ich am Anfang gar nicht wusste, mit welchem Musikstil ich jetzt eigentlich anfangen soll. Als ich begonnen habe, mein Album aufzunehmen, habe ich bewusst keine Musik mehr gehört, die ersten Aufnahmen auch nur sehr wenig Leuten gezeigt und auch niemanden an die Arrangements gelassen.

https://www.youtube.com/watch?v=mYxmjCwq-WI

 

Du hältst nun deine erste Veröffentlichung in Händen. Bei der Produktion hast du so gut wie alles alleine gemacht. Mit ein wenig Abstand betrachtet: Wie fällt heute dein Blick drauf?
Das erste Album ist einfach etwas ganz Besonders. Hier werden die Songs aufgenommen, die für einen selber schon ewig existieren. Man hat das Gefühl, die Stücke schon endlos zu kennen, und man hatte die Zeit, sich mit den Liedern auseinanderzusetzen und an den Arrangements zu feilen.
Ich habe mich dafür entschieden, das Album komplett alleine zu machen. Nicht nur zu singen und die Instrumente zu spielen, sondern wirklich alles, was zu einer Produktion dazugehört, selber zu machen. Komposition, Arrangement, Aufnahme, Mischung, inklusive dem Artwork. Man darf im Ergebnis hören, dass ich keinen großen Apparat im Hintergrund gehabt habe und alles live, mit ein wenig Reverb veredelt, eingespielt wurde. So entsteht eine zusätzliche Nähe, was gut zu den Songs passt. Die Aufnahme folgt also dem Klang der Musik und nicht einem Format. Für mich steckt in I do. mehr drin als nur diese 9 Lieder. Und ich bin unglaublich zufrieden und stolz darauf.

Kannst du schon über die Dinge sprechen, die kommen werden oder kommen sollen? Welche Ideen trägst du für das neue Jahr in dir?
Natürlich habe ich einige Ideen. Ich werde ein Video drehen und plane Konzerte und Festivalauftritte. Vielleicht auch wieder im Ausland. Es sind auch schon neue Lieder im Anschlag, für die ich mir jetzt Zeit nehmen kann. Mal sehen, wo es musikalisch hingeht. Ich hab jedenfalls auch Lust auf mehr Experimente, zu denen ich weitere Musikerinnen brauche. Da schaue ich einfach mal, was passiert. Das ist das beste Rezept – zumindest für mich und für den Moment.


Erhältlich ist Pollys Musik, die nicht nur die melancholischen Momenten des Lebens versüßen kann, als CD im Eigenvertrieb direkt bei der Künstlerin > Facebook oder über die Downloadplattform > Bandcamp. I Do. So do it, too!