Gehört: Fiona Apple – Fetch the Bolt Cutters

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Live-Konzerte sind erst einmal alle abgesagt, an größere Festivals ist dieses Jahr wohl kaum mehr zu denken. Doch es kommt noch schlimmer für Musikfans: Aufgrund der fehlenden Tour- und Promotionmöglichkeiten werden derzeit reihenweise neue Alben verschoben, um Wochen, um Monate, teilweise auf unbestimmte Zeit. Da darf man für jedes Album dankbar sein, das während der Corona-Pandemie doch noch erscheint. Und das gilt gleich doppelt für das neue Album von Fiona Apple. Wer die Karriere der Ausnahmesängerin von Anfang an verfolgt hat, der weiß, dass es viel Geduld mit ihr braucht. Nach ihrem ersten Werk „Tidal“ musste man nur handelsübliche drei Jahre warten, bis der eingängige Nachfolger „When the Pawn …“ erschien, danach waren es sechs Jahre bis „Extraordinary Machine“, zuletzt sieben Jahre bis „The Idler Wheel“.

Jetzt ist es tatsächlich da, Album Nummer fünf, acht Jahre später und trägt den vielversprechenden Titel „Fetch the Bolt Cutters“. Und fast könnte man meinen, er wäre tatsächlich für die aktuelle Lebenssituation geschrieben, wenn weltweit die Menschen eingesperrt sind, sehnsüchtig nach draußen blicken, wo irgendwo das normale Leben auf sie wartet. Aber nein, Apple ist nicht zu den Protestlern übergelaufen, die Selbstsucht mit Mut verwechseln und alles so wollen, wie es immer schon war. Vielmehr besingt sie in dem Titellied geradezu trotzig den Willen, sich nicht länger zu Gefangenen anderer zu machen, sich aus den Gefängnissen zu befreien, die wir uns im Alltag so bauen. Das Neue zu suchen, anstatt dem Altern hinterherzuweinen.

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Das geht oft natürlich mit Gefühlen einher, wenn sie etwa in „Rack of His“ von unerfüllter Liebe singt oder sich in dem Opener „I Want You to Love Me“ nach dem namenlosen Du sehnt, das jeder und niemand sein kann. Bei diesem meint man sogar noch, dass Apple nach den Experimenten des letzten Albums wieder zurück zu herkömmlichen Song-Strukturen finden wird, wenn sie zu zarten Klavierklängen ihre Stimme erhebt. Doch diese Strukturen von einst sind ein Gefängnis, aus dem sie sich ebenfalls längst befreit hat. Geduld ist bei Apple deswegen doppelt Pflicht. Die Sängerin braucht nicht nur von Album zu Album mehr Zeit, die Werke werden immer komplexer und offenbaren sich nicht auf Anhieb. Die Zeiten, in denen man Lieder von ihr in Karaoke-Boxen finden konnte, die liegen dann doch ein, zwei Jahrzehnte zurück.

Das klavierbegleitete Trällern des ersten Liedes macht einer ausgedehnten Besessenheit Platz, die immer ein paar Sekunden zu lange dauert, und in kuriosen Geräuschen endet, von denen man nicht weiß: Ist das noch eine Stimme? Überhaupt, erlaubt ist auf „Fetch the Bolt Cutters“ alles, der Ausbruch aus dem Gefängnis geht mit allen möglichen Instrumenten und Tönen einher, manchmal auch mit einem Hundebellen. Was einem eben so einfällt. Das sind auch die beiden Extreme eines Albums, eine widersprüchliche Mischung aus ausgefeilten Arrangements und wilder Improvisation, aus Herz, Komik und Wut, zärtlich im einem Moment, rau und explosiv im nächsten. Das kann durch Mark und Bein gehen, etwa in „Relay“, wenn sie von dem Bösen spricht, das von Mensch zu Mensch weitergegeben wird, von einem Rennen darum, wer wen am meisten hasst. Und „For Her“ natürlich, eine Auseinandersetzung mit den grausamen Erfahrungen, welche Frauen in der Unterhaltungsindustrie machen.

„Good morning
You raped me in the same bed your daughter was born in
Good morning“

Doch anders als so manche Nabelschau, wie es sie im Singer-Songwriter-Bereich so gibt, ist „Fetch the Bolt Cutters“ eben nicht allein eine Abrechnung mit dem Bösen da draußen. Es ist vor all einem eine Beschäftigung mit dem, was in einem selbst so vor sich geht. Das Experimentelle, so sehr es manchmal nach einem Gimmick klingt, nach einem anders sein um des anders sein Wollens, es ist doch der Ausdruck einer Stimme, die sich selbst sucht und dafür alles niederreißt und niedersingt, was sie um sich findet. Nicht weil sie es muss, sondern weil sie es will, wie in dem Abschlusssong „On I Go“:

„On I go, not toward or away
Up until now it was day, next day
Up until now in a rush to prove
But now I only move to move“

Wie ein befreiendes Mantra wiederholt sie die Zeilen, Mal um Mal um Mal, beschwört sich und andere, bis die Bewegung eine neue Abzweigung findet, einen neuen Weg. Ah, fuck, shit. Egal, weiter geht’s. Darauf muss man sich einlassen können, dieses Album, das persönlich und doch fremd ist, unterwegs alle Schubladen herausgerissen und zertrümmert hat und einen fasziniert bis verwirrt zurücklässt. Das aber eben auch motiviert, den eigenen Bolzenschneider hervorzukramen und auf Reise zu gehen. Man weiß schließlich nie, wann man ihn gebrauchen kann.

Fiona Apple –„Fetch the Bolt Cutters“  // Sony Music // VÖ: 17. April 2020 // > Facebook